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Anlaufen 1

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Alles ist voller Franzosen.

Ich gehe durch die Innenstadt am Samstagvormittag, normalerweise gehört sie da den Fremden, und die Einheimischen halten sich fern. Über den Rhein kommen sie, aus der nahegelegenen Schweiz und aus Frankreich, aber so viele Franzosen wie heute habe ich noch nie gesehen. Unsere Stadt ist nicht besonders groß, die Innenstadt schon gar nicht. Ich lebe hier schon lange, mein ganzes Erwachsenenleben lang. Ich bin herumgekommen in unserer Stadt, viermal bin ich umgezogen, jedes Mal in eine bessere Gegend. Wir leben hier in einer Grenzregion ohne sichtbare Grenzen, wir kennen das Gefühl der Freiheit. Ich kenne niemanden, der von hier weg will.

Seit Tagen haben wir Hochdruck ohne Wind. Inversionswetterlage. In den langen Winternächten hat sich unten kalte und feuchte Luft angesammelt, und die Sonne schafft es nicht mehr, die Luftmassen zu durchmischen. Wie ein Deckel liegt die wärmere Luft auf der Stadt und erstickt sie unter tiefhängenden Wolken.

Ich bin auf dem Weg zum letzten Musikgeschäft unserer Stadt, weil ich nun doch etwas von ihm haben will, obwohl ich gar nicht sicher bin, ob ich auch hören will, wovon er singt. Alle guten Künstler sind Lügner. Die anderen auch, aber aus anderen Gründen.

Ich nehme das neue und das vorherige Album, das Alexander haben wollte. Ausgerechnet. Er hört sonst nie Musik, aber ich glaube, Stéphanes Auftritt auf dem Festival hat ihm gefallen, zumal er die Texte viel besser verstanden hat als ich mit meinem Rest Schulfranzösisch. Vor allem das eine Chanson, in dem er erzählt, wie jemand aufsteht und geht und wortlos das ganze bisherige Leben zurücklässt, hat es ihm angetan. Er konnte gar nicht mehr aufhören, davon zu sprechen. Ich glaube, die Vorstellung fasziniert ihn, so wie einen ein furchtbares Verbrechen fasziniert, und man dann erleichtert flüstert: Zum Glück passiert mir das nicht. Ist doch nur ein Lied.

Dem Musikgeschäft gegenüber liegt unser neues Literaturhaus. Das wurde erst vor zwei Jahren eröffnet. Den Wunsch danach gab es schon lange, aber bis zur Umsetzung hat es gedauert. Man ging Umwege und Irrwege. Orte wurden vorgeschlagen und wieder verworfen. Früher war dort, wo es jetzt ins Literaturhaus hineingeht, die Aula der Alten Universität. Erstsemesterparty mit Thees. An Thees habe ich seit Ewigkeiten nicht mehr gedacht. Und an all die anderen auch nicht.

Seit Tagen kommen sie aus allen Ritzen gekrochen, steigen auf, wo immer sich die Gelegenheit bietet, und sammeln sich wie Nebeltröpfchen in meinem Bewusstsein. Manche haben keinen Namen, manche kein Gesicht, aber alle haben eine Geschichte. Ich habe sie nicht gerufen, etwas hat sie aufgeweckt, hervorgelockt, als ob sie auf ein Zeichen gewartet hätten.

Thees also. Thees war, was man wohl eine treue Seele nennt, ein Freund, ein Beschützer, der immer auf seine Chance gewartet hat und darauf, dass sich das ganze Treusein und Beschützen eines Tages auszahlen würde. Ich war kaum auf der Party angekommen, da stand er schon neben mir. Er plapperte und tanzte um mich herum und machte sich zum Affen. Später hat er versucht, Affenherzen in Schweine zu transplantieren, für seine Doktorarbeit. Die Übertragung eines funktionsfähigen Herzens von einer Spezies auf die andere. Was für eine Idee! Fast immer ging es schief, und wenn einmal ein Schwein mit seinem Affenherzen ein paar Monate überlebte, galt es als großer Erfolg. Heute ist man da vermutlich weiter. Ich glaube, er ist tatsächlich Herzchirurg geworden, so ein dicker Oberarzt irgendwo in Deutschland. Man konnte damals schon erahnen, dass er dick werden würde, aber das war es nicht, warum aus uns nie etwas geworden ist.

