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2.2. Imperialismus und Mächterivalität – Die globalen Ursachen des Ersten Weltkrieges
ОглавлениеWie bereits in der Einleitung angesprochen, eröffnete die im Verlauf des 19. Jahrhunderts erfolgte Revolutionierung des Transport- und Kommunikationswesens den europäischen Mächten neue Möglichkeiten. Dies galt einerseits im Hinblick auf die Mobilisierung von Menschen und Ressourcen aus den von ihnen beherrschten außereuropäischen Gebieten, andererseits aber auch hinsichtlich der Ausnutzung von Abhängigkeiten, denen außereuropäische Mächte auf Grund der weltweiten wirtschaftlichen aber auch politischen Vernetzung ausgesetzt waren. Vor allem Großbritannien gelang es während des Krieges, seine vor dem Krieg starke Stellung im außereuropäischen Raum – sowohl innerhalb wie außerhalb seines formalen Empires – für sich zu nutzen. Gleichzeitig war es die Aufgabe der Royal Navy, durch die Errichtung einer Blockade dafür zu sorgen, dass der Zugriff der Mittelmächte auf ihre kolonialen Ressourcen sowie der Handel mit außereuropäischen Mächten unmöglich oder zumindest auf ein Minimum reduziert wurde. Dies zeigt deutlich, dass die nicht zuletzt auf der Revolutionierung des Transport- und Kommunikationswesens basierende Entstehung einer Weltgesellschaft im Verlauf des 19. Jahrhunderts für den Ersten Weltkrieg von zentraler Bedeutung war. Immanuel Geiss (1990, 17-26) ist daher zuzustimmen, wenn er die strukturellen Ursachen des Ersten Weltkriegs bis 1815, und teilweise darüber hinaus, zurückverfolgt. An dieser Stelle soll daher der Versuch gemacht werden, einen Überblick über die wichtigsten Aspekte dieser Entwicklung zu geben und diese mit den Aussagen zu verbinden, die im vorangegangenen Kapitel zu den Krieg führenden Mächten gemacht wurden.
Seit dem späten 15. Jahrhundert hatten die europäischen Mächte die Weltmeere beherrscht und damit auch den Welthandel, zumindest soweit er auf den Seeweg angewiesen war, bestimmt. Die bisher primär in geographischen Großräumen – Mittelmeerraum, Ostasien, Südasien – bestehenden Kommunikations- und Austauschprozesse begannen nun mehr und mehr einen globalen Charakter anzunehmen, auch wenn bis weit ins 19. Jahrhundert weite Teile der afrikanischen und asiatischen Landmassen davon nur zum Teil oder gar nicht berührt waren. Letzteres hing damit zusammen, dass die europäischen Mächte sich außerhalb ihres Kontinentes hauptsächlich darauf beschränkten, Stützpunkte für ihre Marine aufzubauen, mit welcher der Seehandel in globaler Dimension kontrolliert werden sollte. Die wichtigsten Seemächte waren dabei zuerst Portugal und Spanien, später Holland und Großbritannien, wo bei sich letzteres gegen Ende des 18. Jahrhunderts zur globalen Seemacht aufzuschwingen vermochte. Militärisch waren die europäischen Seemächte weitgehend konkurrenzlos, bezüglich des Handels mussten sie es jedoch zulassen, dass sich vor allem in der südostasiatischen Inselwelt auch lokale Unternehmen am lukrativen Seehandel beteiligten. Was die landgestützte Stellung der europäischen Mächte betraf, so war diese vor der Mitte des 19. Jahrhunderts keineswegs unangefochten. Eine Ausnahme bildete dabei einzig Russland, dem seit dem 16. Jahrhundert der Aufbau eines europäisch-asiatischen Großreiches in Gestalt einer traditionellen asiatischen Reichsbildung auf Kosten zentralasiatischer Mächte und Chinas gelang (Fisch 2002, 330). Daneben erwarb einzig Großbritannien in Indien ab Ende des 18. Jahrhunderts ein größeres zusammenhängendes Festlandgebiet. Dieser Prozess wurde jedoch keineswegs von britischen Behörden gesteuert, sondern war vielmehr die Folge lokaler Gegebenheiten und persönlicher Ambitionen von vor Ort ansässigen Angehörigen der britischen East India Company, den so genannten men-on-the-spot. Zu direkten und indirekten Auseinandersetzungen zwischen den europäischen Mächten kam es in dieser Zeit nicht nur innerhalb sondern auch immer wieder außerhalb Europas. Beispiele dafür sind die Auseinandersetzungen zwischen Spanien und Holland, respektive Spanien und England im 16. und 17. Jahrhundert, die vier holländisch-britischen Seekriege des 18. Jahrhunderts und besonders die Auseinandersetzungen während der so genannten Französischen Kriege von 1792 bis 1815. Dabei ist allerdings zu betonen, dass die Auseinandersetzungen europäischer Mächte außerhalb des eigenen Kontinentes in der Mehrzahl der Fälle auf bestehende Spannungen in Europa oder auf Konflikte zurückzuführen waren, deren Ursache in der sozialen Dynamik in Europa zu suchen war, so beispielsweise der Kriege der europäischen men-on-the-spot in Indien (vgl. 1).
