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1. Bunte Steine

Die Zeit ist wie ein Bild von Mosaik, zu nah beschaut verwirrt es nur den Blick; willst du des Ganzen Art und Sinn verstehn, so mußt du‘s, Freund, aus rechter Ferne sehn.

Emanuel Geibel

Während ich an einem Märztag 2020 am späten Nachmittag anfing, den Hefeteig für unsere traditionelle Freitagspizza zu kneten, lief auf meinem Handy ein Livestream aus Wiesbaden. Eine Menge Journalisten wartete gespannt auf den hessischen Ministerpräsidenten. Und ich wartete auch, und das mit wachsender Unruhe. Meine beiden Schulkinder waren mittags schwer bepackt nach Hause gekommen. Ihre Schulranzen waren randvoll, und weil nicht alles hineingepasst hatte, hing an jedem Arm noch ein Beutel voller Hefte, Mappen und Zeichenblöcke. „Wir mussten alles mitnehmen“, erklärten sie mir, „falls wir am Montag nicht mehr wiederkommen dürfen.“ Ich hatte mit so etwas schon gerechnet. Und doch lief mir ein Schauer den Rücken hinunter, als ich sie so vor mir sah. Meine beiden kleinen Menschen. Voll bepackt und mit ernster Miene. Nicht ängstlich und doch gespannt. Der Wahnsinn namens Corona, den wir lange Zeit für ein Problem anderer Länder gehalten hatten, war mitten in unser aller Leben angekommen.

Ich hatte den Teig gerade zu einer Kugel geformt und in eine Schüssel gelegt, als sich auf meinem Handybildschirm etwas tat. Der Ministerpräsident und zwei seiner Minister betraten den Saal. Das leise Tuscheln wich dem Geräusch von Blitzlichtern. Dann erklärte der Ministerpräsident, was längst alle vermutet hatten: Die hessischen Schülerinnen und Schüler würden mindestens in den nächsten fünf Wochen nicht zur Schule gehen, und auch die Kindergartenkinder müssten zu Hause bleiben. Die Großeltern, fuhr er weiter aus, sollten erst einmal nicht die Betreuung der Kinder übernehmen. Sie zählten schließlich zu den Menschen, für die das neue Corona-Virus besonders gefährlich sei. Ich seufzte. Die Omas und der Opa sind eine wichtige Stütze unserer Familie. Dass unsere Kinder nicht nur die Schule, sondern auch sie lange nicht sehen sollten, stellte uns vor Herausforderungen.

Doch glücklicherweise bin ich geradezu zwanghaft hoffnungsvoll. Verzweifeln kam für mich bis jetzt noch nie infrage– zumindest nicht über kurze innere Drama-Queen-Momente hinaus. Ich habe einen starken Antrieb, aus jeder Situation das Beste zu machen. Manchmal stürzt mich dieser Antrieb in blinden Aktionismus, daher ersann ich beim Rühren der Tomatensoße einen neuen Alltagsplan. Mein Mann und ich würden in Schichten arbeiten und unsere Kinder betreuen. Die Schulkinder hätten ihre festen Zeiten, in denen sie ihre Schulaufgaben machen würden, und für das Kindergartenkind würde ich ganz viele Ausmalbilder und Bastelideen besorgen. Nachmittags würden wir uns dann endlich den Dingen widmen, die wir schon immer mal machen wollten: etwas über Japan lernen und Sushi selbst rollen. Pflanzen für den Garten auf der Fensterbank vorziehen. Und den großen Jungen ins Star-Trek-Universum einführen. Während ich Knoblauch zerhackte und Käse rieb, kritzelte ich meine Ideen auf ein Schmierblatt.

Als die Pizza im Ofen buk, tippte ich meinen fertigen Corona-Plan in den Computer, druckte ihn aus und legte ihn neben Chiliöl und Basilikum zur Pizza auf den Abendbrottisch. Meine Familie nahm die Pizza mit hoher, den Plan mit mäßiger Begeisterung auf.

Wie war ich doch glücklich unwissend an diesem Abend. Ich wusste noch nicht, dass mir dieser Plan innerhalb kürzester Zeit um die Ohren fliegen würde. Er weichte auf unter den Tränen frustrierter Kinder, die von den ständigen Wiederholungsaufgaben aus der Schule gelangweilt waren. Er wurde in Fetzen gerissen von wütenden kleinen Menschen, die sich in ihren Bedürfnissen nicht mehr gesehen fühlten. Er verschwamm vor meinen eigenen müden Augen. Kurzum– er bedurfte einer Überarbeitung. Wir mussten ihn gesundschrumpfen. Und mit ihm mussten dies meine eigenen Ansprüche tun.

