Читать книгу Virusrausch - Daniela Christine Geissler - Страница 10
Kapitel 3
ОглавлениеSonntag, 22 Uhr
Melanie sah besorgt auf den PC-Schirm. Brians Atem war flach, sein Herzschlag wies Unregelmäßigkeiten auf, das Fieber war gestiegen.
Wieder versuchte er mit Helen zu sprechen, aber statt Helen stand seine Mutter vor ihm und brüllte ihn an. Sein Vater zog an seiner Hand – die Szene wechselte und er kämpfte mit einer Frau – lange drückte er zu, bis sie keinen Laut mehr von sich gab. Es war Nacht und ihm war kalt, danach fand er sich in seinem Kinderzimmer wieder und vernahm das übliche Gezänke seiner Mutter......
Als sein Zustand sich nicht besserte, eilte sie zu Dr. Lewis. Er eilte herbei und betrachtete den Engländer, dessen Lebenszeit sich von Stunde zu Stunde dem Ende näherte.
>>Warum hast du es denn so eilig mit dem Sterben? Du wirst doch jetzt nicht aufgeben, ohne dass ich einen ordentlichen Bericht abgeben kann.<<, brummte er unzufrieden vor sich hin.
Sämtliche Blutproben und andere Untersuchungen hatten kein Ergebnis gebracht, er konnte mit den vorliegenden Symptomen nichts anfangen und hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Diese Situation der Unwissenheit machte ihn unsicher und das ärgerte ihn. Für Edward war der Tod allgegenwärtig. Emotionen ließ er nicht zu, doch er tat alles, um einen Patienten durchzubringen. Für ihn bedeutete das Sterben der Patienten sein persönliches Versagen und somit kämpfte er dagegen mit einer Heftigkeit an, die Melanie noch nie bei einem Arzt beobachtet hatte. Der nicht zu ändernde Zustand eines leblosen Körpers erregte in ihm ein tiefes Grauen.
......je länger ihn seine Mutter anschrie, umso tiefer fiel er in ein dunkles Loch - Margit weinte und rief ihren Vater um Hilfe, der vor ihnen in eine nebelige Landschaft eintauchte, bis er begann sich darin aufzulösen und mit dem Dunst eins wurde. Verzweifelt rief Brian seine Frau.....fest zog Helen an seiner Hand - er entglitt ihr......
Unter der Sauerstoffmaske röchelte Brian nach Luft, wobei sich seine Halsmuskeln unnatürlich anspannten. Verbissen kämpfte Edward mit allen medizinisch-technischen Mitteln um sein Leben. Melanie sah ihm traurig dabei zu.
........gleich darauf wurde Brian in einen dunklen Tunnel gesogen, an dessen Ende ein strahlend weißes, seltsam lebendiges Lichtbündel zu erkennen war. Eine Sehnsucht mit diesem Punkt zu verschmelzen, trieb ihn unaufhaltsam vorwärts, mit der Hoffnung, seinen Vater dort wiederzufinden, bis er endgültig darin verschwand.
Sein Herz hörte auf zu schlagen.
Auf dem Monitor zeigte sich eine gerade Linie, begleitet von dem gefürchtetem Piepston und gleichsam vom irdischen Dasein erlöst, lag friedlich der junge Körper, während die Maschinen unbeirrt weiterratterten, bis Melanie, mit einer Handbewegung, auch dem ein Ende setzte. Stille.
Nach zwei Minuten unterbrachen Edwards Schritte die gespenstische Totenruhe. Er verließ den Raum und hinterließ eine bedrückende Schwere. In solchen Momenten empfand sie sogar ein wenig Sympathie für Dr. Lewis, einem der unbeliebtesten Ärzte dieses Hospitals.
Mit einem leeren Gefühl im Magen ging er Richtung Kantine, die bereits geschlossen war. Er benötigte dringend eine heiße Tasse Kaffee und drückte auf einen der Automaten, die vor der Kantine standen. Angewidert starrte er auf den dünnen, schwarzbraunen Faden, der in den Plastikbecher rann. Am nächsten Morgen musste er den Bericht über den Engländer fertig haben und hatte die unangenehme Aufgabe, der Familie eine Erklärung abzugeben. Der Kaffee hinterließ einen bitteren Geschmack.
