Читать книгу Der Erste Weltkrieg - Daniel Marc Segesser - Страница 8
2. Ausgangslage 2.1. Die Krieg führenden Mächte
ОглавлениеAuch wenn im 19. Jahrhundert der Prozess, der zur Schaffung einer Weltgesellschaft führte, beschleunigt wurde, so muss doch festgehalten werden, dass diese Entwicklung damals zu großen Teilen von europäischen Mächten bestimmt wurde. Unter diesen Umständen ist es nicht erstaunlich, dass der Auslöser des Ersten Weltkrieges in Europa lag und die europäischen Mächte die ersten waren, die in diesen Krieg verwickelt wurden. Da dieser aber global wurde, soll im Folgenden auch auf die Entwicklung ausgewählter Teile der außereuropäischen Welt vor 1914 eingegangen werden. Unmittelbar als erste Großmacht beteiligt war durch den Mord an Thronfolger Erzherzog Franz-Ferdinand Österreich-Ungarn, welches auch als Habsburgermonarchie bezeichnet wird. Die politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung im Vorfeld des Ersten Weltkrieges soll daher an dieser Stelle zuerst berücksichtigt werden, bevor Analoges für die anderen führenden europäischen sowie einige wichtige außereuropäische Mächte getan werden wird.
Im Jahre 1914 galt Österreich-Ungarn zwar immer noch als eine wichtige europäische Großmacht, mehr und mehr wurde es jedoch als Juniorpartner des Deutschen Reiches betrachtet (Fisch 2002, 99). Dies lag nicht zuletzt daran, dass das Land seit der Revolution von 1848/49 zunehmend durch die Frage des Umgangs mit den Nationalitäten im Innern bestimmt wurde. Zwar gelang es Kaiser Franz-Joseph und der um ihn gruppierten Elite aus primär deutschsprachigen Bürokraten in den Jahren nach 1848 die territoriale Integrität des Reiches mit Ausnahme der 1859 und 1866 verlorenen Gebiete in Norditalien (Lombardei, Venetien) zu erhalten und das eigene Staatsgebiet auf dem Balkan durch die Besetzung und spätere Annexion Bosnien-Herzegowinas sogar auszubauen. Nach dem Krieg von 1866 mussten sie jedoch endgültig auf die Vormachtstellung in Deutschland verzichten und einen Ausgleich mit den Eliten Ungarns akzeptieren. Dieser sah eine weitgehende Teilung des Reiches in eine cisleithanische Hälfte mit den österreichischen Erzherzogtümern, den Ländern der Wenzelskrone (Böhmen, Mähren und Restschlesien), Galizien und Lodomerien sowie Dalmatien einerseits und in eine transleithanische Hälfte mit den Ländern der Stephanskrone (Ungarn), Kroatien-Slawonien, dem Banat und Siebenbürgen vor. Mit ihrer Expansion auf dem Balkan provozierten der Kaiser und seine Bürokratie allerdings den Widerstand Russlands, welches seit dem 18. Jahrhundert danach strebte, die Kontrolle über die vom Osmanischen Reich kontrollierten Meerengen zu gewinnen. Zwar hätte durchaus die Möglichkeit eines Ausgleichs mit dem Zarenreich bestanden, ein solcher stieß aber auf den heftigen Widerstand der ungarischen Eliten, die, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Tatsache, dass namhafte russische Truppen 1848/49 den eigenen ›Volksaufstand‹ niedergeschlagen hatten, eine solche Lösung vehement ablehnten. Die große Balkankrise von 1875-78 brachte schließlich die Entscheidung und führte 1879 zu einem wesentlich gegen Russland gerichteten Bündnis Österreich-Ungarns mit dem Deutschen Reich. In der Folge konzentrierte sich die Regierung der Habsburgermonarchie darauf, die eigene Position auf dem Balkan zu konsolidieren und auszubauen, dies allerdings ohne dabei planmäßig oder konsequent vorzugehen. Das hatte sowohl innen- wie außenpolitische Gründe. Angesichts der Reduktion der Militärausgaben, die im Jahr 1910 nur 15,7 % der Staatsausgaben betrugen sowie des im Vergleich zu anderen europäischen Mächten geringen Anteils der Bevölkerung unter Waffen waren die Behörden der Habsburgermonarchie mehr und mehr auf die Unterstützung des Deutschen Reiches angewiesen. Andererseits galt es innenpolitisch auf die Interessen der Nationalitäten im Reich selbst Rücksicht zu nehmen, da viele davon auch jenseits der Grenze über Angehörige verfügten. Dies führte in den Jahren nach der Jahrhundertwende zu einer steigenden Immobilität der österreichisch-ungarischen Außenpolitik, die immer weniger in der Lage war, auf die seit einem gewaltsamen Dynastiewechsel in Serbien im Jahre 1903 verstärkte südslawische Agitation wirkungsvoll zu reagieren. Nach der Ermordung von Erzherzog Franz-Ferdinand nahm die Führung der Habsburgermonarchie deshalb das Risiko eines allgemeinen Krieges in Kauf, um ihre Handlungsfähigkeit auf dem Balkan zurückzugewinnen.
Im Innern war die Habsburgermonarchie ethnisch wie sprachlich heterogener als fast jeder andere europäische Staat. Ausdrucksform dieser Vielfalt waren die Sprachen, zumal die Bürokratie keine offizielle Definition des Nationalitätsbegriffs oder der Volksstämme, wie damals gesagt wurde, kannte. Gemäß den Statistiken der Regierungen in Wien und Budapest veränderte sich die Zusammensetzung dieser Sprachgruppen in der Zeit zwischen 1880 und 1914 nur unwesentlich. Einzig die ungarische sowie die polnische Sprachgruppe wiesen leichte Steigerungen ihrer Zahl auf, doch machte keine davon, gemessen an der Bevölkerung des Gesamtreiches, mehr als 27 % aus. Innerhalb der jeweiligen Reichshälften kam die deutsche Sprachgruppe als größte auf einen Anteil von um die 35 % in Cisleithanien, während die ungarische in Transleithanien zwischen 1880 und 1910 von 41,2 % auf 48,1 % stieg und damit knapp die Hälfte der Bevölkerung ausmachte. Angesichts dieser Vielfalt stellte sich für die Zentralregierung in Wien die Frage nach der für das Reich zu wählenden politischen Struktur. Nachdem in den Jahren nach 1848 der Versuch unternommen wurde, den Staat unter möglichst vollständiger Beseitigung der historischen Sonderrechte zu zentralisieren, zwangen die Niederlagen in den Kriegen von 1859 und 1866 zu einer neuen Lösung. 1867 wurde ein Ausgleich mit den Eliten Ungarns gefunden, dessen primäres Ziel allerdings nicht eine Lösung der Problematik der Vielfalt des Reiches war. Vielmehr ging es den Eliten der beiden stärksten Nationalitäten darum, die eigene Hegemonie über alle andern zu sichern. Primär ging der Ausgleich von 1867 auf Kosten der slawischen Nationalitäten. Exemplarisch zeigte sich dies daran, dass 1871 eine Vereinbarung mit den Eliten der tschechischen Nationalität am energischen Widerstand der ungarischen Regierung scheiterte. Mit dem Ausgleich entstand eine Staatskonstruktion, die meistens als Dualismus bezeichnet wird und die Österreich und Ungarn als zwei weitgehend souveräne Staaten konzipierte. Diese wurden durch die Personalunion des Kaisers von Österreich und des Königs von Ungarn zusammengehalten. Zudem verblieben Außenpolitik und Militär inklusive der dafür notwendigen Finanzen als gemeinsame Aufgaben. Ein gemeinsames Parlament wurde nicht gebildet, was dazu führte, dass die Partizipationsmöglichkeiten der Bürger der beiden Reichshälften sehr unterschiedlich blieben. Auch im Umgang mit den Sprachen unterschieden sich die beiden Teile der Habsburgermonarchie. Während in der cisleithanischen Reichshälfte alle Sprachen ihre Anerkennung fanden, ohne dass dies allerdings eine integrative Wirkung entfaltete, förderte die ungarische Regierung durch ihre Bildungspolitik ihre eigene Sprache auf Kosten der Minderheiten. Obwohl entsprechende Pläne auf verschiedenen Ebenen immer wieder diskutiert wurden, entwickelte sich die Nationalitätenpolitik deshalb nie zu einem Ausgangspunkt für eine grundlegende Reform der Monarchie auf föderalistischer Grundlage. Die Nationalitäten wurden von den herrschenden Eliten vielmehr immer wieder im Sinne eines divide et impera gegeneinander ausgespielt. Dies galt auch und gerade für das Parlament der cisleithanischen Reichshälfte, welches speziell nach der Einführung des allgemeinen Wahlrechts 1907 zu einem Ort oft endloser Diskussionen und zum Teil sogar handgreiflicher Auseinandersetzungen verkam.
Wirtschaftlich hatte sich die Habsburgermonarchie im Verlauf des späten 19. Jahrhunderts trotz ungünstiger Rohstoffbasis und Verkehrslage von einem stark agrarisch geprägten Staat zumindest teilweise zu einem modernen Industrieland westeuropäischen Zuschnitts entwickelt. Dies galt vor allem für die cisleithanische Industrie, die sich in den österreichischen Ländern vor allem um die Zentren Wien, Linz, Graz sowie in Böhmen und Mähren entwickelte. Die transleithanische Reichshälfte blieb wie Galizien oder die Bukowina weithin stark agrarisch geprägt, was nach dem Ersten Weltkrieg zu großen Diskussion darüber führte, wer von der Zollunion der beiden Reichshälften mehr profitiert habe. Während ältere Untersuchungen auch mit Blick auf die neu geschaffenen Grenzen nach dem Ersten Weltkrieg von einem Ungleichgewicht sprachen, gilt heute weitgehend als gesichert, dass beide Reichshälften wirtschaftlich einen Gewinn aus der Existenz des Zentralstaates zogen, die cisleithanische Industrie durch den geschützten Absatzmarkt in Transleithanien, die transleithanische Landwirtschaft durch den vor billigem russischen und amerikanischen Getreide abgeschirmten Markt in Cisleithanien.
