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Оглавление2. Oma Lisbeth– Liebe, die die Welt verändert
Dass es sich lohnt, seine Kinder liebevoll zu betrachten und wertschätzend ins Leben zu begleiten, dafür gibt es mittlerweile viele Belege. Der Sozialwissenschafter Lloyd de Mause schrieb einmal:
„Die Geschichte der Kindheit ist ein Albtraum, aus dem wir gerade erst erwachen.“ 1
Damit beschrieb er die Tatsache, dass es Kindern historisch gesehen, je weiter wir in der Geschichte zurückgehen, immer schlechter ging.
Umgekehrt bedeutet das, dass es Kindern von Generation zu Generation ein Stück besser geht. Diese Entwicklung verändert die Welt. Wir wissen heute, dass sich Gewaltbereitschaft auf Gewalterfahrungen gründet. Und zwar besonders auf die, die Menschen in ihrer Kindheit gemacht haben. So ist es nicht verwunderlich, dass beispielsweise die Gewaltbereitschaft von Jugendlichen stetig abnimmt. Der Kriminologe Christian Pfeiffer sieht hier einen direkten Zusammenhang zum Wandel in der Erziehung.2 Kinder müssen heute in ihren Familien weniger Gewalterfahrungen machen und erfahren mehr Zuwendung. Diese ist ein Geschenk– für die Kinder, aber auch für uns als gesamte Gesellschaft.
Was Oma nie vergessen konnte
Meine Oma Lisbeth wurde 1911 geboren. Ihre Mutter starb nur wenige Jahre später bei der Geburt ihrer jüngsten Schwester, und auch ihr Vater konnte sie nicht ins Erwachsenenleben begleiten. Sie war ein Waisenkind, und wie ihre fünf anderen Geschwister unter der Obhut des ältesten Bruders, bis sie alt genug war, sich eine Stellung zu suchen und ihr eigenes Leben zu beginnen.
In den letzten Jahren dieses Lebens litt sie unter Demenz. Sie vergaß viel von dem, was ihre zweite Lebenshälfte ausgemacht hatte. Sie vergaß die Namen ihrer Nachbarn. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wie wir Enkel hießen. Irgendwann wusste sie nicht einmal mehr, dass sie überhaupt Enkelkinder hatte. Stattdessen suchte sie an manchem Abend verzweifelt nach ihren eigenen kleinen Jungs, die ihrer Wahrnehmung nach doch schon längst hätten nach Hause kommen müssen. Sie hatte vergessen, dass ihr Mann schon vor Jahren gestorben war, und auch die vielen Geschichten, die sie früher zu erzählen wusste, kannte sie nicht mehr. Nur eine verfolgte sie bis an ihr Lebensende. Sie erzählte sie mir immer wieder. Fast jeden Mittag, wenn ich sie in ihrem Haus, in dem sie trotz zunehmender Verwirrtheit blieb, besuchte und darauf achtete, dass sie ihr Mittagessen nicht vergaß, erinnerte sie sich an dieselbe Szene aus ihrer Kindheit:
Ihr Vater, ein Bauer, dessen Leben aus harter Arbeit und viel Sorge um seine große Kinderschar bestand, lebte damals noch. Als sie eines Abends zu Tisch saßen, kam ein Mann aus der Nachbarschaft vorbei. Der Vater bat ihn dazu und lud ihn ein, einen Teller mitzuessen. Doch der Gast lehnte dankend ab. Der Vater bedachte seine Kinder vorsichtshalber mit strengen Blicken, denn der Nachbar hatte in der Vergangenheit schon oft Anlass für unerwünschte, kindliche Lachkrämpfe gegeben. Irgendetwas an ihm muss ziemlich schrullig gewesen sein. Eine ganz schön große Herausforderung für eine so große Schar kleiner Menschen. Doch vielleicht wäre es gut gegangen, vielleicht hätten die Kinder tatsächlich das an den Tag gelegt, was damals als gutes Benehmen galt, hätte der Nachbar an diesem Abend nicht in seiner Schrulligkeit eins draufgesetzt. Denn nachdem er zehn Minuten über dies und das mit dem Vater geredet hatte, sah er über den gedeckten Tisch und rief offensichtlich total erstaunt aus: „Oh, ihr esst gerade? Kann ich dann einen Teller mitessen?“