Jedes Mal, wenn einer seiner Patienten starb, tauchte das Bild seines vierjährigen Bruders vor ihm auf und wieder hörte er die verzweifelten Vorwürfe seines Vaters >>Du bist sein großer Bruder gewesen ...... du hättest besser aufpassen müssen!<<
In dieser Minute blickte Helen auf die Uhr in der Hotelhalle, die halb Elf anzeigte. Sie wollte nach einem langen Spaziergang noch nicht in das leere Hotelzimmer zurückkehren, selbst die kühle Nachtluft konnte ihr die innere Unruhe nicht nehmen.
Seit sie die Hotelhalle betreten hatte, wurde sie von einem älteren Herrn beobachtet, dem ihre Zerfahrenheit aufgefallen war. Er überlegte, ob er ein Gespräch beginnen sollte, ließ es dann aber bleiben. In der heutigen Zeit konnten Frauen auf sich selbst aufpassen. Damals war ein Mann noch in der Lage einer Frau beizustehen, aber heute fühlen sich die meisten Frauen belästigt, wenn ein Mann seine Hilfe anbot. Sie wirkt stark, unabhängig und eigensinnig. Sie ist in ihrem Beruf sicher erfolgreich, oder vielleicht täusche ich mich. Nein, ich irre mich nicht, jedenfalls nicht mehr so oft wie in meiner Jugend, dachte sich der alte Mann, trank sein Glas aus und ging an Helen vorbei, um sie unauffällig näher zu betrachten. Blitzschnell versuchte er anhand ihrer Mimik und Körperhaltung eine Persönlichkeitsanalyse zu erstellen.
Als Kriminalpsychologe fiel ihm dies nicht schwer. Sie ist durch ein Ereignis belastet. Extrovertiertheit zeigt sich daran, dass sie mit ihren Sorgen nicht in ihrem Zimmer verschwindet, sondern unbewusst die Nähe von Menschen aufsucht. Einer Unterhaltung auszuweichen, weist auf ein privates Problem hin. Sie hat mein Interesse bemerkt und ihre Haltung hat Abwehr signalisiert, analysierte er weiter.
Sie spürte den Wind, den seine große Gestalt machte, als er an ihr vorbeiging und dachte an ihre einsame Kindheit. In ihrer Schulzeit beneidete sie andere Kinder, welche die Geborgenheit einer Familie hatten. Sie erzählten von ihren Ausflügen und vielen anderen schönen, für Helen unerreichbare Stunden. Ihre Mutter war fürsorglich, aber sehr verschlossen. Als Helen drei Jahre alt war, starb ihr Vater an Krebs. Wie Brian war auch sie vaterlos aufgewachsen.Nachdem sie der alte Mann freundlich angelächelt hatte, fühlte sie sich schon besser. Sein Gesicht mit dem weißen Bart zu betrachten, hatte ihrer Gemütsverfassung gut getan. Sie war müde geworden und ging in ihr Zimmer.
Am nächsten Morgen um Acht trafen sie sich beim Hotelaufzug wieder. Höflich grüßte der alte Mann und dabei vernahm sie seine hohe Stimme. Wieder fiel ihm ihre Gereiztheit auf. Dieses Mal schwieg er nicht
>>Geht es Ihnen heute besser?<<
>>Wie bitte?<<, wunderte sich Helen.
>>Ich habe Sie gestern Abend in der Hotelhalle gesehen und Sie machten einen verstörten Eindruck auf mich. Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber ich habe eine Antenne für die Probleme meiner Mitmenschen.<<, gab er mit sanfter Stimme zurück.
Sie blickte ihm direkt ins Gesicht. Er hatte ein volles Gesicht, ein kurze gebogene Nase und klare blaue Augen. Sein Äußeres war wenig einnehmend und seine Stimme glich dem eines Eunuchen. Es war die Selbstverständlichkeit seiner Worte, die Helens Vertrauen weckte und verwirrt lächelte sie >>Es geht so, danke!<<
Je näher sie dem Hospital kam, desto schlimmer fühlte sie sich. Sie betrat die Notaufnahme, in der die übliche Hektik herrschte. Mit einer bösen Vorahnung schritt sie auf die Glastüre der Intensivstation zu. Auf ihr Läuten kam ein Mann im weißen Kittel herbeigeeilt, und öffnete die Tür einen Spalt
>>Ja, bitte?<< Seine Stimme klang ungeduldig.
>>Mein Mann, Mr. Caine, liegt hier. Kann ich zu ihm?<<
Edwards Gesicht wurde bleich und sein Hals brannte. Das sind jene Augenblicke, die er am meisten fürchtete. Jetzt war es wieder so weit. Er musste dieser jungen Frau den Tod ihres Mannes mitteilen. Du warst sein großer Bruder. Du hättest besser auf ihn aufpassen müssen. Schuldgefühle schnürten ihm den Hals zu.
