Читать книгу Virusrausch - Daniela Christine Geissler - Страница 9
Kapitel 2
ОглавлениеAb zwölf Uhr mittags herrschte in der Kantine des Hospitals hektisches Treiben. Nachdem das Essen besser geworden war, nahm das Personal bedeutend mehr Mahlzeiten dort ein. Der Speiseplan wurde erweitert, es gab mehrere Menüs zur Auswahl, sogar eine vegetarische Kost und Diätmahlzeiten wurden eingeführt.
Zur Freude von Becky Fox, Oberschwester der Intensivstation, welche im Laufe ihrer fünfundvierzig Jahre doch einige Kilos zugelegt hatte. Marc bevorzugte ebenfalls ein spezielles Menü - er war Vegetarier. Seit einem halben Jahr aßen sie gemeinsam, wenn es ihr Dienstplan erlaubte. Obwohl sich in ihrer Nähe sein Puls beschleunigte, hatte sie doch etwas an sich, was ihn gleichzeitig ruhiger werden ließ. In ihrer Gegenwart umgab ihn ein Gefühl von Wärme und Behaglichkeit, auf das er nicht mehr verzichten mochte. Seine zarten Hände gefielen Becky, sie berührten ihr Inneres besonders. Er sprach kaum über sich, doch als sie sich über Musik unterhielten, veränderte er seinen sonst so starren Gesichtsausdruck und erzählte ihr leidenschaftlich von seiner Liebe zum Geigenspiel. Becky versuchte dieses Thema noch öfter anzuschneiden, doch er lenkte immer wieder ab. Es schien, als ob er ihr nur kurz einen Einblick in sein Innerstes gewährte, um sich ihr dann wieder zu entziehen.
An diesem Tag aß sie mit Melanie zu Mittag. Diese schnatterte auf Becky ein
>>Wenn man ihn auf der Straße sieht, kann man sich nicht vorstellen, dass er Pathologe ist. Aber ehrlich bemerkt, welchen Menschen kann man diesen Beruf schon ansehen?<<, dabei spielte sie mit ihrem Joop-Ring, den sie von einem ihrer Kurzzeit-Liebhaber bekommen hatte, hielt den Kopf etwas geneigt und fuhr überzeugt fort >>Du kannst ja sagen, was du willst, aber ich denke, Dr. Andrews ist in dich verknallt.<< Abwehrend schüttelte Becky heftig den Kopf. Drei Tische weiter saßen die Krankenpfleger. Leòn Comachio von der Kinderstation diskutierte eifrig mit Harry Bell von der Notaufnahme über die Klimaveränderung.
>>Sicher, wirst schon sehen, durch die Klimaveränderung gehen wir trostlosen Zeiten mit Überschwemmungen und anderen Naturkatastrophen entgegen und kein noch so kluger Kopf kann uns davor bewahren. Die Natur macht was sie will, sehe ich selbst bei den Patienten. Die Ärzte glauben, alles im Griff zu haben und hops... wieder ein Fall für den Pathologen.<<, übertrieb Harry. Er liebte es, mit Leòn zu diskutieren, weil dieser das Leben so ernst nahm.
>>Also ich wäre gern Arzt geworden und ich kann nichts Lustiges daran finden, wenn Patienten leiden!<<, zischte er.
>>Ja, ja, die alte Leier mit dem verpassten Studium. Das Leben ist ungerecht, schon mitgekriegt? Du kannst froh sein, dass du einen Job hast. Sei nicht so unzufrieden mit dir! Du hast eine Familie und bist fähig, sie zu ernähren. Betrachte es einmal von dieser Seite her. Möchtest du vielleicht das Leben eines Arztes führen? .......Jetzt im Ernst, du glaubst also, dass mir die Patienten gleichgültig sind! Für eine falsche Behandlung oder den Tod von ihnen möchte ich nicht verantwortlich sein. Als Chirurg kann man, wenn man Pech hat, an seinem Tod schuld sein, aber als Krankenpfleger musst du sie nur zu Tode pflegen.<<, gab ihm Harry zurück und setzte dabei sein typisches Grinsen auf.
>>Jetzt vergeht mir gleich der Appetit. Könnt ihr nicht ein anderes Thema durchdiskutieren?<<, raunte Scott, der kurz von der Tageszeitung aufblickte.
Becky und Melanie hatten ihr Essen beendet und drängten sich mit ihren Tabletts an ihnen vorbei.