Das war zu viel für die sieben kleinen Menschen, die wahrscheinlich schon minutenlang um Contenance gekämpft hatten. Das erste Kind versuchte noch mühsam, sein Lachen zu unterdrücken, doch dann stimmten die anderen ein, und schon konnte sich keins der sieben Kinder mehr halten. Da kam jedes Machtwort zu spät. Peinlich berührt schmiss mein Urgroßvater sie aus dem Raum. Er rief sie erst wieder zurück, als der Besucher gegangen war. Was die Kinder dann über sich ergehen lassen mussten, würden wir heute als schwere Kindesmisshandlung bezeichnen. Doch damals war es ein normaler, akzeptierter und sogar gewünschter Teil der Erziehung. Denn wer die Rute schonte, so hatte es mein Urgroßvater gelernt und verinnerlicht, der hasste seine Kinder.3
Ich erzähle diese Geschichte nicht nur, weil sie meine Oma zeit ihres Lebens nie losgelassen hat. Ich erzähle sie auch, weil die Kindheit meiner Oma bis in mein Leben und das meiner Kinder fortwirkt. Genau wie die Kindheit deiner Großeltern in deinem Leben eine Rolle spielt. Kindheit ist nichts, was ein Mensch auszieht wie die alte Flickenhose, aus der er irgendwann rausgewachsen ist. Was wir in jungen Jahren erlebt haben, begleitet uns auch weiter. Besonders, wenn wir selbst Eltern werden, kommt vieles wieder zum Vorschein. Wir erinnern uns auf einmal daran, was uns Geborgenheit und Wärme gegeben hat. Wir greifen Rituale wieder auf, die uns in unserer Kindheit wichtig waren. Andere schmeißen wir über Bord.
Kindheit ist nichts, was ein Mensch auszieht wie die alte Flickenhose, aus der er irgendwann rausgewachsen ist.
Alte Muster prägen sich ein
Wir erinnern uns aber auch an Dinge, die weniger schön waren und die wir auf jeden Fall anders machen wollen. Nicht immer gelingt uns das. Denn diese alten Muster sind stärker und prägender als wir glauben. Wenn die natürliche Reaktion von Erwachsenen bei Konflikten mit uns Gewalt war, ist diese Erfahrung in uns Menschen abgespeichert. Kinder, deren Eltern aus Wut und Überforderung Ohrfeigen verteilt haben, tragen diese Reaktion wie einen Reflex in sich. Oft sind sie, sobald sie selbst Eltern sind, sehr verzweifelt darüber, wenn sie zum ersten Mal den Impuls verspüren, ihre Kinder zu schlagen. Dazu kommt, dass es eine enorme Kraftanstrengung bedeutet, dem nicht nachzugeben. Oft entlädt sich diese gewaltige Energie dann anders: durch Brüllen, Beleidigungen, Aggressionen gegen Dinge– oder sich selbst.
Der lange Weg zu mehr Liebe
Doch wie kommt es dann, dass wir heute trotzdem in der Masse sehr viel liebevollere Eltern sind als noch ein paar Generationen vorher? Das liegt zum einen an Gesetzen, die Kindern heute ein gewaltfreies Aufwachsen sichern sollen. Sicher hat auch die 68er-Bewegung ihren Teil dazu beigetragen, die allgemeinen Ansichten über Erziehung zu hinterfragen. Diese Nachkriegskinder, von denen selbst viele den Kochlöffel oder den Teppichklopfer als normalen Teil der Erziehung kannten, rüttelten die pädagogische Landschaft in Deutschland ordentlich durch. Dass dies aber tatsächlich funktioniert hat, liegt auch noch an etwas anderem: Nämlich daran, dass sich schon lange vorher viele Eltern auf den Weg machten, um Kindheit zu verändern. Manche gingen nur kleine Tippelschritte. Andere taten riesige Sprünge.