Im Unterschied zu Österreich-Ungarn galt das Deutsche Reich 1914 sowohl politisch wie wirtschaftlich als aufstrebender Nationalstaat, auch wenn Bismarck nach der durchaus als Meisterleistung zu bezeichnenden Entstehung des kleindeutschen Reiches (Fisch 2002, 95) das eigene Land zum ›saturierten Staat‹ erklärt hatte. Besonders auf wirtschaftlicher Ebene avancierte das Deutsche Reich bis 1914 zur industriellen Führungsmacht, die problemlos mit Großbritannien, aber auch den USA konkurrieren konnte. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Gebiete, die seit 1871 das Deutsche Reich bildeten, noch weitgehend agrarisch geprägt, auch wenn bereits 23,6 % in Handwerk, Industrie und Bergbau sowie 20,4 % im tertiären Sektor beschäftigt waren. Die wirtschaftspolitische Wende hin zum Protektionismus, die in den letzten 20 Jahren des 19. Jahrhunderts eingeleitet wurde, veränderte die deutsche Volkswirtschaft allerdings erheblich. Es setzte ein rascher Strukturwandel ein, der zu einer Reduktion der in der Landwirtschaft tätigen Bevölkerung führte. Allerdings wurde dieser durch eine bedeutende Produktionssteigerung kompensiert, was eine Folge der Tatsache war, dass die Hektarerträge zu den höchsten in der damaligen Welt gehörten. Trotz der Tatsache, dass die Produktion von Getreide auf Kosten von Fleisch, Milchprodukten und Zucker zurückging, fiel die Spezialisierung der deutschen Landwirtschaft weniger stark aus als in anderen Ländern wie Dänemark, Holland oder Großbritannien. Auch weiterhin existierte eine hohe Produktevielfalt im landwirtschaftlichen Bereich, was zwar mit hohen Kosten für die Konsumenten erkauft wurde, langfristig aber dazu führte, dass die britische Blockade während des Ersten Weltkrieges nicht die erhoffte Wirkung erzielen konnte. Die deutsche Industrie litt hingegen kaum unter den Wirkungen der protektionistischen Wirtschaftspolitik ihrer Regierung. Dies hing nicht zuletzt damit zusammen, dass sie international am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehr konkurrenzfähig war. Dies galt besonders für die neuen Branchen wie die chemische Industrie, die Farbenproduktion, die Elektroindustrie, den Maschinen- und Fahrzeugbau oder die optische Industrie. Eine wichtige Rolle spielte allerdings wohl auch, dass die Industrie in Deutschland von der Vereinheitlichung von Währung und Rechtswesen sowie von einem günstigen Umfeld (Rohstoffe, Bildungseinrichtungen, handelstechnisch günstige Lage in der Mitte Europas, Universalbanken, welche das Kapital im Land hielten) zu profitieren vermochte.
Politisch befand sich das Deutsche Reich seit seiner Gründung im Jahre 1871 in einer Schwebelage zwischen Obrigkeitsstaat und Demokratie (Fisch 2002, 88). Die Verfassung garantierte dem Kaiser formell eine starke Stellung, verfügte er doch über das alleinige Recht zur Ernennung und Entlassung von Reichskanzler und Reichsregierung. Zudem war er formell der Oberbefehlshaber der aus den Verbänden der Teilstaaten bestehenden deutschen Streitkräfte, deren Ausbildung und Ausrüstung durch die Existenz des so genannten Großen Generalstabes mehr und mehr vereinheitlicht wurde. Andererseits wurde durch die Verfassung von 1871 auch ein nach allgemeinem Wahlrecht für Männer ab 25 gewählte Reichstag bestimmt, der zusammen mit dem Bundesrat über die Gesetzesinitiative und mit einigen Einschränkungen vor allem bezüglich des Militärs das Recht zur Genehmigung des Haushaltes innehatte. Trotz der fehlenden formellen Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament war der Reichskanzler (und damit auch der Kaiser) de facto vom Reichstag abhängig. Das politische Geschick Bismarcks sowie die in den ersten Jahren seiner Herrschaft hohe Popularität von Kaiser Wilhelm II vermochten diese Situation vorerst zu kompensieren, in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wurde die Situation allerdings zusehends schwieriger, und zwar nicht zuletzt auf Grund der zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft im Gefolge der oben beschriebenen raschen Industrialisierung des Landes. Innerhalb der herrschenden Eliten führte dies zu einer verstärkten Unruhe, was sich einerseits auf die noch zu beschreibenden Kriegspläne auswirken sollte, andererseits aber auch verschiedentlich dazu führte, dass Staatsstreichpläne geschmiedet wurden, deren Ziel die Beseitigung der demokratischen Elemente in der Reichsverfassung waren. Zu einer ernsthaften Umsetzung solcher Pläne kam es allerdings nie und die herrschenden Eliten verzichteten auch darauf, ihre Herrschaft durch Notstandsmaßnahmen zu sichern.
Die Außenpolitik des Deutschen Reiches war in der Zeit bis 1890 primär auf die Isolation Frankreichs ausgerichtet und blieb daher grundsätzlich zurückhaltend. Dies erwies sich auf Grund der stark divergierenden Interessen der übrigen Staaten und des zunehmenden wirtschaftlichen und demografischen Gewichts des eigenen Landes nicht als einfach. Nach einem anfänglichen komplizierten Taktieren zwischen Russland und Österreich-Ungarn gezwungen, entschied sich Bismarck 1879 für ein Bündnis mit dem als verlässlicher und gefügiger erscheinenden Österreich-Ungarn. Ergänzt wurde dieses Bündnis allerdings durch einen Rückversicherungsvertrag mit Russland sowie durch weitere Abkommen mit Italien und Rumänien. 1890 kam es unter Bismarcks Nachfolger Caprivi zum Bruch mit Russland, welches sich wiederum in den folgenden Jahren in mehreren Verträgen mit Frankreich verbündete. Das Deutsche Reich geriet damit in eine strategisch ungemütliche Situation, aus welcher es durch ein engeres Zusammengehen mit Großbritannien zu entkommen suchte. Dafür sollten besonders die britisch-russischen Gegensätze in Asien und die britisch-französischen Gegensätze in Afrika genutzt werden. Erschwert und schließlich unmöglich gemacht wurde die Annäherung an Großbritannien allerdings durch eine neue Tendenz, die im Deutschen Reich seit den neunziger Jahren aufkam, nämlich der Forderung nach einer so genannten Weltpolitik. Diese richtete sich gegen die Anerkennung der britischen Weltstellung und die Festlegung auf eine Position als Juniorpartner auf globaler Ebene. Es entstand schließlich eine Bewegung, die in einer breiten mittelständisch und national orientierten Öffentlichkeit große Unterstützung fand. Der Wandel erfolgte allerdings langsam. Immer wieder wären Kompromisse möglich gewesen, es gelang jedoch nicht, die zentralen Anstoßpunkte zu beseitigen. Dazu gehörte einerseits der von Admiral Alfred von Tirpitz seit 1898 mit großem Propagandaaufwand betriebene Schlachtflottenbau, der seinen Höhepunkt in der Dreadnoughtkrise von 1909 erreichte. Andererseits spielte die Rivalität der Mächte auf dem Balkan und in Afrika eine wichtige Rolle, so dass ein Ausgleich zwischen dem Deutschen Reich und Großbritannien vor dem Ersten Weltkrieg nie zustande kam, während Analoges zwischen Frankreich und Großbritannien 1904 und zwischen Russland und Großbritannien 1907 gelang.