Wir gingen aus, mit anderen und ohne. Er kochte für mich in seiner Wohnung unterm Dach, die in einem der entfernteren Stadtteile im Süden lag. Mein möbliertes Zimmer lag mitten in der Altstadt, mit dem Fenster zum Hof der Alten Universität und drei Minuten Fußweg zum Englischen Seminar. Ich musste ziemlich weit radeln, um zu ihm zu kommen. Er hatte eine Flasche Wein und einen Wok, den er virtuos bediente. Er dozierte über die Kunst des Wok-Kochens und zwischendurch warf er Brocken aus seiner Biografie ein, erzählte von seiner Freundin zu Hause, dass sie nicht mit nach Freiburg gekommen sei. Ich ging im Zimmer umher und machte Bemerkungen über die Sportgeräte, die überall herumstanden und herumlagen, Hanteln und Tennisschläger und ein Snowboard, ein Lenkdrache, selbst das Mountainbike hatte es bis unters Dach geschafft. Ich spürte, wie sein Blick mich verfolgte, und fing an, von Friedrich zu erzählen, dass er auch so ein Supersportler sei und auch Medizin studieren wolle, aber erst noch Zivildienst machen müsse. Dass er nicht mit nach Freiburg gekommen war, erzählte ich an diesem Abend nicht.

Als fünf Jahre später die Beziehung mit Friedrich zerbrach, lieh Thees mir sein Auto, um zu Theresa über den Schwarzwald nach Tübingen zu fahren, damit ich heulen kann und auf die Männer schimpfen. Ich war eine ungeübte Autofahrerin und ängstlich, aber diese Fahrt musste ich machen. Auf dem Rückweg geriet ich bei Hinterzarten in eine Polizeikontrolle. Reine Routine, und doch fühlte ich mich ertappt. Es war nicht mein Wagen, und ich wusste nicht, wo die Fahrzeugpapiere zu finden waren. Mit rotem Kopf wühlte ich im Handschuhfach. Dann musste ich aussteigen und hinter den beiden Polizisten in ihren VW-Bus klettern. Der Jüngere setzte sich mir gegenüber und blickte mich erwartungsvoll an, ohne zu lächeln. Ich entschloss mich zur Flucht nach vorn und gestand. Ich gestand, dass es das Auto eines Freundes war, und der junge Polizist glaubte meine Geschichte, aber seine Augen schienen zu sagen: Du lügst doch! Es ist verlogen, einfach sein Auto zu nehmen und Thees in der Hoffnung zurückzulassen, dass nun alles gut werden würde.

Die letzte Erinnerung, die ich an Thees habe, ist eine Nacht in meinem Zimmer am Seepark, wohin ich inzwischen umgezogen war. Er war damals schon aus der Stadt weggezogen, Praktisches Jahr irgendwo in der Schweiz. Wir saßen lange auf den warmen Bodenplatten vor der Terrassentür und schauten über das kurze Rasenstück, das in eine verwilderte Brache überging. Durchs Dickicht konnte man den See erahnen. Er rauchte, was ich nicht leiden konnte. Aber es ging mich nichts an. Wir tranken das Bier, das er mitgebracht hatte, und als ich nach drinnen ging, um eine Flasche Rotwein zu holen, fragte er mich, ob er über Nacht bleiben könne. Schweigend reichte ich ihm das Glas. Er meine natürlich nur so, übernachten eben, deshalb, er hob das Glas ein wenig an. Ja, klar, sagte ich. Zu viel Alkohol, nicht Auto fahren. Bestechend logisch und vernünftig. Er baute sich aus Kissen und Wolldecken ein Lager dicht neben meinem Bett. Es war der einzige Ort, der genügend Platz bot sich auszustrecken. Ich zog mich in meinem kleinen Bad um, Sommerpyjama, er sich bis auf die Unterhose aus. In der Dunkelheit hörte ich, wie er gleichmäßig atmete. Sein Atem war ruhig, aber flach, nicht der Atem von jemandem, der tief schläft. Es war der Atem von jemandem, der auf etwas wartet. Geduldig. Warum ist eigentlich nie etwas aus uns geworden? War das mein Gedanke, oder hatte er diesen Satz tatsächlich ausgesprochen? Von irgendwoher war dieser Satz aufgetaucht und stand in dem dunklen halben Meter zwischen uns.