Harry rief Melanie zu
>>Wie geht es dem Neuen?<<
>>Nicht besonders, er ist noch nicht wach. Manches Mal glaube ich, er sieht mich an und dann ist er wieder weggetreten.<<
>>Kein Wunder, der sieht dich und kippt sofort ins Kissen zurück.<<, gab Harry lautstark von sich. Schallendes Gelächter. Dessen ungeachtet sprach Melanie weiter
>>Es ist irgendwie ungewöhnlich. Er hat zwar Fieber, aber so hoch ist es nicht, dass er sich ständig in einem Dämmerzustand befindet und vor sich hin fantasiert. Sogar Dr. Lewis weiß in diesem Fall keinen Rat. <<
>>Also ich für meinen Teil bin froh, dass ich nicht in der Intensivstation bin und mit Dr. Lewis habe ich gottlob auch noch nichts zu tun gehabt.<<, bemerkte León und trank sein Glas aus. Harry balancierte ein Pommes zwischen seinen Fingern und erwiderte
>>Habe ihn vor vier Jahren in der Kardiologie erleben dürfen. Eine Charmeschule hat er nicht gerade besucht. Eine Schwester hat einmal eine Akte vertauscht, darauf hin hat er so gebrüllt, dass er sie zum Heulen gebracht hat. Er ist wirklich ein guter Arzt und bringt oft Fälle durch, wo andere schon beim Hinsehen aufgeben, aber der freundlichste Kerl ist er jedenfalls nicht.<<
Mit vollem Mund verabschiedete sich León von der Runde und trat seinen Nachmittagsdienst an.
Seit acht Jahren arbeitete León in diesem Hospital. Er war schon in mehreren Abteilungen, aber die Kinderstation, in der er in den letzten zwei Jahren gearbeitet hatte, war ihm die liebste. Kinder waren wesentlich einfachere Patienten. Der einzige Nachteil für ihn bestand darin, dass er das Leid mancher Kinder schwer ertragen konnte.
So sah er es, neben den gewohnten Arbeiten eines Krankenpflegers, auch als seine Aufgabe an, sie aufzuheitern. Ein Kind ist der Spiegel der Erwachsenenwelt. Schenkt man ihm seine Zuneigung, so bekommt man es mehrmals zurück, was León bei Erwachsenen nicht behaupten konnte. Die ödesten Erfahrungen machte er mit alten Patienten und sagte eines Abends völlig entnervt zu seiner Frau >>Es scheint so, als würden sich sämtliche negativen Charaktereigenschaften mit den Jahren verstärken. Sie jammern schon vor dem Frühstück und vor allem in der Nacht geben sie keine Ruhe. Oft wundere ich mich über die Energie, welche sie noch aufbringen können, uns mit ihren Sonderwünschen auf die Nerven zu gehen. <<
Als in der Kinderstation ein Pfleger gebraucht wurde, nahm er die Gelegenheit sofort wahr, bekam prompt die Stelle und stellte bald fest, dass Kinder angenehmere Patienten waren.
Helen befand sich bereits seit vielen Stunden im Flugzeug und vertrieb sich die Zeit damit, ein Prospekt von Houston durchzublättern, welches sie sich vor ihrem Flug besorgt hatte:
„Im Südosten von Texas in der Golfküstenebene liegt Houston. Mit seinen rund drei Millionen Einwohnern ist es ein bedeutendes Zentrum für Wirtschaft und Wissenschaft. NASA Space Center, Ölgeschäfte, Banken, technische Betriebe und medizinische Forschungszentren haben hier ihren Sitz. Außerdem gibt es in der Stadt achtundzwanzig verschiedene Colleges, Universitäten und Institute. Es ist das bedeutendste Industrie- und Verkehrszentrum in Texas. Eine Stunde entfernt befinden sich die Strände des Golf von Mexiko, wo man schwimmen und segeln kann. Das ganze Jahr über bietet Houston sportliche und kulturelle Veranstaltungen und im März finden die berühmten Rodeos statt. Es ist heiß im Sommer und mild im Winter.....“
Sie ließ das Prospekt sinken und gab sich wieder den Erinnerungen an Kenia hin. Schon der Tagesbeginn unterschied sich in Afrika vom kühlen, rauen Klima Northumberlands. Es herrschte ein intensiveres Licht, eine angenehmere Temperatur, selbst die Luft roch anders. Schon früh morgens gingen sie aus dem Haus, um in Mombasa einzukaufen.