Zum direkten Auslöser des Krieges wurde diese Rivalität der Großmächte nicht wirklich, auch wenn sie deren Verhalten in der Julikrise sicherlich in einem gewissen Ausmaß beeinflusste. In Gang gesetzt wurde der Weltkrieg vielmehr auf dem Balkan, wo es seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts zu Streitigkeiten um die reichsten und am meisten entwickelten Gebiete des Osmanischen Reiches kam. Schon Zeitgenossen sprachen deshalb vom kranken Mann am Bosporus, eine Bezeichnung die auf einen Ausspruch des russischen Zaren Nikolaus I zurückgehen soll. Die Ursachen für den Niedergang des Osmanischen Reiches werden von Historikerinnen und Historikern heute unterschiedlich beurteilt. Neben den imperialistischen Ambitionen der europäischen Großmächten und den nationalen Aspirationen von Bevölkerungsgruppen auf dem Balkan, die gemeinsame Werte, eine gemeinsame Kultur, Geschichte und teilweise Sprache zu entdecken glaubten, spielte sicherlich die Tatsache eine wichtige Rolle, dass die rechtliche Privilegierung von Muslimen mehr und mehr dem in Europa sich durchsetzenden Prinzip einer einheitlichen Staatsbürgergesellschaft zu widersprechen begann. Es war keineswegs so, dass die Herrscher und Politiker des Osmanischen Reiches sich mit der sich abzeichnenden Entwicklung abfanden. Vielmehr waren sie immer wieder bemüht, Allianzen mit denjenigen europäischen Mächten einzugehen, welchen am Erhalt eines bedeutenden Osmanischen Reiches gelegen war. Zudem wurden auch im Innern immer wieder Reformen durchgeführt, sei dies im Bereich des Militärs, der Verwaltung, des Rechts oder der politischen Organisation und Partizipation größerer Bevölkerungsteile. Viele dieser Reformen blieben allerdings Stückwerk. Trotz der mehrfachen Verkündigung gelangen weder die Einführung der Rechtsgleichheit aller Staatsangehörigen noch die Schaffung einer einheitlichen Staatsbürgergesellschaft, da sowohl die privilegierten Muslime als auch Teile der überwiegend christlichen und jüdischen Nichtmuslime eine solche Lösung ablehnten. Dabei spielten von den Großmächten unterstützte nationale Aspirationen eine nicht unwichtige Rolle. Es kam daher im Osmanischen Reich im Verlauf des 19. und auch noch zu Beginn des 20. Jahrhundert zu einer ganzen Reihe von Interventionen seitens der Großmächte. Auch im ökonomischen Bereich mischten sich die europäischen Staaten immer wieder ein. Den Höhepunkt bildete dabei der im Gefolge der weltweiten Wirtschaftskrise im Jahre 1879 verkündete Staatsbankrott. 1881 wurde deshalb die Administration de la Dette Publique Ottomane geschaffen, der ein Viertel bis ein Drittel der Staatseinnahmen direkt zufloss, um die Interessen der europäischen Gläubiger zu befriedigen. Dies erhöhte den Einfluss der europäischen Mächte auf das Osmanische Reich erheblich, garantierte aber andererseits eine geregelte Finanzverwaltung und vor allem den weiteren Zufluss ausländischen Kapitals in das Land. Damit wurde vor allem der Auf- und Ausbau der Eisenbahnlinien und der Häfen des Landes finanziert, was wiederum zu einem starken Wachstum des osmanischen Außenhandels führte. Profiteure waren dabei die Agrarproduzenten, während das traditionelle Handwerk unter dem nun vereinfacht möglichen Import billiger europäischer Industriewaren litt. In einzelnen Bereichen kam es trotz den von den europäischen Mächten bewusst niedrig gehaltenen Zöllen auch zum Aufbau eigener osmanischer Industriebetriebe. Die Abhängigkeit von der Einfuhr europäischer Industrieprodukte blieb allerdings bis 1914 groß, so dass die Bilanz der industriellen Entwicklung des Landes sehr zwiespältig ausfiel. Dem erheblichen Ausbau der Infrastruktur stand in den letzten Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg ein nur sehr langsamer Aufbau einer eigenen Industrie gegenüber.
Das größte Problem des Osmanischen Reiches bildete allerdings die Tatsache, dass die meisten seiner Bewohner nicht bereit waren, sich selbst in erster Linie als Teil des Staates und damit als Osmanen zu verstehen. Mehr und mehr setzte sich die Vorstellung durch, dass ein Zusammenleben der verschiedenen ethnischen, sprachlichen und religiösen Gruppen in Zukunft nicht mehr möglich sein werde. Die Entwicklung wies schon seit dem 19. Jahrhundert auf eine räumliche Trennung und eine Entflechtung der jeweiligen Gruppen hin. Dass dieser Prozess nicht gewaltfrei verlaufen würde, war dabei vielen Zeitgenossen klar. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und bis 1908 wurden gemäß Schätzungen etwa 5 Millionen Muslime im Rahmen von Fluchtbewegungen und Vertreibungen aus den europäischen Teilen des Reiches vertrieben und meistens in Anatolien angesiedelt (Karpat 1985, 11). Dennoch verblieben auch 1914 noch große Gruppen von Armeniern und Griechen im Kernbereich des Osmanischen Reiches, was während des Ersten Weltkrieges und danach fatale Konsequenzen haben sollte (siehe 4.4 und 6). Die meisten christlichen Minderheiten vermochten sich jedoch im Verlauf des 19. Jahrhunderts von der osmanischen Herrschaft zu befreien. Ausgangspunkt dieses Prozesses bildeten die Impulse aufklärerischer Ideen sowie der Französischen Revolution, die bei den neu entstehenden Bildungseliten auf dem Balkan eine Art von »Erweckung« auslöste. Diese erfolgte allerdings in den meisten Fällen nicht zuerst in den jeweiligen Gebieten selbst, sondern unter im Exil in Westeuropa lebenden Intellektuellen, deren Ideen sich erst nach und nach auf dem Balkan verbreiteten. Herausragende Vertreter dieser Generation waren in Griechenland Admantios Korais (1748-1833), Vuk Stefanovic Kradzic (1787-1864) in Serbien, Neofit Rilski (1793-1881) in Bulgarien oder Samuil Clain (1745-1806) und Gheorghe Sincai (1754-1816) in Rumänien. Vorerst waren die Versuche, sich von der Herrschaft des Osmanischen Reiches zu lösen allerdings nicht erfolgreich. Nur Griechenland vermochte sich, wohl nicht zuletzt dank einer großen Begeisterung für die griechische Kultur in der Öffentlichkeit der europäischen Großmächte schon in den 1820er Jahren von der osmanischen Herrschaft zu befreien. In den übrigen europäischen Teilen des Osmanischen Reiches mussten sich die Minderheiten vorerst mit einer nicht immer genau definierten und daher prekären Form von Autonomie begnügen. Rumänien und Serbien wurden schließlich nach dem von Aufständen in weiten Teilen des Balkans begleiteten Russisch-Türkischen Krieg von 1877/78 am anschließenden Berliner Kongress als souveräne Staaten anerkannt. Bulgarien wurde solches zu diesem Zeitpunkt jedoch trotz Unterstützung Russlands verweigert, so dass die Anerkennung als souveräner Staat erst 1908 erfolgte.
Außen- wie wirtschaftspolitisch blieben die Balkanstaaten während des gesamten 19. und auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu großen Teilen abhängig von den europäischen Großmächten. Dies hing nicht zuletzt damit zusammen, dass die Gesellschaftsstruktur in den meisten Fällen agrarisch war und viele Intellektuelle ihre Ideen aus dem Ausland in die verschiedenen Gebiete hineintrugen. Es setzte ein Transformationsprozess ein, bei welchem die Bevölkerung in den meisten Gebieten des Balkans auf die aktive Hilfe der europäischen Großmächte angewiesen war. Einerseits handelte es sich dabei um militärischen und diplomatischen Beistand bei der Ablösung vom Osmanischen Reich, andererseits aber auch um finanzielle und technische Hilfe bei der Erneuerung der rückständigen Infrastruktur und dem Aufbau einer eigenständigen Industrie. Dass diese Hilfe keineswegs uneigennützig gewährt wurde, zeigte sich schon bald. Sowohl die Habsburgermonarchie als auch Russland, aber auch die geografisch weiter weg gelegenen Staaten wie Frankreich, das Deutsche Reich oder Großbritannien suchten die von Seiten der Balkanstaaten erbetene Hilfe zu nutzen, um eigene politische und/oder wirtschaftliche Interessen durchzusetzen. Der Balkan wurde deshalb im Verlauf des 19. Jahrhunderts zum Spielfeld der europäischen Mächte und zum Experimentierfeld für Teile des europäischen Investitionskapitals. Angesichts der immer wieder aufflammenden Konflikte bemühten sich die europäischen Großmächte um einen möglichst hohen Grad an Kontrolle über die politische Entwicklung in den neu gebildeten und neu entstehenden Balkanstaaten. Dies wurde in ihren Augen am besten dadurch gewährleistet, dass in den jeweiligen Ländern Monarchen eingesetzt wurden, die aus westeuropäischen Dynastien stammten. Diese verfügten zwar nicht über große Kenntnisse der politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und religiös-kulturellen Zustände in ihren Staaten, aber ihnen wurde zugetraut, dass sie eine Vermittlerrolle zwischen den inneren Parteiungen einnehmen könnten. Der Erfolg dieser Idee blieb allerdings bescheiden. Einzig in Serbien vermochte sich eine einheimische Dynastie aus der Führungselite des Aufstandes zu etablieren. Deren Position blieb allerdings prekär, da nicht alle Angehörigen der einheimischen Eliten bereit waren, den Anspruch der betreffenden Familie zu akzeptieren. Begründet unter Anderem in den fortgesetzten innenpolitischen Spannungen auf dem Balkan versuchten die Eliten, die aufgeheizten Massen durch Expansionspolitik von den innenpolitischen Problemen abzulenken. Die weiterhin bestehende Schwäche des Osmanischen Reiches weckte dabei Begehrlichkeiten, ließ aber gleichzeitig die im gemeinsamen Abwehrkampf des 19. Jahrhunderts noch bestehende Solidarität der nun in neuen Staaten organisierten christlichen Minderheiten schwinden. Dieser Konflikt wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts primär in Makedonien ausgetragen, wo ein erbitterter Volkstums- und Kulturkampf tobte (Hösch 2004, 72). Es kam dabei immer wieder zu Gewalttaten und Massakern, dies sowohl vor als auch während der Balkankriege von 1912/13. Nach dem ersten dieser Kriege musste sich das Osmanische Reich fast vollständig aus seinen europäischen Besitzungen zurückziehen. Der zweite Krieg zwischen den ehemaligen Verbündeten führte schließlich im bisher primär auf Russland ausgerichteten Bulgarien nach dessen Niederlage dazu, dass sich das Land verstärkt an die Habsburgermonarchie anlehnte, während Serbien, welches im 19. Jahrhundert enge Verbindungen zu Österreich-Ungarn gepflegt hatte, mehr und mehr die Unterstützung Russlands suchte, welches sich umgekehrt mit der Situation konfrontiert sah, dass ihm fast nur noch Serbien als Bündnispartner auf dem Balkan verblieb.