Der Prozess der europäischen Durchdringung der Welt verlief aber keineswegs gradlinig. Die vor 1800 auf dem amerikanischen Kontinent bestehenden Siedlungskolonien gingen nämlich für die europäischen Mächte bis auf wenige Reste (Kanada, Britisch-Honduras, Guyana) am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts verloren. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts war primär gekennzeichnet durch Auseinandersetzungen in Europa selbst oder im Nahen Osten (Orientkrisen 1831-41). Erst die Expansion der europäischen Mächte in Afrika und teilweise auch in Asien in den Jahren nach 1870 führte dazu, dass Spannungen außerhalb Europas auf die Mächtekonstellationen in Europa eine größere Wirkung zu haben begannen. Für diese Entwicklung wurden und werden immer wieder Erklärungsmodelle (Imperialismustheorien) entwickelt, die bei aller Unterschiedlichkeit (vgl. Mommsen 1987) zeigen, dass die europäische Expansion sich nicht auf eine einzige Ursache zurückführen lässt. Eine wichtige Rolle spielte mit Sicherheit die im Verlauf des Prozesses der Industrialisierung zunehmende wirtschaftliche und militärische Überlegenheit der europäischen Mächte und die im Zeichen der Nationalstaatsbildung in Europa ab 1850 zunehmende Anzahl von an außereuropäischen Besitzungen oder Einflusssphären interessierten europäischen Staaten. Letzteres führte nicht nur zu neuen Reibungsflächen und Konfliktpunkten. Es hatte auch zur Folge, dass Staaten, die sich bisher mit einer informellen Einflusszone begnügt hatten, nun unter dem Druck der neuen Konkurrenz dazu übergingen, ihre Ansprüche klar zu definieren und die betreffenden Gebiete einer zumindest formell deklarierten Kontrolle zu unterwerfen, um mögliche Konkurrenten am Eindringen in die betreffenden Gebiete zu hindern. Besonders deutlich war dieser Prozess in Afrika und in etwas geringerem Ausmaß im Pazifik festzustellen, wo die beteiligten europäischen Mächte ihre Einflussgebiete klar absteckten. Höhepunkt dieser Entwicklung bildete die Berliner Westafrikakonferenz von 1884/85, die von afrikanischen Historikern noch heute – wohl fälschlicherweise – als Ursprung der unseligen Grenzziehungen auf dem schwarzen Kontinent betrachtet wird. Zwar wurden sehr wohl Linien über fast den gesamten Kontinent gezogen, primäres Ziel der europäischen Mächte und vor allem des deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck war es allerdings, das von men-on-the-spot wie Carl Peters oder Cecil Rhodes betriebene, ungezügelte Annektieren von afrikanischen Territorien in geordnete Bahnen zu lenken und damit zu verhindern, dass Spannungen zwischen men-on-the-spot unterschiedlicher europäischer Nationalitäten in Afrika negative Konsequenzen für das Verhältnis der europäischen Mächte untereinander haben würde.