Meine Oma erlebte zwei Weltkriege. Den ersten als Kind. Und den zweiten als junge Mutter– allein mit ihren drei Söhnen, während ihr Mann im Krieg war. Die Erziehungsansichten der 1930er- und 1940er-Jahre unterschieden sich wenig von denen, die sie selbst erlebt hatte, waren aber zusätzlich von der Ideologie des Nationalsozialismus eingefärbt. Es wäre meiner Oma ein Leichtes gewesen, auch ihre Söhne so zu erziehen, wie sie es erlebt hatte. Und doch machte sie sich in kleinen Schritten auf den Weg. Das Kind, das selbst wenig Geborgenheit und Wärme erfahren hatte, entschied sich, ihren Söhnen ein Zuhause zu schaffen, in dem warmer Brei gegessen und Lieder gesungen wurden. Inmitten des Wahnsinns ihrer Zeit legte sie kleine bunte Steinchen in das Seelenmosaik ihrer Jungs, wenn sie diese entgegen der damaligen Empfehlungen in den Schlaf sang, in all der Hungersnot für meinen Vater– den Kleinsten und Dünnsten ihrer Kinder– eine Extraportion Haferbrei aufhob oder sich später, als er als Erster in der Familie eine höhere Schule besuchte, bis spät in der Nacht zu ihm setzte, wenn er lernen musste.
Ich möchte meine Großmutter nicht glorifizieren. Sie war keine Heilige, genauso wenig wie ich oder meine Eltern. Sie war ein Kind ihrer Zeit. Eine Frau, die in der größten Zerbrochenheit lebte, die unser Land je gesehen hat. Eine Frau, die einen schweren Rucksack mit ins Leben trug. Und ganz sicher eine Frau, die bei der Erziehung ihrer Jungs Fehler machte und zu den bunten Steinchen einige pechschwarze legte. Aber sie ist ein gutes Beispiel dafür, dass jede Generation aufs Neue bewusst entscheiden kann, ein kleines Stückchen über das hinauszugehen, was sie selbst gekannt und erlebt hatte.
Dunkle Steine im Seelenmosaik
Irgendwann sind wir dann dort angekommen, wo wir heute stehen. Im Gepäck haben wir all die Momente, die unsere Vorfahren für uns mit Liebe gefüllt haben– und natürlich auch die anderen. Ihre dunklen Stunden haben ebenfalls ihre Spuren in unserem Leben hinterlassen. Sie haben die Atmosphäre in unseren Herkunftsfamilien genauso geprägt wie die schönen Erinnerungen. Es gibt Stellen in unserer Biografie, in denen wir die Zerbrochenheit unserer Eltern gespürt haben und in denen ihre Narben zu unseren wurden. Bei dem einen war das mehr, bei dem anderen weniger ausgeprägt der Fall. Manches verstehen wir heute besser, weil unsere Eltern es uns erklären konnten. Doch vieles lief auf tieferen Ebenen ab und ist nur schwer zu greifen. Einiges erscheint uns irgendwann plötzlich in einem neuen Licht, anderes bleibt für immer dunkel und unverständlich. Und manchmal ist man überrascht, welche Dinge sich übertragen– im Guten wie im Schlechten. So habe ich mich bei den Planungen für dieses Buch daran erinnert, dass das Thema Lachanfälle am Esstisch in meiner Kindheit ziemlich viel Konfliktpotenzial in sich trug. Und um ehrlich zu sein, finde ich meine Kinder, wenn sie sich beim Abendessen vor Lachen nicht mehr einkriegen, auch nicht immer nur süß.