Russland selbst war 1914 zwar noch weitgehend ein agrarisch geprägtes Land, die Industrialisierung war in den letzten Jahrzehnten des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts allerdings stark vorangeschritten. Dies zeigen die hohen Wachstumsraten von 8 % pro Jahr in den 1890-er Jahren und von immerhin noch 6 % in den Jahren 1909 bis 1914. Diese Entwicklung war einerseits auf eine bewusste staatliche Förderung speziell der mit dem Bau und Betrieb von Eisenbahnen und der Produktion von Rüstungsgütern zusammenhängenden Schwerindustrie zurückzuführen, andererseits aber auch auf die Einführung des Goldstandards im Jahre 1897. Letzteres schuf die Voraussetzung für die Stabilität der russischen Währung und damit für feste Wechselkurse, was den Außenhandel und vor allem den Zufluss ausländischen Kapitals erheblich erleichterte. Russland wurde in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg so zu einem der weltweit größten Schuldner und weite Teile des Industriekapitals sowie der russischen Banken befanden sich in dieser Zeit in ausländischer Hand. Dass Russland im Unterschied zum Osmanischen Reich oder zu China dadurch nicht in die Abhängigkeit seiner Gläubiger geriet, lag einerseits darin begründet, dass sein wichtigster Bündnispartner und Geldgeber Frankreich mindestens ebenso auf Russland angewiesen war wie umgekehrt. Andererseits war der wichtigste Außenhandelspartner des Landes das Deutsche Reich, dessen wirtschaftspolitische Interessenlage verhinderte, dass Russland in eine einseitige ökonomische Abhängigkeit von Frankreich geriet. Auch bezüglich seines politischen Besitzstandes war es Russland trotz einer Reihe von zum Teil schmerzlichen militärischen Niederlagen – so im Krimkrieg von 1853-1856 oder im Russisch-Japanischen Krieg von 1904/05 – gelungen, diesen sowohl in Europa als auch im Fernen Osten weitgehend zu wahren und seinen Einflussbereich in Zentralasien gleichzeitig erheblich zu erweitern. 1914 war das Russische Reich so groß wie niemals zuvor und wie nie mehr danach. Sein Einfluss reichte von Polen bis nach Wladiwostok und vom Eismeer bis an den Hindukusch und den Kaukasus. Zum Symbol der Durchdringung der Weiten des Reiches wurde der zwischen 1891 und 1904 erfolgte Bau der Transsibirischen Eisenbahn. Im Gegensatz zur bis zum Russisch-Japanischen Krieg von 1904/05 auf rasche Expansion ausgerichteten Politik in Asien, blieben die russischen Zaren in Europa nach der Niederlage im Krimkrieg eher tendenziell zurückhaltend, dies besonders wo französische, britische oder auch österreichische Interessen betroffen waren. Während der Aufstände im Balkan nach 1875 und durch den russisch-türkischen Krieg von 1877/78 versuchte das Zarenreich seinen Einfluss auch in diesem Teil Europas erheblich zu erweitern, doch musste es seine Ambitionen auf dem Berliner Kongress von 1878 auf Druck von Großbritannien und Österreich-Ungarn zurückstecken. Das Deutsche Reich – und sein Vorgänger Preußen – schienen für Russland so der einzige mögliche Partner in Europa zu sein, doch entschied sich dieses 1879 für ein Bündnis mit dem gefügiger und verlässlicher erscheinenden Österreich-Ungarn. Die Bindungen zu Russland wurden bis 1890 noch aufrechterhalten, doch sah sich die russische Regierung nach der Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrages im Jahre 1890 fast gezwungen, eine Annäherung an das innenpolitisch und ideologisch sehr misstrauisch beäugte Frankreich in die Wege zu leiten. 1892 kam es so zum Abschluss einer Militärkonvention zwischen den beiden Ländern. Dieses Bündnis wurde nach der Niederlage im Russisch-Japanischen Krieg durch einen Kolonialausgleich mit Großbritannien und Japan erweitert, in welchem 1907 eine Abgrenzung der gegenseitigen Einflusssphären von Tibet bis Persien, respektive in Ostasien vorgenommen wurde.
Innenpolitisch war die Entwicklung Russlands in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg von den Diskussionen über die soziale Umgestaltung des Landes im Zeichen von Bauernbefreiung, Industrialisierung und von endlosen Streitigkeiten zwischen den jeweiligen Ministerien geprägt. Im Gegensatz zu den meisten Ländern Europas und Amerikas, aber auch zu Japan verfügte Russland nicht über ein eigentliches Kabinett oder einen Premierminister, der die alltäglichen Regierungsgeschäfte führte. Vielmehr griffen die sich weiterhin absolutistisch gebärdenden Zaren in praktisch alle Bereiche von Regierung, Verwaltung und Justiz ein und erschwerten damit eine Rationalisierung der staatlichen Behörden sowie den Aufbau eines den Ansprüchen einer sich modernisierenden Gesellschaft entsprechenden Staatswesens. Hinderlich waren in diesem Punkt sicherlich auch die stark ständische Ausprägung der russischen Gesellschaft und die nie gründlich vorangetriebene Landreform. Zwar hatte Zar Alexander II im Jahre 1861 die in weiten Teilen Europas als anachronistisch empfundene Leibeigenschaft aufgehoben, doch war es nicht gelungen, dies mit einer umfassenden Landreform zu verbinden. Eine Übergabe des Landes allein an die Bauern wäre zu revolutionär gewesen und hätte mit der bestehenden Gesellschaftsstruktur auch die Position des Zaren selbst in Frage gestellt. Eine vollständige Übertragung des Bodens an die Grundherren kam aus Angst vor den daraus resultierenden sozialen Spannungen und der Entstehung eines Proletariates sowohl auf dem Land als auch in den Städten nicht in Frage. Die Folge war ein Kompromiss, dessen primäres Ziel für die zaristische Regierung darin bestand, den Zugriff des Zentralstaates auf die lokalen finanziellen Ressourcen sicherzustellen. Auch im Bereich der Justiz, der lokalen politischen Selbstverwaltung und der Armee wurden im Verlauf des 19. Jahrhunderts Reformen in Angriff genommen. Die Macht des Zaren wurde dadurch allerdings kaum eingeschränkt. So konnte er weiterhin in verschiedener Weise direkt und willkürlich in den Ablauf von Justiz und lokaler Selbstverwaltung eingreifen. Trotz ihrer Begrenztheit blieben die Reformen nicht vollständig wirkungslos. Im Verlauf des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden immer wieder kleine Gruppen, die sich um Veränderungen in der russischen Gesellschaft bemühten. Dazu gehörten neben den weitgehend erfolglosen Narodniki, welche die Bauern für Reformen zu gewinnen suchten, und den ähnlich ausgerichteten so genannten Sozialrevolutionären auch die 1898 gegründete Sozialdemokratische Partei, die sich bereits 1903 in zwei Richtungen spaltete. Während die Bolschewiki unter Führung von Wladimir Iljitsch Lenin den Aufbau einer revolutionären Kaderpartei anstrebten, war es das Ziel der Menschewiki, eine Massenpartei westeuropäischen Zuschnitts zu bilden. Zum Teil ausgelöst durch die Misserfolge im Russisch-Japanischen Krieg kam es 1904/05 in den russischen Städten – später auch auf dem Land – zu revolutionären Erhebungen, die schließlich in der Einrichtung einer so genannten Duma gipfelten, welche an der Gesetzgebung beteiligt und einen Teil des Budgets kontrollieren sollte. Nicht zuletzt auf Grund der Angst der gemäßigten Teile der revolutionären Bewegung, von den Massen weggespült zu werden, gelang es dem Zaren und seinen Ministern, einen großen Teil ihrer Macht dennoch zu bewahren, dies speziell durch die Schaffung eines sehr weit reichenden Notverordnungsartikels. Die Duma blieb allerdings ein wichtiges Forum der öffentlichen Diskussion. Auch das Streikrecht und die Gewerkschaftsfreiheit wurden nicht wieder abgeschafft, auch wenn es einige zusätzliche Einschränkungen gab. Vor allem aber konnte der Zar die neuen gesellschaftlichen und politischen Kräfte nicht mehr vollständig ignorieren. Er musste Möglichkeiten finden, sie zu kontrollieren und zu kanalisieren. Ein Mittel dazu war die Außenpolitik, sei es durch eine stärkere Anlehnung an die französische Republik, sei es durch eine kompromisslosere Unterstützung des slawischen Nationalismus auf dem Balkan.