Ohne dass ich es damals schon geahnt hätte, führte der Lockdown uns alle tief in die Thematik dieses Buchprojektes, über das ich schon so lange nachdachte.

Ein Brennglas für Stärken und Schwächen

Es lag mir auf dem Herz zu beschreiben, dass wir die Welt an unserem Küchentisch gesund lieben können, und dass unsere gewöhnlichen Alltagstätigkeiten einen Unterschied machen.

In der großen, weltweiten Krise wurde dieser Unterschied auf einmal greifbar. Denn für viele Wochen waren unsere Liebe, unser Einsatz und die Atmosphäre an unseren Tischen die einzigen Konstanten, die den Kindern blieben. Mehr denn je kam es darauf an, dass wir verlässlich bei ihnen waren. Dass wir ihnen einen Rahmen schafften, in dem sie wachsen und lernen konnten, und ihnen Halt gaben. Mehr denn je waren es die kleinen Dinge, die auf einmal zählten: Wir kommen an unserem Tisch zusammen und essen gemeinsam. Wir hören zu und nehmen einander ernst. Liebevoll begleiten wir die Gefühle unserer Kinder– die manchmal so heftig sind. Mehr denn je traten unsere Stärken im Familienleben zutage.

Doch auch der andere Teil, über den ich schreiben wollte, wurde in diesen herausfordernden Wochen greifbarer denn je: Nicht nur unsere Stärken traten besonders hervor, sondern auch die Dinge, die wir nicht so gut können, und mit ihnen die uns allen innewohnende Überforderung. Die Tatsache, dass unsere Herzensanliegen, unsere Prinzipien manchmal schier unmöglich umsetzbar sind.

Wenn wir ehrlich sind, braucht es doch oft genug nicht einmal eine weltweite Krise, damit wir an unseren eigenen ambitionierten Vorstellungen von unserer Rolle als Eltern kläglich scheitern. Wir möchten unseren Kindern wertschätzend begegnen– und wenn es anstrengend wird, brüllen wir sie doch manchmal an. Wir möchten mit ihnen zusammen und auf Augenhöhe Lösungen finden, wenn es Probleme gibt. Und manchmal verstecken wir stattdessen wütend ihre Handys im Schrank und erteilen Internetverbot. Wir wissen, dass Schläge nicht nur verboten sind, sondern auch extrem schmerzhaft für Körper und Seele, ein großer Vertrauensbruch und eine Demütigung, die ihre Spuren hinterlässt, und wollen unsere Kinder gewaltfrei ins Leben begleiten. Und doch– wenn wir ganz ehrlich sind, hatten viele von uns schon einmal eine Situation in ihrem Elternleben, in der die eigene Überforderung so groß war, dass es beinah passiert wäre– oder tatsächlich geschehen ist. Momente wie diese gehören zu den dunkelsten Stunden in unserem Dasein als Mütter oder Väter. Wir schieben sie weit weg und trauen uns kaum, darüber zu reden. Wir schämen uns, wenn wir entdecken, dass wir neben ganz viel Liebe auch unendlich viel Wut in uns tragen. Vielleicht gepaart mit Impulsen, wirklich grässliche Dinge zu sagen oder zu tun.

Doch auch von dieser Wahrheit möchte ich in diesem Buch erzählen. Es ist wichtig, dass wir diese dunklen Seiten des Elternseins akzeptieren und offen damit umgehen. Denn wenn wir nicht verstehen, dass Wut, Trauer, Überforderung, Scham und gewalttätige Impulse zu uns gehören und Teil unseres Seelenmosaiks sind, sind wir ihnen hilfloser ausgeliefert, als wenn wir uns mit ihnen auseinandersetzen. Deshalb werde ich gleich zu Beginn eine kleine Geschichte darüber erzählen, wie Gewalt sich vererbt und in uns weiterlebt, auch wenn wir sie nicht haben wollen.

Druck von allen Seiten

Eltern werden heute von zwei Seiten in die Mangel genommen. Autoritäre Kräfte werfen ihnen vor, zu weich zu sein und mit ihrer Art des Umgangs mit Kindern eine verwöhnte, verweichlichte, vielleicht sogar lebensuntaugliche Generation zu erziehen. Doch die Gegenbewegung– Befürworter eines bedürfnisorientierten Familienlebens, die sich für Bindung und Beziehung auf Augenhöhe einsetzen, fallen manchmal von der anderen Seite vom Pferd. Schaut man sich manches Profil in den sozialen Medien an, kommt man sich schnell ungenügend vor. Legt man die dort präsentierten Idealbilder an sein eigenes Familienleben an, kann man eigentlich nur verlieren.