Man traf kaum einen Weißen. Die exotische Schönheit dieser Menschen beeindruckte sie. Unter ihnen entdeckte Helen viele Frauen, über die mancher Modeschöpfer in Verzückung geraten wäre. Dunkle, großgewachsene Körper schlängelten sich anmutig durch die Strassen. Mit ihren hohen Backenknochen und vollen Lippen strahlten ihre Gesichter eine königliche Eleganz aus. Ihre Cousine Ambra hatte zwei Söhne, um die Helen sie ein wenig beneidete. Ihre Familie rastete aus, als Ambra ihnen mitteilte, sie würde einen Schwarzen heiraten und von England nach Mombasa ziehen. Helen bewunderte sie für ihre unkonventionelle Art, ihr Leben zu meistern.
Sie glaubte, auch an Brian eine Sehnsucht nach Kindern festzustellen, aber dann fiel ihr wieder das Leben in England ein und der Wunsch nach Kindern verblasste. In diesem Land lebte es sich einfach anders. Man wurde von einem gelassenen Lebensgefühl beherrscht. Jeder schien dem Leben näher zu sein, sogar Brian wurde hier lebendig. Es waren drei Wochen Glückseligkeit, schöner als ihre Hochzeitsreise nach Paris. Mike wollte ihnen Venedig einreden, doch Helen meinte, dass der penetrante Geruch einer vermoderten Lagunenstadt in ihr keine romantischen Gefühle wecken könnte und sie entschieden sich für Paris. Wobei sie in dieser Stadt die vielgerühmte französische Lebensart auch nicht beeindrucken konnte. Nirgends entging man dem Verkehrslärm und dem Gestank der Abgase. Bis sie zu ihrer Überraschung herausfand, dass sie der ländliche Typ war, welcher der Natur mehr abgewinnen konnte, als einer Stadt und in Afrika war alles vorhanden - eine ländliche Idylle, vermengt mit einem städtischen Treiben. Auch der Charakter dieses Volkes unterschied sich von den Europäern. Diese Menschen hatten eine elegante Einfachheit an sich, die Helen tief berührte. Sie lebten ihr Leben, ohne immer mehr zu wollen, begnügten sich mit wenigen Dingen und gerade das machte die Atmosphäre dieses Landes aus. Es war die Art, sich mit den Gegebenheiten abzufinden, bescheiden zu sein und das Leben auf ihre Weise zu genießen. Helen war dankbar dafür an diesem Leben für eine kurze Zeit teilhaben zu können. Die Tierwelt Afrikas hatte es Brian angetan, besonders die Affen. Helen fand diese menschenähnlichen Tiere nicht unbedingt anziehend, eher makaber, doch er tollte mit ihnen abends herum. Bis er mit schmerzverzehrtem Gesicht nach Hause kam. Ein Affe hatte ihn gebissen. Er rannte in die Küche, desinfizierte die Wunde und legte ungeschickt den Verband an. >>Hast du jetzt genug von deinen Verwandten?<<, lächelte Helen ein wenig spitz. Sie musste ihn erst davon überzeugen, dass ein Tierbiss keine harmlose Sache war und überredete ihn, in eine Klinik zu fahren, um sich eine Tetanusspritze geben zu lassen. Der behandelnde Arzt wies darauf hin, er müsse unbedingt in zwei Wochen ein Blutbild machen lassen, um etwaige Viren auszuschließen. Zu Hause angekommen, wurde er jedoch schnell zu einem Seminar nach Houston beordert, um auf den neuesten Stand zu kommen.
Ob er bei seinem Hausarzt schon ein Blutbild hat machen lassen? Ihre Gedanken wurden von der sanften Aufforderung der Stewardess unterbrochen, sich für den Landeflug anzuschnallen.
Vom langen Sitzen in den zwar weichen, aber engen Sesseln tat ihr jeder Knochen weh. Erschöpft kam sie spätabends am Airport an.
Sie nahm sich ein Taxi und ließ sich in ein Mittelklassehotel bringen, das in der Nähe des Hospitals lag. Nachdem sie dort eine Kleinigkeit gegessen hatte, nahm sie ein Bad und fiel danach in einen unruhigen Schlaf, aus dem sie morgens erschöpft erwachte.
Sie krabbelte aus dem Bett und öffnete das Fenster. Lau wehte ihr die warme Stadtluft ins Gesicht. Am frühen Morgen war es in Houston um diese Jahreszeit schon warm und man konnte die kommende Hitze des Tages erahnen. Nach einem mageren Frühstück fuhr sie ins Hospital.