Was 1884/85 mit der Berliner Westafrikakonferenz noch gelang, wurde im weiteren Verlauf des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer schwieriger. Dies lag einerseits daran, dass sich die Spannungen in Europa – und hier vor allem auf dem Balkan – in diesen Jahren angesichts der zunehmenden Schwäche des Osmanischen Reiches zu intensivieren begannen. 1879 sah sich Bismarck gezwungen, seine Politik der Allianz sowohl mit dem zaristischen Russland als auch der Habsburgermonarchie aufzugeben und sich auf ein Bündnis mit letzterer zu beschränken. Längerfristig führte dies zu einer Annäherung des Zarenreichs an das seit 1871 weitgehend isolierte Frankreich und zur langsamen Ausbildung von zwei Bündnisgruppen, die sich um die beiden Gegner des Deutsch-Französischen Krieges herauszubilden begannen. Auch wenn die neuen Bündniskonstellationen die Möglichkeit eines Krieges sicherlich erhöhten, lässt sich der Ausbruch des Krieges dadurch allein nicht begründen. Eine zentrale Rolle spielte mit Sicherheit auch die Tatsache, dass die höhere Produktivität der Landwirtschaft und die erhöhte Leistungsfähigkeit der Transportmittel – zu allererst der Eisenbahn – dazu führten, dass erstmals große Heere nicht mehr nur ohne große Kosten ausgerüstet, sondern auch ernährt und rasch von einem zum anderem Punkt verschoben werden konnten. Die neuen Millionenheere konnten aber nicht einfach innerhalb kurzer Zeit aus dem Boden gestampft werden, wie dies noch zu Beginn der Französischen Kriege von Sadi Carnot gemacht worden war. Vielmehr war eine minutiöse Planung, Ausbildung und logistische Vorbereitung notwendig. Dazu diente in den meisten europäischen Staaten die rigorosere Durchsetzung der bisher schon auf dem Papier bestehenden Allgemeinen Wehrpflicht sowie die Vorbereitung und Durchführung von großen staatlichen Rüstungsprogrammen. Damit sollte ein tatsächlich bestehender oder nur in den Köpfen führender Politiker oder Militärs existierender Vorsprung anderer Mächte ausgeglichen werden. Das führte dazu, dass die Gegenseite selbst ebenfalls solche Programme lancierte, um das in ihren Augen entstandene Ungleichgewicht wieder zu kompensieren. Einmal begonnen, ließ sich dieser Prozess nur noch schwer stoppen; zumindest solange nicht, als sich keine der beteiligten Mächte damit finanziell übernahm, was bis 1914 nicht der Fall war (Fisch 2002, 348-349). Von globaler Bedeutung wurde der in Europa begonnene Rüstungswettlauf durch die um die Jahrhundertwende einsetzende Flottenrüstung des Deutschen Reiches und die darauf erfolgenden Reaktionen Großbritanniens und der USA. Unter Bismarcks Nachfolger strebte das Deutsche Reich mehr und mehr danach, seine in Europa unbestritten starke Stellung auch auf die übrige Welt auszudehnen und sich einen »Platz an der Sonne« zu sichern. Einem Anflug von Selbstüberschätzung erliegend, verzichtete die deutsche Führung darauf, ihre Politik durch eine Ausweitung der bestehenden Bündnisse abzusichern. Die britische Regierung war natürlich keineswegs gewillt, ihre dominierende Stellung zur See kampflos aufzugeben. Sowohl auf Ebene der Technik (Einführung von Schiffen der Dreadnoughtklasse) als auch im Hinblick auf die Anzahl der zu bauenden Kriegsschiffe lancierte sie ein Flottenprogramm, mit welchem die deutsche Seite schon bald nicht mehr konkurrieren konnte. Gleichzeitig nutzte Großbritannien die Ressourcen seines Empires, indem die sich selbstverwaltenden Dominions sowie einheimische Fürsten in Indien und Südostasien erfolgreich um eine Beteiligung an den entstehenden Kosten des Flottenrüstungsprogramms gebeten wurden. Dabei blieb es jedoch nicht. Im Jahre 1902 schloss Großbritannien ein Bündnis mit Japan und 1904 beziehungsweise 1907 erreichte es einen kolonialen Ausgleich mit Frankreich und Russland. Damit konnte es seine Stellung außerhalb Europas konsolidieren und sich flottenmäßig mehr und mehr auf die Auseinandersetzung in Europa konzentrieren. Der Ausgleich mit Frankreich wurde durch Absprachen zwischen den beiden Generalstäben für den Fall eines Krieges auf dem europäischen Kontinent komplettiert. Dies war nicht zuletzt einer der Gründe, weshalb Großbritannien in den beiden Marokkokrisen von 1905/06 und 1911 Partei für Frankreich ergriff. Mit der sich im Zeichen des Imperialismus herausbildenden Weltgesellschaft war die Voraussetzung für Weltkriege geschaffen worden. Dabei handelte es sich nun aber nicht mehr nur um weltweit geführte Kriege zwischen europäischen Mächten, sondern um eine globale Vernetzung von regionalen Konflikten, an welchen außereuropäische Mächte – primär aus Asien und Amerika – beteiligt waren. Ausgangspunkt für diese Konflikte blieb aber Europa. Dies zeigt sich nicht zuletzt auch in den Planungen für zukünftige Kriege, auf die nun eingegangen werden soll.