>>Darf ich zu ihm?<< wiederholte sie ungeduldig ihre Frage, da er nur auf den Boden starrte. Schnell wich er zur Seite, holte tief Luft, doch bevor er etwas sagen musste, kam ihnen Schwester Melanie entgegen. Er winkte sie linkisch heran und sein Gesichtsausdruck verriet ihr die Situation.
>>Es wäre besser, wir gehen in den Aufenthaltsraum.<<, ergriff Melanie das Wort. Unsicher trottete Edward hinter ihnen her. Arm sind sie schon, diese starken Männer. Keiner von ihnen ist den Gefühlsausbrüchen von Frauen gewachsen. Nicht einmal ein Tyrann wie Dr. Lewis, dachte Melanie. Ohne Vorwarnung stieß Edward die Worte heraus
>>Er ist tot... wir haben nichts mehr für ihn tun können....... Sie besitzen unser aufrichtiges Mitgefühl! <<
Das war ja fein, wie sensibel, Idiot, ärgerte sich Melanie. Die Worte prasselten wie Hagel auf Helen herab und zum ersten Mal in ihrem Leben wurde ihr schwarz vor den Augen. Langsam sackte sie in die Knie. Melanie fing sie gerade noch auf.
Ungehalten fuhr sie ihn an >>Warum haben Sie das nicht mir überlassen?<< Beschämt rief Edward zwei Krankenpfleger, die Helen in ein Nebenzimmer brachten.
Becky trat gerade ihren Dienst an, als man Helen ins Zimmer schob. >>Das ist ja Mrs. Caine!<<, rief sie verwundert aus. >>Ihr Mann ist gestern Nacht gestorben und Dr. Lewis hat es ihr gerade in seiner einfühlsamen Art mitgeteilt. Um zehn Uhr kommt die Visite und es liegt immer noch kein zufriedenstellender Befund vor. Er möchte noch einmal die Blutproben ins Labor schicken. Jedenfalls ist mit ihm momentan nicht gut Kirschen essen und ich bin froh, dass ich die nächsten Stunden keinen Dienst habe und endlich heim kann.<<, stöhnte Melanie.
Sie öffnete die Augen. Verschwommen nahm sie den Raum wahr. Nach und nach fielen ihr die Worte des Arztes wieder ein. Er ist tot. Brian ist tot. Vor ein paar Tagen fuhr er nach Houston in ein Seminar und jetzt ist er tot, einfach weg für immer. Sie schloss noch einmal die Augen und hoffte in ihrem Bett in England aufzuwachen und alles wäre nur ein Albtraum gewesen - das Hotel, der Arzt, das Hospital.... Sie vernahm eine angenehme Stimme, öffnete ihre Augen und sah in Beckys mitleidiges Gesicht.
>>Trinken Sie, das tut Ihnen gut!<<
Helen trank und mit jedem Schluck kam sie der trostlosen Wirklichkeit wieder näher.
>>Ich bin noch nie umgekippt.<<, presste sie heraus.
>>Es ist ein furchtbares Unglück und wir verstehen das. Es ist immer schlimm, wenn junge Menschen sterben, auch für uns. Wenn Sie wollen, können Sie bis heute Abend bei uns bleiben, bis sich ihr Zustand stabilisiert hat. Sie haben einen Schock erlitten. Bleiben Sie bitte noch eine Stunde liegen.<<, gab sie verständnisvoll zurück. Nach fünf Minuten empfand Helen eine angenehme Gleichgültigkeit in sich und ihre Verzweiflung verwandelte sich in eine körperliche Schwere. Hoffentlich wirkt das Beruhigungsmittel bald, dachte Becky. Es war ihr schwer ums Herz geworden.
Bevor Dr. Foster, der Primar, seine Visite um neun Uhr antrat, führte er ein Gespräch mit Dr. Lewis. Die Notfallstation und die Intensivstation standen unter seiner Leitung. Er hatte Edward der Herzstation abgeworben. Bill bemerkte den Kampfgeist, den dieser Arzt schon als Student mitbrachte und gerade in dieser Station musste man eine solche Härte mitbringen. Er sah in ihm die Zukunft eines brillanten Notfallmediziners.