Sobald sich die zweiflügelige Eingangstüre des Eden-Hospitals automatisch öffnete, spürte sie die angenehme Kühle des klimatisierten Raumes. Reges Treiben herrschte schon jetzt im unteren Bereich des Krankenhauses. Jeder schien ziellos hin und her zu laufen. Helen versuchte sich zurechtzufinden und steuerte auf den Informationsschalter zu. Dort standen bereits neun Personen, vier Männer und fünf Frauen. Geduldig, nach englischer Art, wartete sie eine dreiviertel Stunde, bis sie endlich an die Reihe kam. Die Schwester tippte den Namen Caine in ihren Computer und sagte freundlich
>>Mr. Caine liegt im Parterre, zweiter Trakt. Gehen sie den dritten Gang rechts und fragen sie in der Notaufnahme nach! <<
Auf dem Weg in die Notaufnahme wurde sie fast von einem Rettungsteam umgestoßen, die eben einen Mann in den Operationssaal rollten. Am nächsten Schalter fragte sie wieder nach. Man wies sie an, den langen Flur entlangzugehen und dort zu warten. Den Anweisungen folgend, ging sie weiter und erblickte eine Glastüre mit der Aufschrift „INTENSIVSTATION“.
Ihr Magen krampfte sich zusammen. Intensivstation, wieso liegt er intensiv?, dachte sie. Eine adrette, etwas vollschlanke Schwester öffnete die Glastür.
>>Kann ich Ihnen helfen?<<, fragte Becky.
Helen schätzte sie um die Vierzig ein. >>Ich suche meinen Mann, Mr. Caine.<<
>>Folgen Sie mir bitte in den Aufenthaltsraum.<<, sagte sie betont sanft. Das klingt nicht gut. Sie will mich auf etwas Unangenehmes vorbereiten, stellte Helen fest, während sie ihr folgte.
Durch die schweren orangefarbigen Vorhänge fiel die Sonne in den Raum, der in ein gelbliches sanftes Licht getaucht wurde. Dadurch strahlte der Aufenthaltsraum eine gewisse Ruhe aus.
>>Ihr Mann hat das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt und wir können nur warten.<<, versuchte sie ihr schonend mitzuteilen. Helen konnte kaum glauben, was sie eben gehört hatte. Sie hatte fest damit gerechnet, Brians Sachen in die Hand gedrückt zu bekommen und ihn anschließend, nach seinem kurzen Unwohlsein, gleich ins Hotel mitnehmen zu können. Sie wollte ihn doch nur nicht alleine zurückfliegen lassen. Vielleicht sogar noch einige nette Tage mit ihm hier verbringen. Stattdessen erzählte man ihr, er wäre noch nicht einmal ansprechbar
>>Aber Sie werden doch wissen, was ihm fehlt? Warum er noch nicht bei Bewusstsein ist? Ich will ja nicht ungehalten sein, aber mehr als achtundvierzig Stunden bewusstlos zu sein, ist doch kein normaler Zustand! Jemand muss doch darüber Bescheid wissen!<<, reagierte sie fassungslos. Becky forderte sie auf, sich zu setzen. Doch Helen blieb stehen. Beckys Worte drangen kaum zu ihr. >>Leider ist uns nichts darüber bekannt. Es wurde uns gesagt, er sei bewusstlos zusammengebrochen, mehr nicht. Es ist unsere Aufgabe, ihn mehreren Untersuchungen zu unterziehen, aber bis jetzt liegen keine Befunde vor, die mit einer äußeren Beeinflussung zu tun gehabt hätten.<<
Etwas verloren sah Helen um sich und antwortete nach einer längeren Pause gefasst
<<Ich danke Ihnen, es ist mir klar, dass alle hier ihr Bestes tun. Da bleibt mir nichts anderes übrig, als Geduld zu haben. Darf ich ihn sehen?<<
>>Natürlich, kommen Sie mit.<<
Durch die Glastür betraten sie wieder die Intensivstation. Dort konnte sie ihn durch eine Scheibe betrachten. An Geräten hängend, einen Schlauch in seiner Nase und in seinem Arm eine Infusionsnadel, lag Brian in einem sterilen Raum. Bei diesem Anblick weiteten sich Helens Augen. Sie hatte bis jetzt mit Krankenhäusern nichts zu tun gehabt, sie war offensichtlich schockiert.
>>Kommen Sie, es wird zuviel für Sie.<<
Becky schob sie sanft von der Scheibe weg. Sie wusste, dass es den Besuchern nahe ging, wenn sie ihre Angehörigen in einer solchen Lage sahen, aber das Hospital konnte es ihnen nicht verweigern. Sie hatten ein Recht darauf.
>>Keine Sorge, Schwester. Ich werde nicht den ganzen Tag hier herumhängen. Ich kann nichts tun, noch weniger als Sie. Also werde ich erst morgen früh wiederkommen. Hoffentlich ist er bis dahin aufgewacht. <<
>>Wir hoffen es auch, Mrs. Caine. <<