Mit den zwei CDs in der Tasche steuere ich das Kolben-Café an. Das gibt es schon viel länger als mich in dieser Stadt, und obwohl mit den Jahren noch ein paar Orte mit gutem Kaffee dazugekommen sind, bleibe ich ihm treu.

Der Verkäufer im Musikgeschäft vorhin war gut informiert und kaum zu stoppen gewesen. Vermutlich passiert ihm das nicht alle Tage, dass sich jemand für die Nische interessiert, die sein Steckenpferd ist. Er schwärmte von einem Konzert in Marseille, da habe er Stéphane zum ersten Mal gehört, vor langer Zeit, in einem winzigen Saal. In Frankreich gebe es eine treue Fangemeinde dieser eigentümlichen Verbindung aus Poesie und Musik, aber leider werde so etwas selbst im französischen Radio kaum mehr gespielt, und so weiter und so weiter. Er tauchte unter der Theke nach Raritäten, die er mir zeigen wollte, verschwand in den Tiefen des Lagers, obwohl der Laden voller ungeduldiger Weihnachtseinkäufer stand, kehrte mit einem Stapel CDs verschiedener Künstler zurück, die er mir alle ans Herz legen wollte. Am Ende sah ich trotzdem davon ab, mehr zu kaufen, als ich vorgehabt hatte. Ich wolle ja nicht gleich ein Hobby oder eine Wissenschaft daraus machen, sagte ich entschuldigend. Für den Moment sei mir der eine Sänger genug.

Es waren auch Künstler dabei gewesen, die Stéphane in unserem langen Gespräch am Samstagmorgen erwähnt hatte. Ich war nach dem Frühstück bei einem der Schriftsteller sitzen geblieben, von dem ich nichts wusste, als dass er sich einen Namen gemacht hatte und schon lange im Geschäft war, und hatte versucht, den einen oder anderen brauchbaren Satz in dem zu entdecken, was er über sein Schreiben und seinen Alltag erzählte. Er nenne sich lieber Autor als Schriftsteller, sagte er, das würden die meisten so halten. Ich fragte mich, ob das eine Demutsgeste sei, echt oder geheuchelt. Ich mag den altmodischen Begriff Schriftstellerin, da doch die ganze Berufswahl sowieso eine einzige Anmaßung und Selbstüberschätzung ist. Man hofft, irgendwann einmal etwas zustande zu bringen, das den Namen Kunst verdient. Darauf legt man es an, muss man es anlegen. Das kann man dann ruhig auch sagen.

Stéphane hatte sich einfach zu mir und meinem Kollegen gesetzt. Er setzte sich neben mich, nicht direkt, sondern mit einem Stuhl Abstand, auf den er das Magazin legte, das er sich zum Lesen mitgebracht hatte. Als der andere aufbrach, blieb er sitzen. Und als er sich noch einen Kaffee holte, blieb ich sitzen. Als uns die Wirtin vom Tisch vertrieb, den sie fürs Mittagessen herrichten wollte, wechselten wir gemeinsam an einen Tisch nebenan. Als er nach draußen zum Rauchen ging, ging ich mit, obwohl ich nicht rauche. Es hätte genügend Gelegenheiten gegeben, unser Gespräch zu beenden. Wir hätten uns voneinander lösen und einfach auseinandergehen können. Ich denke zurück an diesen Morgen und sehe, wie wir Seite an Seite in unsere Kaffeetassen schauen und übers Geschichtenerzählen in der Musik und in der Literatur sprechen, woher sie kommen, die Geschichten, was sie hervortreibt und herbeilockt, warum manche unausweichlich sind und manche nie erzählt werden. Ich sehe ihn an der Ecke des Wirtshaustisches sitzen und von seinen Töchtern sprechen und vom Fangenspielen, und ich erinnere mich, wie gerne ich die Hand ausgestreckt und sie an seine Wange gelegt hätte, um besser in seine blauen Augen schauen zu können und etwas Wesentliches von ihm zu erfahren. Ich sehe uns draußen auf der Treppe beieinanderstehen und erinnere mich, wie ich den Impuls unterdrücke, meinen Arm unter seinen zu schieben und mich an ihn zu lehnen. Das war der Moment, in dem ich gegangen bin, um, wie ich sagte, doch noch die Lesung meines Kollegen zu besuchen, für die ich spät dran war, und in der ich mich dann sehr gelangweilt habe.