Wir können die dunklen Steine nicht aus unserem Seelenmosaik entfernen. Sie sind da, genau wie die bunten. Und leider können wir wohl auch nicht ganz verhindern, dass wir selbst dunkle Steine an unsere Kinder weitergeben, auch wenn wir uns das alle noch so sehr wünschen.
Ich kenne sie, diese Momente, in denen man am liebsten die Zeit zurückdrehen würde. Diese Augenblicke, in denen man alles dafür geben würde, die Uhr nur um ein paar Sekunden zu verstellen, damit wir etwas ungeschehen machen könnten. Das bitterböse Wort. Den Schrei, der viel zu laut und viel zu aggressiv war und dafür gesorgt hat, dass unser Kind nun weinend vor uns steht. Den zornigen und viel zu festen Griff unserer Hand, der mit Sicherheit wehgetan hat. Oder vielleicht doch die Ohrfeige? Wenn Eltern zu mir in die Praxis kommen und von solchen Erfahrungen erzählen, sind sie meistens verzweifelt. Und natürlich schämen sie sich in Grund und Boden.
Gewalt lebt weiter– besonders im Affekt
Die Zahl der Eltern, die psychische oder körperliche Gewalt anwendet, weil sie es für eine angebrachte Form der Erziehung hält, ist in Deutschland zwischen 2000 und 2016 deutlich gesunken, die Zustimmung zu Gewaltverzicht in der Erziehung dementsprechend gestiegen. Dies ist erst einmal eine gute Nachricht. Doch gleichzeitig zeigen neuere Studien, dass die Einstellungen in der gesamten Bevölkerung hier in den letzten Jahren stagnieren. Dazu kommt, dass es noch immer nicht genügend Aufklärung darüber gibt, was körperliche Gewalt eigentlich ist. So hielten es auch 2020 noch knapp die Hälfte aller Befragten in Deutschland für angebracht, Kindern „einen Klaps auf den Hintern“ zu geben.4 Dass auch dieser jedoch unter körperliche Gewalt fällt– und darüber hinaus für Kinder extrem demütigend und psychisch belastend ist, ist noch nicht in allen Köpfen angekommen. Hier braucht es weiterhin viel Aufklärung.
Doch auch diejenigen Eltern, die über die negativen Folgen von Gewalt in der Erziehung wissen und sie ablehnen, sind nicht immer davor gefeit, im Affekt gewaltvoll zu reagieren. Die meisten Eltern bereuen es in derselben Minute, in der sie es getan haben. Es nagt an ihnen und an ihren Kindern. Und sie zweifeln an sich selbst.
Ungeschehen machen kann ich solche Momente nicht. Doch vielleicht hat der kleine Blick in die Erziehungsgeschichte dir geholfen, ein bisschen besser zu verstehen, warum wir manchmal so anders fühlen und reagieren, als wir gern würden.
Wichtig ist, hier nicht stehen bleiben zu müssen. Wir sind keine hilflosen Opfer unserer eigenen Erfahrungen! Wenn wir vorgeben, solche zu sein, treten wir den Weg mit Füßen, den schon die Generationen vor uns gegangen sind. Unser Ideal– einen friedvollen, liebenden und wertschätzenden Umgang mit unseren Kindern zu leben– ist richtig. Wir dürfen uns nicht von den Momenten einschüchtern lassen, in denen wir das nicht so gut hinbekommen. Wenn uns eine Situation mit unseren Kindern entglitten ist, tut das weh. Den Kindern allen voran, aber auch uns, die wir uns doch so gern anders verhalten würden. Wie tief und nachhaltig diese Wunde wird, haben wir aber immer noch in der Hand. Denn wir können die Verantwortung übernehmen für das, was schiefgelaufen ist. Dazu gehört, um Vergebung zu bitten und dem Kind jegliches Schuldgefühl zu nehmen. Eine Erfahrung aus meiner Arbeit als Familienberaterin, aber vor allem auch als Mutter ist, dass auch aus dunklen Momenten sehr viel Nähe entstehen kann– wenn wir dies zulassen.