Ökonomisch und sozial war die Entwicklung Frankreichs in den Jahren zwischen 1870 und 1914 – abgesehen von den Auseinandersetzungen um das Verhältnis von Kirche und Staat sowie um die so genannte Dreyfus-Affäre – wenig spektakulär. Was sein Wirtschaftswachstum betraf, so lag dieses in jenem Zeitraum leicht unter dem europäischen Durchschnitt. Dennoch vermochte das Land seine Position als starke europäische Volkswirtschaft zu behaupten, so dass von einer kontinuierlichen Anpassung an die industrielle Entwicklung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts gesprochen werden kann. Dies kann nicht zuletzt auf die große politische und wirtschaftliche Bedeutung der mittleren und großen Bauern sowie der kleinen und mittleren Unternehmer für die französische Volkswirtschaft zurückgeführt werden. Diese hatten zu den Gewinnern der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen in Frankreich seit 1789 gehört und lehnten große und vor allem schnelle Veränderungen sowohl auf wirtschaftlicher wie auf gesellschaftlicher Ebene mehrheitlich ab. Erst die Hochkonjunktur nach 1896 brachte in Frankreich den Durchbruch für große Unternehmen und eine stärkere Diversifizierung der französischen Volkswirtschaft. Kleine und mittlere Betriebe spielten zwar weiterhin eine überdurchschnittliche Rolle, große Betriebe, vor allem in der Schwer- und Elektroindustrie und bei der Herstellung von Automobilen, begannen nun Fuß zu fassen. Eine wichtige Rolle für die Entwicklung der französischen Volkswirtschaft spielten, wie bereits am Beispiel Russlands gezeigt, auch die Auslandsinvestitionen, deren Erträge in der Folge sowohl inner- wie außerhalb Frankreichs wieder investiert wurden und damit einen Beitrag leisteten, dass das Land 1914 über eine solide wirtschaftliche Grundlage verfügte. Außenpolitisch profitierte Frankreich am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts von den ungewollten Folgen der neuen deutschen Außenpolitik. Nach der Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrages mit Russland wandte sich letzteres an das bisher aus innenpolitischen und ideologischen Gründen verschmähte Frankreich, welches das Angebot für eine Stärkung seiner Stellung in Europa gerne annahm. Im Zeichen des Sprichwortes »Jamais y parler, toujours y penser« wurde auch die Rückgewinnung der 1871 verlorenen Territorien wieder zum Thema. Erneut war es die deutsche Regierung, welche durch ihre Flottenpolitik Avancen Großbritanniens zurückwies und Frankreich so die Möglichkeit bot, bestehende Konflikte durch die Entente Cordiale 1904 zu klären. Dieses Abkommen war keineswegs ein Bündnis wie im Falle Russlands. Vielmehr handelte es sich wie später im Abkommen zwischen Russland und Großbritannien primär um eine Regelung bestehender kolonialer Konflikte sowie um ein Abkommen zur Klärung der im Zusammenhang mit dem Russisch-Japanischen Krieg aufgeworfener Fragen. Dennoch zeigte Großbritannien mit der Entente Cordiale ein erstes Mal deutlich, auf welcher Seite es in einem möglichen zukünftigen militärischen Konflikt stehen könnte. Frankreichs Position im europäischen Mächtekarussell war dadurch erheblich gestärkt worden.
Russland und Frankreich hatten mit der auch nur indirekten Einbindung Großbritanniens in ihr Bündnis einen wichtigen psychologischen Erfolg erzielt. Auch wenn die wirtschaftliche Stärke des Landes und seines Empires im Verlauf des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts relativ gesehen abgenommen hatte, so galt Großbritannien in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg als die wichtigste Großmacht der Welt. Trotz der zunehmenden Herausforderung durch das Deutsche Reich und die USA dominierten die britische Marine und das britische Kapital militärisch wie wirtschaftlich weiterhin weite Teile der Welt. In Asien, Australien und dem Pazifik war die Position Großbritanniens sicherlich am stärksten. Die Royal Navy, die Indian Army, die Interessen der australischen und neuseeländischen Kolonien und ab 1902 das Bündnis mit Japan waren die Garanten dafür, dass der britische Einfluss in diesem Teil sowohl auf politischer als auch auf wirtschaftlicher Ebene gewahrt wurde. Auf diese Weise konnten die Ambitionen des Deutschen Reiches und der USA in die Schranken gewiesen werden. Auch in Afrika gelang es Großbritannien, seine Position im Rahmen des scramble for Afrika zu wahren. Zwar mussten die britischen Regierungen am Ende des 19. Jahrhunderts auch anderen Mächten die Errichtung von Kolonien auf dem schwarzen Kontinent zugestehen, mit Ausnahme des unter belgische Kontrolle gelangten Kongos blieben die strategisch und wirtschaftlich wichtigen Gebiete wie das Kap der Guten Hoffnung, Ägypten und der Suezkanal, Nigeria und die Nigermündung sowie die rohstoffreichen Nord- und Südrhodesien unter britischer Kontrolle. Auch in Lateinamerika vermochte Großbritannien dank seiner hohen Investitionen in den dortigen Staaten seinen Einfluss zu wahren, dies obwohl die amerikanischen Regierungen im Gefolge der so genannten Monroe-Doktrin des Jahres 1823 den Einfluss europäischer Staaten auf die südlichen Teile des amerikanischen Kontinentes zurückzudrängen suchten. Einzig in Nordamerika musste Großbritannien in seinem Anspruch auf eine Vormachtstellung auf die immer stärker werdenden USA Rücksicht nehmen. Das innerhalb des Empires verbliebene Kanada war nämlich wirtschaftlich und politisch zu einem nicht unwesentlichen Teil von der Entwicklung in den USA abhängig. In Europa hatten die britischen Regierungen während langer Zeit versucht, eine Gleichgewichtspolitik zu verfolgen. Deren Ziel lag primär in der Erhaltung der eigenen Handlungsfähigkeit außerhalb Europas sowie in der Verhinderung möglicher Konkurrenten auf globaler Ebene. Diese Politik war im Verlauf des 19. Jahrhunderts meist erfolgreich, sei es im Krimkrieg gegen Russland oder in den Einigungskriegen der 60-er und 70-er Jahre gegen Frankreich. Erst die deutsche »Weltpolitik« um die Jahrhundertwende wurde schließlich zu einer Herausforderung, welcher die britischen Regierungen nicht mehr durch die bisher betriebene Gleichgewichtspolitik zu begegnen vermochten. Auch wenn schon die Konflikte mit Russland und Frankreich eine außereuropäische Komponente aufgewiesen hatten, so in Afghanistan und China (Russland) oder in Afrika (Frankreich), hatten diese beiden Mächte nie explizit die britische Weltstellung in Frage gestellt. Die Regierungen des Deutschen Reiches, aber auch nationalistische betonten hingegen immer wieder, dass es das Ziel des Reiches sei, sich nicht nur in Europa, sondern auch in der Welt, einen Platz an der Sonne zu sichern.
Großbritannien gelang es, der deutschen Herausforderung entgegenzutreten. Zwar wurden dem Reich Kolonien sowohl in Afrika als auch dem Pazifik zugestanden, im Wettrüsten auf See investierte Großbritannien allerdings hohe Summen, um die strategische Überlegenheit auf den Weltmeeren zu bewahren und damit auch den Wert der kolonialen Konzessionen so gering wie möglich zu halten. Die Kosten waren entsprechend hoch, was angesichts der Bemühungen der seit 1906 amtierenden liberalen Regierung um die Stärkung des Sozialversicherungssystems im eigenen Land zu großen politischen Diskussionen führte. Zudem musste das Land seine Gleichgewichtspolitik in weiten Teilen aufgeben und zumindest zum Teil auch auf die Ressourcen der sich selbst verwaltenden Teile des Empires, der so genannten Dominions zurückgreifen. Dass Großbritannien im letzten Jahrzehnt vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges nicht mehr in der Lage war, seine Weltmachtstellung vollständig aus eigener Kraft zu sichern, hing damit zusammen, dass es relativ gesehen an wirtschaftlicher Stärke eingebüßt hatte. Im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte das Land seine bisher auf seiner Pionierrolle in der industriellen Revolution basierende unangefochtene wirtschaftliche Führungsposition zwar nicht vollständig verloren, im Vergleich zu den anderen europäischen Staaten war die britische Volkswirtschaft allerdings weniger schnell gewachsen. Die Gründe dafür sind umstritten. Angeführt wird einerseits die Tatsache, dass das Land auf Grund seiner Pionierrolle über die ältesten Industrieanlagen verfügte und die Bereitschaft zu deren Erneuerung während vieler Jahre klein geblieben war, dies zumindest solange wie die damit zu erzielenden Gewinne ausreichend erschienen. Als weitere Gründe genannt werden auch der hohe Kapitalexport als Folge der Investitionsmöglichkeiten in vielen unter britischem Einfluss stehenden Teilen der Welt, der verhältnismäßig geringe politische Einfluss von industriellen Unternehmern, das rückständige Bildungswesen – besonders im Bereich der Berufsbildung – sowie das Festhalten der britischen Regierungen am Prinzip des Freihandels, was dazu führte, dass neu entstehende Branchen nicht von staatlicher Förderung profitieren konnten. Fast noch wichtiger als der Rückgang der wirtschaftlichen Bedeutung Großbritanniens auf globaler Ebene war jedoch die daraus resultierende Debatte unter den Zeitgenossen. Insbesondere während der Jahre der intensiven Auseinandersetzung mit dem Deutschen Reich wurde teilweise panikartig und sensationalistisch übertrieben, was unter Wissenschaftlern wie in der Öffentlichkeit dazu führte, dass das britische Selbstbewusstsein in Teilen der Gesellschaft erschüttert wurde. Zu einer wirklichen politisch-gesellschaftlichen Krise wuchs sich diese Diskussion allerdings nicht aus. Dies war nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die führenden Schichten der britischen Gesellschaft das politische System immer wieder pragmatisch an die veränderten Umstände anpassten. Letztmals geschah dies vor dem Ersten Weltkrieg im Jahre 1911, als das bisher uneingeschränkte Vetorecht des House of Lords bei Gesetzesbeschlüssen des Unterhauses aufgehoben wurde.