>>Sollte ich nicht doch lieber in die Kardiologie zurückkehren?<<
>>Nehmen Sie es nicht so schwer Edward. Sie wissen, dass ich Ihre Arbeit auf meiner Station sehr schätze und ich nehme an, dass Sie alles Mögliche getan haben, um den Jungen am Leben zu erhalten. Sie müssen lernen, sich damit abzufinden, dass wir Ärzte nicht Herr über Leben und Tod sind. Dafür ist eine andere Adresse zuständig. Also machen Sie nicht so ein Gesicht.<<
Bill war einer der beliebtesten Ärzte in diesem Hospital. Bei seinen Kollegen, Studenten und den Patienten war er hoch angesehen, wegen seiner Wärme, die er ausnahmslos jedem Menschen entgegenbrachte. Man liebte ihn von ganzem Herzen. Er trug ein hohes ethisches Niveau in sich mit einem ausgeprägten Hang zur Gerechtigkeit.
Bill kannte Edward schon lange und wusste, warum er immer darauf aus war, zu gewinnen. Dieser war in armen Verhältnissen aufgewachsen und hatte nur mit Hilfe eines Stipendiums studieren können. Außerdem hatte die Familie einen Sohn verloren. Der vierjährige Tommy war ertrunken. Auch bei Frauen musste er immer gewinnen. Edward war nicht attraktiv, mittelgroß, braunes Haar, eher unauffällig, doch er war energisch und diese männliche Eigenschaft wirkte bei Frauen äußerst anziehend. Wenn er an einer Frau Interesse hatte, ließ er nicht locker. Sanft war er nicht, jagte die Frauen und schlief mit ihnen, bis diese völlig erschöpft waren. Er wollte siegen, sich niemals geschlagen geben. Liebe bedeutete emotionale Abhängigkeit für ihn und darauf ließ er sich nicht ein und so nahm er Frauen, ohne emotional viel von sich herzugeben.
Während Helen im Krankenhaus dahindöste, dachte sie daran, dass sie vor fünf Jahren einen Kurs in Psychologie besucht hatte. Doch in der Realität sah alles anders aus. Trauerarbeit war auch ein Thema in diesem Kurs gewesen. Sie überlegte, wie ein Psychologe sie wohl jetzt behandeln würde. Ob es das Beste wäre, sich in den nächsten Tagen mit Beruhigungsmitteln vollzupumpen, oder sich der Trauer zu stellen und einen Bach an Tränen zu vergießen. Sie entschied sich, eine gesunde Trauerarbeit zu leisten und fing damit an, indem sie ihren Tränen freien Lauf ließ. Um zwei Uhr brachte man ihr eine Kleinigkeit zu essen. >>Wir wissen, dass Sie jetzt keinen Hunger haben, aber essen Sie wenigstens die Hälfte. Es stützt Ihren Kreislauf.<< Mit diesen Worten stellte ihr eine zierliche Krankenschwester eine Rinderbrühe auf den kleinen Tisch und half ihr, sich aufzurichten. Es fiel ihr schwer zu essen, aber schließlich kräftigte sie die Mahlzeit. Die Brühe schmeckte zu salzig.
Sie blickte aus dem Fenster in eine gepflegte Parkanlage - dort war Leben, hier spürte sie den Tod. Helen hatte das Bedürfnis, diesen trüben Ort zu verlassen und wollte gerade gehen, als Dr. Foster das Zimmer betrat. Er stellte sich ihr vor und als sie seine weiche Stimme hörte, kehrte sie ihm schnell den Rücken zu. Sie nahm ihr Taschentuch, presste es gegen ihr Gesicht und begann leise zu schluchzen. Er setzte sie auf einen Stuhl und sprach wie ein Priester auf sie ein.
Es war ihr furchtbar peinlich ständig vor fremden Menschen die Fassung zu verlieren. Unter den Wortfetzen, die sie vernahm, hörte sie tatsächlich mehrmals das Wort Gott. Ein Arzt, der von Gott sprach! >>Ich habe geglaubt, dass alle Ärzte Nihilisten sind.<<
>>Viele sind es, leider. Seit zehn Jahren bin ich hier der Chefarzt und Gott ist mir in vielen Geschichten meiner Patienten begegnet. Ich kann ihn nicht leugnen, auch wenn viele Kollegen diesen Zug an mir einfältig finden. Der Tod hat verschiedene Gesichter, doch das Leben auch und deshalb bitte ich Sie, auch wenn Ihr Verlust für Sie noch so unerträglich ist, Gott in Ihr Herz aufzunehmen. Dann nehmen Sie Ihren Mann auf eine andere Weise in sich auf, als Sie es im Leben getan haben. Auch wenn uns die Medizin einreden will, dass der Geist, also die Seele, angeblich nur eine Organisationsform des Körpers sein soll, so glaube ich persönlich nicht daran. Der Körper gehört der Erde, aber der Geist gehört Gott.<<
Unterdessen überlegte sich Becky, ob sie Mrs. Caine die Sachen Ihres Mannes gleich geben sollte oder etwas später. Sie starrte den Plastiksack an, indem das Gewand und andere persönliche Sachen des Toten waren.