Unser Ideal– einen friedvollen, liebenden und wertschätzenden Umgang mit unseren Kindern zu leben– ist richtig.
Verantwortung für das eigene Handeln übernehmen
Nach einem Vortrag, den ich über Gewalt gegen Kinder in der Nachkriegszeit hielt, kam einmal eine Frau auf mich zu. Sie habe all das selbst erfahren, erzählte sie mir. Ihre Mutter, eine Kriegswitwe, hatte sie und ihre drei Geschwister häufig geschlagen, im Keller eingeschlossen oder allein ohne Essen ins Bett geschickt. Als die Frau selbst Mutter wurde, ging sie mit dem festen Vorsatz los, alles anders zu machen, und sie erzog ihre Kinder viel liebevoller– aber oft verlor sie dann doch wegen vermeintlichen Kleinigkeiten die Nerven. Ihre eigene Mutter registrierte das. Und eines Tages suchte sie das Gespräch mit ihrer Tochter. Sie erklärte ihr, dass sie heute weiß, dass ihr Verhalten ihren Kindern gegenüber falsch war. Damals jedoch, da hätte sie es für richtig gehalten– weil sie es nicht besser gewusst habe. Sie übernahm die Verantwortung für ihre Taten und nahm ihrer Tochter die Last der Schuldgefühle von den Schultern. Meine Teilnehmerin konnte nach diesem Gespräch Frieden finden. Die Nervosität, die sie im Umgang mit ihren eigenen Kindern empfand, wurde kleiner und ihr Verhältnis zu ihrer Mutter enger.
Wenn selbst nach so vielen Jahren noch Vergebung und Veränderung möglich ist, wie viel besser können wir die dunklen Momente dann einbetten, wenn wir sofort zu unseren Fehlern stehen und die Verantwortung übernehmen?
Diese Verantwortung zu übernehmen bedeutet zuerst, sie sofort zu übernehmen, und sich diesem Moment zu stellen. Die schon angesprochene Entschuldigung ist der erste Schritt. Unsere Kinder mit ihrem Schmerz über unser Tun nicht allein zu lassen, gehört ebenfalls dazu. Denn dieses Alleinsein mit dem, was einem widerfahren ist, seien es böse Worte, ungerechtfertigte Strafen oder gar körperliche Gewalt, verstärkt den Schmerz. Doch die Verantwortungsübernahme geht noch einen Schritt weiter: Denn wir alle wissen, dass Entschuldigungen für schwieriges Verhalten oft ihren Wert verlieren, wenn sich diese Handlung immer und immer wieder wiederholt. Als erwachsene Menschen tragen wir auch die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass Veränderung stattfinden kann. Bei nicht wenigen Familien, mit denen ich arbeite, reicht es, dass sich die Eltern darüber bewusst werden, was in ihnen abläuft. Wenn sie zusätzlich noch an ein paar Stellschrauben in ihrem Alltag drehen, um Situationen der Überforderung zu vermeiden, fällt ihnen der Ausstieg aus problematischen Mustern leicht.
Manche alten Muster haben sich aber tief in unsere Seele eingegraben, und manchmal braucht es mehr als nur den guten Vorsatz, etwas nie wieder zu tun. Oft haben Wut und gewalttätige Impulse uns zu sehr im Griff. Und an solchen Stellen heißt Verantwortung übernehmen, sich Hilfe zu suchen. Die gute Nachricht ist: Es war wohl zu keiner Zeit in der Geschichte von Eltern und Kindern einfacher, diese Hilfe zu bekommen. Wir haben heute einen niedrigschwelligen Zugang zu Beraterinnen und Beratern, Seelsorge, Therapien oder Selbsthilfegruppen. Im Weg stehen wir uns dabei oft eher selbst. Zuzugeben, dass man etwas nicht allein schafft, dass man Schwächen hat und Unterstützung benötigt, ist nicht leicht. Nicht selten schämen wir uns darüber hinaus dafür, dass wir im Umgang mit unseren Kindern an unsere Grenzen kommen und Situationen eskalieren.