Von entscheidender Relevanz für die weltweite Bedeutung Großbritanniens war die Existenz seines Empires. Nach dem Wegfall der nordamerikanischen Kolonien am Ende des 18. Jahrhunderts hatte dieses zu großen Teilen aus informell beherrschten Gebieten in verschiedenen Teilen der Welt, einigen Handelsstützpunkten und Siedlungskolonien in Afrika, Asien und dem Pazifik sowie dem Herrschaftsbereich der East India Company in Indien bestanden. Am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich dieses System grundlegend gewandelt. Aus den Siedlungskolonien waren sich selbst verwaltende Kolonien geworden, für welche der Begriff Dominion üblich wurde. In Indien war das direkt unter britischer Kontrolle stehende Territorium vervielfacht worden. Nach dem so genannten Sepoyaufstand von 1858 war die Verwaltung von der East India Company an die britische Regierung übergegangen. In Afrika war aus vielen bis zu diesem Zeitpunkt informell kontrollierten Teilen des Kontinents ein formelles Kolonialreich geworden. Das Ausmaß der Kontrolle über die einzelnen Gebiete war jedoch unterschiedlich. In den weißen Siedlungskolonien hatte es bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts Selbstständigkeitsbemühungen gegeben, welchen die britische Regierung nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Erfahrungen in den USA am Ende des 18. Jahrhunderts durch die stetig zunehmende Abtretung von Kompetenzen an die jeweiligen Selbstverwaltungsbehörden zu begegnen suchte. Entscheidende Meilensteine waren in diesem Zusammenhang der Australian Colonies Gouvernement Act von 1850, der Colonial Law Validity Act von 1865 oder der British North America Act von 1867, mit welchen den Dominions Rechte zugestanden wurden, die dazu führten, dass die innenpolitische Entwicklung dieser Gebiete faktisch 1914 nicht mehr der britischen Kontrolle unterstand. Auch im Bereich der Außen- und Außenhandels- sowie der Sicherheitspolitik versuchten die Regierungen der Dominions zu Beginn des 20. Jahrhunderts an den so genannten Colonial und Imperial Conferences Einfluss zu nehmen. Angesichts der Herausforderungen in Europa sah sich die britische Regierung auch in diesen Punkten immer wieder zu Konzessionen gezwungen, auch wenn sie sich in wichtigen Bereichen – so Fragen der militärischen Zusammenarbeit mit Frankreich oder völkerrechtlicher Beschränkungen des Seekrieges – nicht auf Diskussionen mit den Vertretern der Dominions einließ. Zu den wichtigsten Konzessionen gehörte dabei sicherlich die Zustimmung zum Aufbau eigener australischer und neuseeländischer Flottenverbände und die Schaffung des Imperial General Staff. In diesem arbeiteten, wenn auch in untergeordneten Positionen, Offiziere aus den Dominions mit.
Auch in Indien gab es Bemühungen für eine stärkere einheimische Partizipation an innen-, aber auch außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungen der Regierungen des Raj, wie die britische Herrschaft dort genannt wurde. Die britischen Vizekönige versuchten zwar immer wieder, die eigene Position in traditioneller Weise zu inszenieren – dies primär in der Form eines Imperial Darbar, der an die alte Mogulherrschaft erinnerte – doch gelang es ihnen damit immer weniger, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts entstandenen indischen Bildungsschichten davon zu überzeugen, dass es richtig sei, auf eine irgendwie geartete politische Partizipation von Indern zu verzichten. Ein erster Schritt zur Einbindung der indischen Bildungsschichten war deren Zulassung zum höheren britisch-indischen Verwaltungsdienst. Die Ausführungsbestimmungen dazu waren aber derart restriktiv, dass es kaum einem Inder gelang, in diese Positionen aufzusteigen. Das Höchstalter für die Eintrittsprüfungen wurde auf 19 Jahre festgesetzt und die Prüfungen allein in Großbritannien abgehalten. Inder hatten daher nur dann eine Chance in den Indian Civil Service aufgenommen zu werden, wenn sie schon in jungen Jahren in Großbritannien Eliteschulen besuchten. Selbst wenn sie an den Prüfungen erfolgreich waren, war dies keine Garantie für eine erfolgreiche Karriere, konnten sie doch schon wegen eines geringfügigen Fehlers entlassen werden, der einem weißen britischen Kollegen nachgesehen worden wäre. Der Indian Civil Service wurde so zu einem Elitenbeamtendienst, in welchem einheimische Inder, die als «natives» bezeichnet wurden, den Korpsgeist nur störten. Da die Angehörigen der neuen indischen Bildungsschicht aber an einer akademischen Ausbildung nach britischem Vorbild festhielten, kam es zu einer Akademikerschwemme. Diese führte wiederum dazu, dass viele Hochschulabgänger häufig keine ihrer Ausbildung entsprechende Beschäftigung fanden und sie sich deshalb immer häufiger in der politischen Arbeit engagierten, so zum Beispiel im 1885 gegründeten All-India National Congress. Dieser war keineswegs eine antibritische Organisation. Ziel der meisten Mitglieder war es vielmehr, den Einfluss der Einheimischen auf die eigene Innenpolitik im Rahmen eines weiterhin britisch-dominierten Indiens zu erhöhen. Über die Mittel, mit welchen dieses Ziel erreicht werden sollte, herrschte innerhalb des All-India National Congress und der übrigen Organisationen allerdings selten Einigkeit, so dass es den verschiedenen britischen Vizekönigen immer wieder gelang, die verschiedenen Interessengruppen gegeneinander auszuspielen und die Partizipationsmöglichkeiten so gering als möglich zu halten. Auf der lokalen Ebene wie auch derjenigen der Provinzen wurden zwar Körperschaften geschaffen, die eine gewisse politische Partizipation ermöglichten, die Gestaltungsmöglichkeiten indischer Politiker blieben allerdings stark eingeschränkt. Dies änderte sich erst durch die Schaffung des Imperial Legislative Council von 1892 und besonders durch die im Gefolge der Teilung Bengalens im Jahre 1905 hervorgerufene Agitation. Bis 1914 gelang es der indischen Nationalbewegung allerdings trotz einer ihr eigentlich gewogenen Regierung in London nicht, den eigenen Einfluss analog zu den Dominions auszuweiten und sich im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik wie ihren Kollegen aus Australien, Neuseeland, Südafrika oder Kanada Einfluss zu verschaffen. Dies lag einerseits sicherlich daran, dass rassistische Vorurteile es für viele ansonsten liberal eingestellte britische Politiker ausgeschlossen erscheinen ließen, Nicht-Weißen den gleichen Status zuzubilligen wie Weißen. Andererseits spielte auch die Tatsache eine Rolle, dass die nach dem Sepoyaufstand von 1857 neu organisierte Indian Army ein zentrales Machtinstrument der britischen Sicherheitspolitik in ganz Asien bildete.
Innenpolitisch war die Situation in Indien vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges oberflächlich ruhig. Die 1905 erfolgte Teilung Bengalens, die sowohl unter Muslimen als auch unter Hindus zu großen Diskussionen geführt und eine Spaltung des All-India National Congress zur Folge hatte, war 1911 zurückgenommen worden. Gleichzeitig war den Muslimen, die in der kurzzeitig bestehenden Provinz Ostbengalen die Mehrheit gestellt hatten, mit den Morley-Minto Reformen von 1909 die Schaffung von separaten Wahlkörperschaften zugestanden worden, was ihren Einfluss auf gesamtindischer Ebene gegenüber den anderen Volksgruppen des Landes gestärkt hatte. Zudem schuf die neue Verfassung von 1909 neue Möglichkeiten für Debatten im Imperial Legislative Council, auch wenn Mehrheitsentscheidungen weiterhin nicht möglich waren und der Executive Council der Legislative auch weiterhin nicht verantwortlich war. Gerade in diesem Punkt bestand in Indien ein großer Unterschied zur Situation in den Dominions. Dort wurden die Legislativen nicht nur von der männlichen und in Neuseeland sowie Australien auch der weiblichen Bevölkerung nach freiem und geheimem Wahlrecht gewählt. Eine Regierung konnte auch nur gebildet werden, wenn sie sich auf eine Mehrheit im Parlament verlassen konnte. Im Bereich der Wirtschaftspolitik waren die Dominions ebenfalls weit unabhängiger als Indien. Sie nutzen deshalb ihren Spielraum, um durch die Errichtung von Zollschranken den Import von Industriewaren zugunsten der im eigenen Land entstehenden Industriezweige einzuschränken. Die meisten Dominions entschieden sich dabei für eine Politik, mit welcher Waren aus Großbritannien gegenüber solchen aus anderen Staaten weiterhin bevorzugt wurden. In Indien waren solche Schritte nicht möglich, was immer wieder zum Vorwurf geführt hat, dass die dortige britische Herrschaft das Land wirtschaftlich schädige und die Entwicklung einer eigenen Industrie hemme. Angesichts der Tatsache, dass sowohl die britischen als auch die indischen Historiker mit ihrer Forschung häufig die Interessen ihres eigenen Landes zu schützen versuchten, ist es nicht immer einfach, zu einer fairen Wertung der gemachten Aussagen zu kommen. Der Schlüssel zur Beantwortung der Frage, weshalb die Industrialisierung Indiens nicht vorankam, liegt wahrscheinlich aber darin, dass das vorhandene Investitionskapital nicht primär dem industriellen Sektor zugute kam. Wie in Großbritannien, jedoch im Unterschied zu vielen Staaten auf dem europäischen Kontinent, aber auch in Japan unterblieb eine gezielte staatliche Förderung der industriellen Produktion. Andererseits fand das indische Investitionskapital im bestehenden System der landwirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisse auf Grund des gläubigerfreundlichen britischen Rechts im landwirtschaftlichen Sektor im Dienstleistungsbereich bessere Anlagemöglichkeiten mit höheren Renditen. Dies wirkte sich besonders für die Textil- sowie die Eisen- und Stahlindustrie negativ aus. Ein Beispiel dafür ist die Tatsache, dass Jimsetji Nusserwanji Tata, der bereits im 19. Jahrhundert versuchte, eine indische Schwerindustrie aufzubauen, sein Projekt erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die Tat umsetzen konnte. Eine stärkere politische Partizipation indischer Bildungsschichten hätte hier möglicherweise durchaus eine Entwicklung wie in Australien, Neuseeland, Kanada oder Japan in Gang setzen können.