Das Gespräch mit dem Primar gab ihr viel Kraft und so setzte sie den zweiten Schritt Richtung Trauerarbeit, indem sie zuerst Mike anrief. Er reagierte ungewohnt heftig. Das hat sie nicht erwartet. Täuschte sie sich oder hörte sie ihn tatsächlich weinen. Was die Familie Caine betraf, rief sie auch seinen Vater an.
>>Guten, Tag Mr. Caine. Hier ist Helen, die Frau Ihres Sohnes.<< Plötzlich verspürte sie eine innere Wut auf Brians Vater. Nie war er für ihn da, so wie sie hatte er keine väterliche Stütze gehabt. Hart klangen daher ihre Worte >>Brian ist tot. Ihr Sohn ist tot.......<< Wie eine Maschine ratterte sie die kurze Geschichte herunter. Dann entschloss sie sich, Brians Sachen abzuholen. Sie holte tief Luft und ging ins Schwesternzimmer. Es war doch hart für sie, die Sachen entgegen zu nehmen, das, was ihr von ihm geblieben war und sie dachte, nicht weinen.... erst wieder im Hotel.... ich schaff das. Nicht jetzt und auch nicht im Taxi. Erst im Hotelzimmer will ich wieder weinen. Erleichtert stieg Helen ins Taxi, weil es ihr gelungen war, sich zu beherrschen. Die Taxiuhr zeigte sechzehn Uhr an.
Der alte Mann wollte gerade in sein Zimmer gehen, um seine Kleidung zu wechseln, als er einen Stock höher ein leises Wimmern vernahm. Langsam stieg er die Treppen hinauf. Die junge Frau, die ihm den ganzen Tag nicht aus dem Kopf ging, kauerte am Treppenansatz und schaffte es anscheinend nicht mehr in ihr Zimmer. Simon setzte sich neben sie, sprach jedoch nichts. Er gab ihr ein Taschentuch. Sie nahm das Tuch und als der Weinkrampf vorüber war, sah sie ihn an. Er sprach immer noch kein Wort und sie war dankbar dafür. Er half ihr, sich aufzurichten.Man konnte den Eindruck gewinnen, als ob sich die beiden schon lange kannten.
>>Welche Zimmernummer?<<
>>Nummer dreizehn.<<, antwortete sie erschöpft.
Er stützte sie den Flur entlang, bis sie vor Helens Zimmer standen. Simon nahm ihr den Schlüssel aus der Hand, sperrte auf und meinte
>>Die Dreizehn scheint Ihnen kein Glück gebracht zu haben.<<
Unwillkürlich lächelte sie. Er knipste das Licht an und schloss die Türe hinter ihnen.
>>Wenn Sie lieber allein sein wollen, sagen Sie es. Meiner Meinung nach ist es aber nicht gut für Sie. Ich werde Ihnen keine dummen Fragen stellen und Sie dazu zwingen, mir oberflächliche Antworten zu geben. Ich werde Ihnen das geben, was Sie brauchen, die Gegenwart eines Mitmenschen und das ist in so einem Fall oft am hilfreichsten. <<Ihre Sympathie für den alten Mann stieg. Sie setzte sich auf das Bett und begann
>>Mein Mann ist heute Nacht gestorben. Wir sind Engländer, aus Newcastle. Brian besuchte ein Seminar über ein neues Computerprogramm..... ich pack das nicht ...ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll, aber irgendwie wird es schon gehen. Ich rede mir ein, dass ich erwachsen bin und vernünftig sein muss ...... aber es ist oft ganz schön hart, erwachsen zu sein. Ich heiße übrigens Helen.... Helen Caine.<< Simon räusperte sich
>>Mein Name ist Simon Best, habe meinen Doktor in Psychologie gemacht und will Ihnen gerne beistehen. Ich fange damit an, Helen, Ihnen zu sagen, dass es nicht immer wichtig ist, ob man eine Situation >erwachsen< meistert, wichtig ist, dass man damit fertig wird. Egal wie, Hauptsache man steht es durch. Glauben Sie mir, wir haben nicht nur einen körperlichen Überlebenstrieb, wir haben auch einen psychischen Überlebensdrang. Jeder Mensch hat eine eigene Art seine Probleme zu lösen. Die Psyche hilft sich selbst aus dem Schlamassel. Wichtig ist es, sich selbst zu kennen, sich nichts vorzumachen und seiner Intuition zu folgen. In meinem Beruf bin ich nicht nur meinen eigenen Intuitionen gefolgt, mein Beruf zwang mich oftmals auch den Gedankengängen anderer zu folgen. Vielleicht haben Sie es gemerkt, aber ich folge intuitiv seit gestern Ihrer Spur. Manches Mal weiß ich nicht, wohin mich meine Nase führt, aber als alter Fuchs folge ich jeder Fährte und hier bin ich.<<
>>Sind Sie sehr teuer? Ich fürchte, ich kann Sie mir nicht leisten.<<, gab Helen unter Tränen lächelnd zurück. >>Das erste Honorar besteht darin, dass Sie Vertrauen zu sich selbst haben.<<
Noch lange sprachen sie miteinander. Das Gespräch half ihr über den ersten Schmerz hinweg.