Aus der Spirale von Schuld und Scham aussteigen
Doch Scham ist vielleicht das giftigste Gefühl überhaupt. Denn sie ist nicht nur oft die Folge unserer Wut und unserer gewalttätigen Impulse, sie ist nicht selten der Grund, warum es uns immer wieder passiert. Die schwedische Trainerin für gewaltfreie Kommunikation, Liv Larsson, schreibt dazu:
„Wenn wir untersuchen würden, in welchem Ausmaß Gewalt zwischen Menschen mit Ärger beginnt, wären die meisten Menschen über das Ergebnis erstaunt. Sie würden nämlich entdecken, dass Wut trotz ihrer innewohnenden Explosivität und entgegen aller Vermutungen gar nicht der Gefühlszustand ist, der am häufigsten zu Gewalt führt. […] Wir wissen nicht, wie wir die Scham und die Demütigung aushalten sollen, sodass sogar Gewalt zur Option wird.“5
Wir schämen uns, wenn wir im Umgang mit unseren Kindern eine Grenze überschritten haben. Das unterscheidet uns von vielen Generationen vor uns, die, wie mein Urgroßvater, mit dem Gedanken lebten, dass man die Rute nicht schonen dürfe. Das könnte eigentlich ein gutes Zeichen sein, hätten wir zu Scham nicht insgesamt ein so schwieriges Verhältnis. Menschen empfinden Scham, wenn sie das Gefühl haben, etwas in ihrem Umfeld Inakzeptables getan zu haben. Genau wie Wut ist Scham eigentlich eine nützliche Reaktion unseres Körpers, zeigt sie uns doch, dass wir dabei sind, die Standards unserer sozialen Gruppe zu verletzen. Das wäre menschheitsgeschichtlich lange Zeit sehr gefährlich gewesen, denn ein Ausschluss aus der sozialen Gruppe hätte zu anderen Zeiten unseren sicheren Tod bedeutet. Kein Wunder, dass Scham zu so heftigen Reaktionen in uns führen kann– und unser gewalttätiges Potenzial somit paradoxerweise noch verstärkt.
Heute ist Scham oft ein Zeichen dafür, dass wir nicht nach unserem eigenen inneren Kompass leben oder nach dem der Gruppe, zu der wir gern gehören würden– meistens beides. Was die Scham in uns auslöst, bleibt jedoch gleich: Sie sorgt dafür, dass wir unsere dunklen Seiten nicht offenlegen und uns nicht mit ihnen auseinandersetzen. Sie bleiben in uns und können gären, und wenn wir das nächste Mal an unsere Grenzen kommen, bricht sich der Giftcocktail aus Scham, Wut und erlernten Mustern Bahn. Es sei denn, wir entscheiden uns, diesen Kreislauf zu durchbrechen.
Ein erster Weg zur Veränderung ist Offenheit. Kürzlich war ich Teil eines interessanten Austauschs in einem sozialen Netzwerk. Inspiriert von der Ehrlichkeit einer Mutter darüber, was die Corona-Krise mit ihr macht, begannen andere, die Momente in ihrem Elternleben zu teilen, die nicht der liebevollen Bullerbü-Welt entsprechen, die dort sonst gern gezeigt wird. Am besten hat mir gefallen, dass sich auch Frauen daran beteiligten, die als sehr prominente Vertreterinnen von neuen Wegen des Elternseins gelten. Ich habe oft laut und herzhaft gelacht beim Lesen ihrer Geschichten. Nicht, weil sie wirklich lustig gewesen wären, im Gegenteil– viele waren natürlich in dem Moment, in dem sie sich ereigneten, sehr schwer für alle Beteiligten. Aber mein lautes Lachen kennst du bestimmt auch– es war das Lachen von einer, die unfassbar erleichtert war. Unfassbar erleichtert darüber, dass ich nicht allein bin mit all meinen dunklen und schwierigen Momenten. Und ich denke, einige dieser Frauen haben auch über meine Geschichte gelacht: Sie handelte von einer Barbiepuppe, die ich tags vorher aus Wut in hohem Bogen aus dem Badfenster geworfen hatte.