Wie bereits mehrfach angedeutet, waren die Vereinigten Staaten von Amerika im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer wirtschaftlichen, zunehmend aber auch politischen Großmacht aufgestiegen. Zwar hatte sich die Expansion des Landes in dieser Zeit vornehmlich noch auf die Erschließung und Eingliederung der verbliebenen Landesteile auf dem nordamerikanischen Kontinent konzentriert, dies bedeutete jedoch nicht, dass das Land und viele seiner Exponenten vollständig auf eine weitere Expansion – auch über die Grenzen des amerikanischen Kontinentes hinaus – verzichten wollten. Gerade William H. Seward – der Außenminister der Präsidenten Lincoln und Johnson – war überzeugt, dass die USA in Zukunft ähnlich wie Großbritannien eines informellen Empires bedürften, um die Absatzbedürfnisse der stetig wachsenden eigenen Industrie und der landwirtschaftlichen Produktion befriedigen zu können. Zu einem wichtigen Ziel wurde nach einer Phase der Zurückhaltung in den Jahren zwischen 1870 und 1890 in diesem Zusammenhang die Sicherung des Handels im Pazifik (Hawaii, Japan, China) sowie mit den lateinamerikanischen Staaten. Dabei nutzten die amerikanischen Regierungen auch immer wieder Rebellionen gegen die Herrschaft speziell der spanischen Kolonialmacht in der Karibik und in Ostasien. Nach dem Erfolg im Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898 sicherten sich die USA die formelle Kontrolle über Guam, die Philippinen und Puerto Rico. Zudem richteten sie eine Art Protektorat über das offiziell unabhängige Kuba ein. In der Folge intensivierten die amerikanischen Regierungen – allen voran die Administration von Präsident Theodore Roosevelt – die Interventionen der USA in Mittelamerika und der Karibik (Interventionen in Haiti, der Dominikanischen Republik und Nicaragua). In Fernost drängten sie auf eine Politik der Open Door, um dem amerikanischen Außenhandel den Zugang zu den dortigen Märkten zu sichern, dies besonders in China. Trotz des diplomatischen Erfolges in der Vermittlung des Friedensvertrages von Portsmouth (New Hampshire) am Ende des Russisch-Japanischen Krieges gelang es den USA allerdings vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges nicht, ihre Position in Ostasien im gleichen Ausmaß auszubauen wie in der Karibik und in Mittelamerika.
Für die Entwicklung in Ostasien von zentraler Bedeutung war die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung in Japan. In der Regel ist davon im Hinblick auf die Geschichte des Ersten Weltkrieges selten die Rede, da der ostasiatische Raum von den meisten Historikerinnen und Historikern als Nebenschauplatz betrachtet wird. Es ist zwar durchaus richtig, dass weder Japan noch China oder irgendein anderes ostasiatisches Land während des Ersten Weltkrieges einen zentralen Beitrag im politischen und militärischen Ringen in Europa oder auf globaler Ebene leistete. Dennoch bildete der Erste Weltkrieg für die Geschichte Ostasiens und des Nordpazifiks eine wichtige Zäsur sowohl im politisch-militärischen wie im wirtschaftlichen Bereich. Besonders Japan profitierte davon, dass die europäischen Mächte sich nicht mehr in dem Ausmaß mit Ostasien und dem Nordpazifik beschäftigen wollten, wie sie dies seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts getan hatten. Inoue Kaoru, ein elder statesman, fasste die Chancen, die der Krieg für sein Land 1914 bot, in die folgenden Worte: »Die gegenwärtigen großen Unruhen in Europa sind ein Geschenk des Himmels für die weitere Entwicklung des japanischen Reiches. Japan muss sich unverzüglich wie ein Mann zusammenschließen und diese Vorsehung des Himmels nutzen« (Hartmann 1996, 119). Für die meisten führenden japanischen Politiker bestand die Chance, welche der Erste Weltkrieg bot, darin, die seit der erzwungenen Öffnung des Landes im Jahre 1853 betriebene Politik der Selbststärkung und des Kampfes gegen die Ungleichbehandlung auf internationaler Ebene erfolgreich abzuschließen und sich gleichzeitig in Ostasien und vielleicht bis in den Indischen Ozean und den Südpazifik eine regionale Führungsposition zu sichern. Gleichzeitig sollte damit auch die kurz vor dem Weltkrieg in Bedrängnis geratene interne Stellung der herrschenden sozialen Gruppen abgesichert werden. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts war es nämlich das Ziel der japanischen Regierungen gewesen, für das eigene Land wieder diejenige Position zurückzuerobern, welche ihm nach eigener Auffassung zustand. Dazu diente einerseits die Modernisierung der eigenen Streitkräfte nach europäischem Vorbild, andererseits aber auch die zumindest formelle Anpassung des politischen Systems an die damals bestimmenden Verfassungsstrukturen der europäischen Staaten. Für die Verantwortlichen war es dabei wichtig, so viel wie möglich an eigenen Traditionen zu bewahren, gleichzeitig aber all das zu übernehmen, was die Position des Landes auf internationaler Ebene stärkte. Im Bereich der Marine orientierte sich das Land daher an der britischen Royal Navy, im Bereich des Heeres am Deutschen Reich, der stärksten Landmacht der damaligen Zeit. In Fragen der Verfassung wurde schließlich ein Kompromiss zwischen dem britischen und deutschen Vorbild gewählt, der es gleichzeitig erlaubte, die Position des Kaisers und seiner Berater unangetastet zu lassen, gleichzeitig aber zumindest den Anschein einer Erweiterung der politischen Partizipation erweckte, indem ein aus zwei Kammern bestehendes Parlament geschaffen wurde. Die entsprechende Verfassung wurde am 11. Februar 1889 feierlich proklamiert. An der Spitze des Staates stand der als heilig und unverletzlich bezeichnete tenno, der alle souveränen Rechte des Staates in seiner Person vereinigte und auch Verordnungen mit Gesetzeskraft erlassen konnte. An seiner Seite stand ein Geheimer Staatsrat (sûmitsuin), der den tenno in der Auslegung der Verfassung, der Verkündung kaiserlicher Verordnungen, beim Abschluss internationaler Verträge sowie in Angelegenheiten des kaiserlichen Hauses beraten sollte. Daneben wurde ein Kabinett eingerichtet, welches die täglichen Geschäfte der Regierung führen sollte und allein dem tenno verantwortlich war. Das Parlament bestand aus einer Adels- und einer Volkskammer, wobei nur letztere gewählt wurde und dies auch nur nach einem System des Zensus, welcher das Wahlrecht zu Beginn auf ca. 1 % der männlichen japanischen Bevölkerung beschränkte. Neben diesen konstitutionellen Gremien existierte noch die nicht-konstitutionelle Institution der genro, der engsten und persönlich von ihm berufenen Berater des Kaisers, die einen großen Einfluss auf letzteren ausübten.
Auf ökonomischer Ebene wurde angesichts der fehlenden Investitionsbereitschaft privater Kapitalgeber hinsichtlich des Aufbaus moderner Industriebetriebe und der Einführung fortschrittlicher Produktionsmethoden der Staat aktiv. Im Zentrum stand dabei ähnlich wie in Europa zur gleichen Zeit die Schwerindustrie. Namentlich im Bereich der Rüstungsgüterproduktion engagierte sich der japanische Staat außerordentlich stark, erblickte die Regierung doch im Militär den entscheidenden Machtfaktor für die Verwirklichung zentraler Aufgaben in der Innen- und Außenpolitik. Der Staat versuchte jedoch auch durch seine wirtschaftlichen Aktivitäten auf dem zivilen Sektor Zeichen zu setzen und Private zu einer eigenständigen Investitionstätigkeit zu animieren. In den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts bemühten sich die japanischen Regierungen um eine Privatisierung ihrer Industriebetriebe. An dieser Privatisierungsaktion beteiligten sich einige führende Adelsfamilien wie Mitsubishi, Mitsui, Furukawa oder Kawasaki, die so die Grundlagen für ihre spätere Entwicklung zu zaibatsu (Finanzcliquen oder Großunternehmen) schufen. Ausgenommen blieb dabei allerdings der Bereich der Rüstungsgüterproduktion. Angesichts seiner politischen und wirtschaftlichen Anpassung an die in Europa und Nordamerika dominierenden Ansprüche an ein zivilisiertes Staatswesen, versuchten die japanischen Regierungen bereits seit 1871, eine Revision der nach der erzwungenen Öffnung des Landes von 1853 abgeschlossenen ungleichen Verträge zu erreichen. Vorerst blieben sie damit erfolglos. Erst unmittelbar vor dem Beginn des Chinesisch-Japanischen Krieges im Jahre 1894 schloss die Regierung nach Übernahme europäischer Normen im Bereich des Zivil- und Strafrechts mit Großbritannien ein Abkommen ab, welches die Abschaffung der Konsulargerichtsbarkeit und die teilweise Rückgabe der Zollhoheit vorsah. Bis 1899 konnten analoge Abkommen auch mit den übrigen europäischen Staaten und den USA abgeschlossen werden. Die volle Zollhoheit erlangte Japan allerdings erst wieder 1912.