Ich hege große Sympathie für alle, die sich für die Bedürfnisse von Kindern einsetzen und sich für einen bedürfnisorientierten Umgang mit Kindern starkmachen. Ich fühle mich ihnen zugehörig. Und gleichzeitig wünschte ich, meine Mitstreiterinnen und Mitstreiter wären ehrlicher. Ehrlicher damit, dass theoretisches Ideal und praktische Umsetzung oft weiter auseinandergehen als man es gern hätte. Und ehrlicher damit, dass sichere Bindung und eine gute Beziehung zwischen Eltern und Kindern viel buntere Gesichter haben als man meint. Ich werde daher versuchen, in diesem Buch ehrlich zu sein.

Zuwendung als lebendige Nachfolge

In diesem Buch geht es um die Kraft unvollkommener, lebendiger Zuwendung. Es geht um einen Umgang mit Kindern, der diese stark und liebesfähig macht. Ein Umgang, der Empathie fördert und gleichzeitig nachsichtig gegenüber Fehlern ist; denen der Kinder und vor allem den eigenen. Es geht um Zuwendung, die die Welt verändern kann.

Das ist jedoch noch nicht alles, denn ich glaube, dass diese unperfekte Zuwendung lebendige Nachfolge ist. Jesus kam auf die Welt, um diese zu verändern. Er kam, um unseren Blick auf den Nächsten und uns selbst klarer werden zu lassen. Und er kam, um diese Welt gesund zu lieben. Wir können ihm dabei dienen, indem wir unsere Kinder liebevoll ins Leben begleiten. Wir dürfen ihm hinterherstolpern, indem wir unsere alltäglichen Kleinigkeiten tun. Die Dinge, die uns oft so wenig besonders erscheinen. Bei ihm sind sie es. Die Gute-Nacht-Geschichten und gemeinsamen Mahlzeiten, die Pizza am Freitag (oder Mittwoch oder Samstag), das Pflaster auf dem aufgeschlagenen Knie, die kühle Hand auf der vom Fieber heißen Stirn und das warme Elternbett nach dem nächtlichen Albtraum. Der Familienausflug ins Grüne und der Duft von Weihnachtsplätzchen. Der Wäscheberg, der niemals schrumpft. All das sind bunte Steine, die wir, wie Reinhard Mey es in seinem wunderschönen Lied „Beim Blättern in den Bildern meiner Kindheit“ besingt, in das Seelenmosaik unserer Kinder legen. Und so wird manches, dem wir kaum Beachtung schenken prägen für ein ganzes Leben, weil es „... seinen bunten Stein als ein Andenken ins Mosaik unserer Seele trägt.“ Bei Jesus hat das alles seinen Wert. Es ist Teil seines Plans und ein Ausdruck seiner Liebe.

Doch bei ihm dürfen wir auch ehrlich werden. Er sieht unsere Fehler, unsere Verzweiflung. Unser Bemühen und unser Scheitern. Er kennt deine Wut und meine Ungeduld, hat dich weinend auf den kalten Badfliesen sitzen sehen und meinen viel zu lauten Schrei gehört. Er verurteilt uns dafür nicht, sondern spricht uns frei. Mit ihm können wir uns zu den Eltern entwickeln, die wir gern wären.

Und deshalb möchte ich dich ermutigen, gemeinsam mit Jesus und mir die Welt ein bisschen gesünder zu lieben.

Ein Buch für dich und mich

Ich habe das Buch für dich geschrieben, die du so gern zugewandt und wertschätzend bist– und manchmal ganz schön kratzbürstig und ungerecht.

Ich habe es für dich geschrieben, weil ich weiß, dass du letztens geweint hast, als du gemerkt hast, dass du dein Kind gerade vor lauter Wut schlagen wolltest.

Ich habe es für dich geschrieben, die du seit Jahren zu Hause sitzt und glaubst, dein Beitrag sei nichts wert, weil du „nur“ Familienarbeit machst– oder die du arbeitest und dafür verurteilt wirst.

Ich habe es für dich geschrieben, die du dir so viele Gedanken darüber machst, wie du dein Kind gut begleiten kannst und manchmal den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr siehst.

Ich habe es für dich geschrieben, die du auf der Suche nach Rat oft im Internet suchst und dich danach einfach nur ungenügend fühlst, zwischen all den perfekten Supereltern, die es scheinbar so viel besser können als du.

Ich habe es für dich geschrieben, die du oft glaubst, alles falsch zu machen.

Und natürlich habe ich es für dich geschrieben, wenn du nicht die bist, die das alles so empfindet, sondern der.

Und ich habe dieses Buch für mich geschrieben– denn ich bin eine von euch.

Unperfekt, aber echt

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