Eine meiner dunkelsten Stunden habe ich da allerdings nicht geteilt, und sie hätte wohl auch nicht für Lacher gesorgt. Meine Nerven lagen damals blank. Wir hatten als Familien innerhalb kürzester Zeit so viele traurige, angsteinflößende, stressige und schwierige Momente erlebt, dass wir mit dem Verarbeiten kaum nachkamen. Eines der Kinder war in dieser Zeit besonders herausfordernd und mein Akku gleichzeitig komplett leer. Dieses Kind stand eines Tages mit hochrotem Kopf vor mir. Sein ganzer kleiner Körper bebte vor Wut, und dann brach sich diese Wut Bahn, indem das Kind mir wehtat. Ein heftiger körperlicher Schmerz schoss durch mich hindurch, und die Reaktion darauf kam ganz tief aus dem Inneren. Und sie kam prompt. Sie schien in diesem Moment so natürlich, als gehöre sie da hin und wäre in dieser Form schon viele Male abgelaufen. Dass meine Hand an diesem Nachmittag nicht ungebremst auf das zarte Gesicht meines Kindes knallte, hat nichts mit mir innewohnender Selbstbeherrschung zu tun. Eher mit etwas, das genauso unbewusst und instinktiv in mir erwachte wie der Impuls zu schlagen. Vielleicht war es ein flüchtiger Blick in die angstgeweiteten Kinderaugen. Ein Sekundenbruchteil. Ein Wunder. Doch was blieb, war das zuckende Kind, der Ausdruck des Schreckens, sein Weinen, das noch heftiger wurde. Und meine Scham. Das Entsetzen über mich selbst.
Ich hätte diese Situation gern unter den Teppich gekehrt. Nie wieder darüber gesprochen. Gehofft und gebetet, dass auch das Kind sie vergisst. Doch ich entschied mich anders. Zuerst habe ich mit meinem Mann darüber gesprochen, später mit einem Freund und schließlich auch mit einem Therapeuten. Wir können uns nicht von Scham befreien, wenn wir den oder die Auslöser der Scham für uns behalten. Und gleichzeitig müssen wir natürlich Menschen finden, bei denen unsere dunkelsten Stunden gut aufgehoben sind. Keiner, mit dem ich über diesen Moment gesprochen habe, hat mich verurteilt. Schöner noch– es war nicht mal der Anflug von Wertung in den Gesichtern dieser Menschen zu sehen. Stattdessen ehrliches Interesse, Mitgefühl und Hilfsangebote.
Die US-Amerikanerin Brené Brown hat viele Jahre zum Thema Scham geforscht. Eine ihrer Erkenntnisse fasst sie in einem Vortrag so zusammen: „Wenn man Scham in eine Petrischale gibt, braucht es drei Dinge, damit sie exponentiell wächst: Heimlichkeit, Schweigen und Verurteilung.“ Wenn wir also mit der Scham allein bleiben, wird sie größer. Sie belastet uns und damit auch die Beziehung zu unseren Kindern. Wenn wir uns hingegen verletzlich machen und unsere Überforderung offen aussprechen und teilen, ist das ein erster Schritt zur Heilung. Natürlich kommt es dann auch auf die Gegenüber an. Was wir brauchen, wenn wir zu uns und unseren Fehlern stehen, ist Mitgefühl. Brené Brown sagt dazu, dass die Scham nicht überleben kann, wenn man Empathie mit in die Petrischale gibt.6
Dieses Mitgefühl darfst du dir als Erstes selbst schenken. Mir hat geholfen, einen ehrlichen Blick auf mich selbst in besagter Situation zu werfen und mir einzugestehen, wie schlecht es mir ging und wie überfordernd die Umstände waren– und auch welche Härte ich von mir selbst abverlangt hatte. Als ich mir gegenüber weicher werden konnte, konnte ich auch die Verbindung zu meinem Kind wiederherstellen. Vergebung wurde möglich.