Primäres außenpolitisches Ziel der japanischen Regierungen war in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts neben der Wiedererlangung der vollen Souveränität die Stärkung der eigenen Position in Ostasien und wo möglich im Nordpazifik. Angesichts der Tatsache, dass das Land ökonomisch nicht stark genug war, Korea und weitere Teile Asiens wirtschaftlich zu durchdringen und wie die USA eine open-door-policy zu verfolgen, versuchte die Regierung ihre Ziele vor allem durch militärische Stärke zu erreichen. Immer wieder sah sie sich dabei aber mit Widerstand – auch militärischer Art – von Seiten Chinas konfrontiert. Japan vermochte sich im Chinesisch-Japanischen Krieg von 1894/95 militärisch durchzusetzen. Im Vertrag von Shimonoseki vom 17. April 1895 musste China die Unabhängigkeit Koreas anerkennen und Japan die Insel Formosa, die Pescadores Inseln und die Halbinsel Liaodong abtreten. Auf die Übernahme des letzteren Gebietes musste Japan allerdings auf Druck Russlands, Frankreichs und des Deutschen Reiches verzichten. Der Bündnisvertrag mit Großbritannien im Jahre 1902, der erneute militärische Erfolg im Russisch-Japanischen Krieg von 1904/05 sowie Absprachen mit der amerikanischen Regierung (u.a. Taft-Katsura Memorandum von 1905) machten Japan zu einer zentralen Macht in Ostasien. Aus einem potentiellen Opfer imperialistischer Politik war ein eigenständiger Akteur in diesem Feld geworden.
Im Unterschied zu Japan gelang China eine solche Entwicklung weder am Ende des 19. noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Kaum jemand hatte dort damit gerechnet, dass es der Inselmacht Japan gelingen würde, sich gegenüber dem Reich der Mitte, welches traditionell die Vormachtstellung in Ostasien beanspruchte, durchzusetzen. Im Unterschied zu Japan hatte China in der frühen Neuzeit keine rigide Politik des Abschlusses vom Außenhandel verfolgt. Es war daher früher in den Fokus der Handelsinteressen der europäischen Mächte geraten. Dabei begann seit dem 18. Jahrhundert der von der britischen East India Company bewusst zur Verbesserung der eigenen Handelsbilanz betriebene Opiumhandel eine immer wichtigere Rolle zu spielen. 1840 kam es deswegen zum ersten Opiumkrieg, als die kaiserlich-chinesische Verwaltung versuchte, das im Reich bestehende Opiumverbot rigoros durchzusetzen. Für die britische Regierung ging es in diesem Konflikt jedoch nicht nur um die Handelsinteressen des eigenen Landes. Vielmehr wurde allgemein damit argumentiert, dass China ein Hort der Barbaren und eine orientalische Despotie sei. Eine Verbesserung dieser Situation könne nur durch eine allgemeine Öffnung für den internationalen Handel und die christliche Mission erreicht werden. Angesichts der Tatsache, dass die chinesische Regierung über keine moderne Flotte verfügte, musste sie rasch die Waffen strecken. Im Vertrag von Nanjing musste sie dem Abschluss einer Reihe von ungleichen Verträgen und der Abtretung der Insel Hong Kong an Großbritannien zustimmen. Im Gegensatz zu Japan versuchte die chinesische Regierung nicht, die eigene Position aktiv zu stärken. Sie leistete aber indirekt durch das Unterlaufen des Vertrages in einzelnen Punkten Widerstand, was 1856 von Großbritannien und Frankreich zum Anlass genommen wurde, mit einer neuerlichen Militärintervention weitere Konzessionen zu erzwingen. Durch interne Aufstände zusätzlich geschwächt, vermochte die kaiserliche Regierung sich nicht den Ansprüchen der westlichen Staaten, und Ende des 19. Jahrhunderts sogar Japans, zu widersetzen. Eine wichtige Rolle spielte dabei sicherlich auch die Tatsache, dass das Land darauf verzichtet hatte, selber eine moderne Flotte aufzubauen. Nach der Niederlage im Chinesisch-Japanischen Krieg von 1894/95 schienen die kaiserliche Regierung und die politisch bestimmende Kaiserwitwe Cixi orientierungslos, war mit der Niederlage in Korea doch die traditionelle Tributspolitik Chinas endgültig zusammengebrochen. Inner- und außerhalb des Hofes wurden in der Folge Möglichkeiten ausgelotet, die staatliche Organisation des Reiches und die Nutzung der vorhandenen Ressourcen zu reformieren. Einige Gelehrte trugen ihre Ideen direkt dem 22jährigen Guangxu Kaiser vor, und zwar ohne Konsultation der konservativen Hofbürokratie. Vorgesehen war der Aufbau erstens moderner Streitkräfte, zweitens einer eigenständigen Industrie, drittens eines staatlichen Bank- und eines modernen Postwesens sowie viertens eines Eisenbahnnetzes unter nationaler Kontrolle. Zudem sollten die Korruption bekämpft, die chinesische Landwirtschaft systematisch gefördert, technisch modernisiert und die Auslandchinesen für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes mobilisiert werden. Kaiser Guangxu erließ entsprechend zwischen Juni und September 1898 eine Reihe von Edikten, die als Reform der Hundert Tage bekannt wurden. Umgesetzt wurden die Anordnungen des Kaisers allerdings nicht, da seine politisch auch weiterhin bedeutsame Mutter, Cixi, zusammen mit der konservativen Hofbürokratie zum Gegenschlag ausholte und den Guangxu unter lebenslangen Hausarrest stellte. Sechs seiner Berater wurden hingerichtet, während anderen mit britischer Hilfe die Flucht ins Ausland gelang.
Die europäischen Großmächte nutzten die Niederlage Chinas von 1895 und die nachfolgende innenpolitische Instabilität aus und sicherten sich in einer Art scramble for concessions Stützpunkte in China. Den Anfang machte das Deutsche Reich mit seiner handstreichartigen Besetzung von Tsingtao im Jahre 1897. Russland sicherte sich Lüshun (Port Arthur) und Dailan an der Spitze der Liaodong-Halbinsel, Großbritannien Weihaiwei auf der Shandong-Halbinsel und die an Hong-Kong grenzenden New Territories, Frankreich Guangzhouwan in der Provinz Guangdong. Über den Erwerb von Stützpunkten hinaus beanspruchten die Großmächte zudem Interessengebiete, die nicht ohne ihre Zustimmung veräußert werden durften. Ziel war es den Erwerb von Bergbaurechten und Eisenbahnkonzessionen durch andere Mächte in diesen Gebieten zu verhindern. Zu einer kolonialen Aufteilung Chinas kam es allerdings nicht, dies teilweise auch auf Druck der USA, die sich den gleichberechtigten Zugang aller Mächte zum chinesischen Markt garantieren ließen. Vor diesem Hintergrund erwuchs in China die Boxerbewegung, die ursprünglich in der Provinz Shandong als Folge von Naturkatastrophen entstanden war. Ihre Anhänger erblickten in der Präsenz der Ausländer und besonders von Missionaren den eigentlichen Grund für ihre Misere und zogen daraus den Schluss, dass nur durch deren Entfernung der Frieden im Reich wiederhergestellt werden könne. Im Verlauf des folgenden Aufstandes wurden etwa 250 Ausländer und Tausende von chinesischen Christen getötet. Die Belagerung der in der Hauptstadt Beijing ansässigen Ausländer durch aufständische Boxer und reguläre kaiserliche Truppen führte schließlich zu einer offiziellen Kriegserklärung der europäischen Mächte und der USA an die Regierung Chinas und zur brutalen Niederschlagung des Aufstandes durch europäische Truppen im Jahre 1900. Als besonders rücksichtslos erwiesen sich dabei die unter dem Kommando von General Alfred Graf Waldersee stehenden deutschen Truppen. Für diese war klar, dass den Asiaten Respekt nur durch Gewalt und deren rücksichtslose Anwendung beigebracht werden konnte und dass es falsch sei, eine veraltete Form von Milde gegenüber der ›gelben Rasse‹ zu zeigen. Die chinesische Regierung sah sich schließlich gezwungen, das so genannte Boxerprotokoll zu unterzeichnen, welches die Zahlung einer großen Entschädigungssumme und die Bestrafung der am Aufstand beteiligten Beamten vorsah. Der chinesischen Regierung war es erneut nicht gelungen, sich den ausländischen Mächten zu widersetzen. 1911 kam es zu einer internen Revolution, die zum Sturz der Qing-Dynastie führte. China wurde Republik. Die staatlichen Institutionen, die erstmals offiziell nach dem Prinzip der Gewaltenteilung organisiert wurden, erwiesen sich allerdings nicht als dauerhaft, dies nicht zuletzt, weil sich die zwei dominierenden Gruppen im Land – die Anhänger des primär im Norden des Landes beheimateten Yuan Shi-Kai und des primär im Süden starken Sun Yat-Sen nicht darüber zu einigen vermochten, ob das Parlament oder der Präsident das politische System dominieren sollten. Deshalb löste Präsident Yuan Shi Kai im Januar 1914 das Parlament auf, entließ Militärgouverneure, die mit Sun Yat-Sens Ideen sympatisierten, verbot dessen Partei und erließ eine autoritäre Verfassung, die den Präsidenten von der Machtbeschränkung durch das Parlament unabhängig machte. Darin wurde ihm das Recht gewährt, das Parlament jederzeit aufzulösen und mit Notverordnungen zu regieren.