Das zweite Honorar, welches Simon von Helen forderte, bestand darin, mit ihm am nächsten Tag zu dinieren. >>Es ist wichtig, dass Sie regelmäßig Nahrung zu sich nehmen. Wenig ist besser als gar nichts.<< Helen war gerührt von der Fürsorglichkeit des alten Herrn. Dr. Foster würde ihn als Wink Gottes betrachten, der ihr beistand, dachte Helen.
Am nächsten Morgen wurde sie vom eindringlichen Läuten des Telefons geweckt. Das Hospital wollte von Helen die Bewilligung zur Autopsie.
Zaghaft klopfte sie an Simons Tür. Noch Seife im Gesicht, öffnete er >>Würden Sie mich ins Hospital begleiten. Man will von mir die Autopsieerlaubnis, aber wohl ist mir dabei nicht.....so weit bin ich noch nicht...ich weiß nicht, was ich tun soll.<<
Nach zehn Minuten saßen beide im Taxi.
Bill und Edward warteten bereits im Aufenthaltsraum. Helen machte die beiden mit Simon bekannt. Edward war von dem alten Mann ein wenig irritiert und dachte: eigenartiger Typ, fast unheimlich. Er sieht mich an, als ob er mich durchleuchten würde.
>>Wir wissen, dass es für Sie unangenehm ist, wenn man an Ihrem Mann eine Autopsie vornimmt, aber wir wollen Klarheit darüber, woran er gestorben ist.<<, begann Bill sanft.
>>Natürlich, aber muss es wirklich sein? Er ist tot und daran kann man nichts mehr ändern.<<
>>Wenn es nicht notwendig wäre, würden wir Sie nicht darum bitten. Wir sind Ärzte und es liegt uns auch daran, festzustellen, ob wir vielleicht etwas übersehen haben.<<
Simon nahm Helen beiseite und sprach ruhig auf sie ein.
>>Helen, erlauben Sie es. Es hilft zwar nichts mehr, aber dann haben auch Sie Klarheit. Wollen Sie nicht wissen, woran er gestorben ist?<< Sie überlegte einige Zeit. >>Sie haben recht. Natürlich will ich es auch wissen ...... mir später sogar Vorwürfe machen, wenn ich es ablehnen würde.<<
Zu den beiden Ärzten gewandt, sagte sie schließlich >>Sie haben meine Erlaubnis.<<
Während Dr. Foster und Helen ins Büro gingen, um die Formalitäten zu erledigen, unterhielt sich Dr. Lewis angeregt mit Simon. Der alte Mann hatte Edwards Interesse geweckt und das passierte ihm nicht oft.
>>Kriminalpsychologe waren Sie, das war sicher spannend! Es muss ein tolles Erfolgserlebnis gewesen sein, wenn man den Mörder gefunden hat.<<
>>Es gibt sicher angenehmere Erlebnisse, aber andererseits kann man dabei weiteren Schaden verhindern, wenn man auf der richtigen Spur ist. Man sieht, wozu der Mensch fähig ist und fragt sich, ob es psychologisch überhaupt nachvollziehbar ist.
Aufgrund jahrelanger Erfahrungen fand ich zwar oft den Mörder, aber die Grausamkeit der menschlichen Psyche ist mir immer noch ein Rätsel.<<, erwiderte Simon weniger begeistert.