Jesus als mächtiger Verbündeter
Mit Mut und Ehrlichkeit können selbst die dunkelsten Stunden zum Segen werden. Aber nur, wenn wir akzeptieren, dass sie Teil von uns sind. Mir hilft es, neben all den freundschaftlichen und therapeutischen Gesprächen, die ich von Zeit zu Zeit bewusst suche, dass meine Dunkelheit bei Jesus gesehen und aufgehoben ist. Den Frieden, den wir finden, indem wir Jesus auch in unsere dunklen Seiten mit hineinnehmen, beschreibt der amerikanische Autor Brennan Manning folgendermaßen: „When we accept the truth of what we really are and surrender it to Jesus Christ, we are enveloped in peace, whether or not we feel ourselves to be at peace.“ 7
Wenn wir mit unserer Dunkelheit und Zerbrochenheit ehrlich sind, können wir uns von Jesus Frieden schenken lassen– sogar, wenn wir uns gerade vom Sturm durchgerüttelt fühlen. Ich finde, da haben wir als Christen einen großen Vorteil, denn in Jesus haben wir einen zusätzlichen Verbündeten, wenn es darum geht, alte Muster und Spiralen aus Wut, Schuld und Scham zu durchbrechen.
Die Kraft der Veränderung
Dass der Weg raus aus alten Mustern und hin zum Frieden sich immer lohnt– egal wo wir stehen –, zeigt die Geschichte, die mir einmal eine Frau erzählte: Ihre Eltern schlugen sie und ihre Geschwister zur Strafe, wenn sie eine Familienregel gebrochen hatten. Sie taten es sogar dann, wenn sie sich selbst dabei schlecht fühlten. Einmal, so erzählte sie mir, weinte ihr Vater, während er sie bestrafte. Er meinte jedoch, er müsse es tun. „Wer die Rute schont, hasst sein Kind“, das war tief in ihm verankert. Bis die Eltern der jungen Frau eines Tages auf ein Buch stießen, das sie von dieser Haltung abbrachte. Sie entschieden sich für Veränderung. Diese Entscheidung trafen sie nicht nur im Stillen für sich, sondern teilten sie mit ihren Kindern. Sie riefen alle zusammen, baten um Vergebung, erklärten, dass sie einen großen Fehler gemacht hatten, und schlugen von diesem Tag an nie mehr. Ich habe die junge Frau gefragt, ob sie selbst jemals den Impuls hatte, eins ihrer Kinder zu schlagen. Nein, war die Antwort, nicht ein einziges Mal in all den Jahren.
In der bewussten Entscheidung, etwas zu verändern, und dem Mut, dem Geschehenen ins Auge zu sehen, liegt eine ungeheure Kraft. Eine Kraft, die– wie wir schon gesehen haben– die Welt verändern kann.
Es gab übrigens noch eine Geschichte, die meine Oma Lisbeth früher oft erzählte. Mein Vater und mein Onkel sprechen bis heute darüber. In einsamen Kriegsnächten, wenn die Sirenen einen Fliegeralarm ankündigten, musste meine Oma sich entscheiden: Schaffte sie es noch mit den drei Kindern in den Luftschutzbunker oder war der Weg dahin schon zu gefährlich? In mancher Nacht blieb ihr nichts anderes übrig, als in ihrem Haus zu warten und zu beten. Sie setzte sich dazu immer auf einen Schemel in ihrer Küche. Auf ihren Knien saßen ihre drei Söhne, und wenn der Lärm der Flugzeuge ertönte, schützte sie sie mit ihrem Körper, bis es draußen wieder ruhig wurde. Aus dem Mädchen, das kaum Mutterliebe erlebt hatte, war eine Löwenmutter geworden.