Stéphane schreibt: Ich möchte nicht in einer Geschichte vorkommen. Ich schreibe meine Lieder auch nicht nach der Wirklichkeit.

Ich denke: Nicht in einer Geschichte vorkommen? Das tust du doch längst. Oder woher kommen deine Lieder? Und was soll das sein, die Wirklichkeit? It’s all in your head, baby. Alle Künstler lügen. Ich werde wohl auch nicht ohne Lügen auskommen. Schon mein erstes Buch war von vorne bis hinten zusammengelogen. Aber eins nach dem anderen.

Ich biege in die Gasse ein, die zum Kolben-Café führt, passiere das Eckhaus mit der Studentenverbindung. Hinter einem dieser Fenster gab es mal einen, der war Volkswirtschaftler. Ich versuche mich zu erinnern, wie ich ihn kennengelernt hatte. Seminare oder Vorlesungen scheiden aus. Es fällt mir nicht ein. Er war aus der Gegend, stammte aus einer Kleinstadt an der französischen Grenze, deren Name mir nichts sagte. Wir hörten Hiphop und House in seinem Zimmer hinter diesem Fenster und hatten uns nicht viel zu sagen. Wenn er redete, dann redete er über Techno-Partys und schwärmte für Straßburg und Mulhouse und überhaupt für die Franzosen, die so viel lässiger seien als die langweiligen Deutschen.

Unsere erste größere Unternehmung führte dann auch gleich ins Elsass. Es war kurz vor Weihnachten, wie jetzt, und wir waren im Ballett. Schwanensee. Oder Nussknacker? Ich fror, sehr sogar, weil ich mit meiner Vorstellung von den lässigen Französinnen hatte mithalten wollen und einen kurzen Rock und hohe Schuhe trug. Im Theater war es wenigstens warm. Die Aufführung langweilte mich, Tschaikowski langweilte mich, wie immer schon, am langweiligsten aber war er. Jeder Versuch, ein Gespräch in Gang zu bringen, mündete nach zwei, drei Sätzen in ein Schweigen der schwer erträglichen Sorte. Auf dem Rückweg zum Auto hielt er ein bisschen meine Hand und legte ein bisschen seinen Arm um mich, während ich eine monströse Erkältung in mir aufsteigen fühlte. Ich rächte mich, indem ich beiläufig von Friedrich erzählte, und dass er nach Freiburg kommen werde, um als Rettungssanitäter zu arbeiten, weil er auf seinen Studienplatz warten müsse. Sein Abi-Schnitt sei bei Weitem nicht gut genug gewesen. Und schon gar nicht so gut wie meiner.

Heute frage ich mich, warum sich der Volkswirtschaftler immer noch weiter mit mir treffen wollte. Und warum ich immer noch weiter hingegangen bin. Vielleicht aus Langeweile. Oder Mitleid. Oder weil die anderen in seiner Verbindungs-WG so munter waren. Jedes Mal aufs Neue aber, wenn sich die Tür zu seinem Zimmer hinter uns schloss, fror langsam alles ein. Eines Abends legte er U2 in den CD-Spieler, I still haven’t found what I’m looking for, und kramte ein Gedicht hervor. Das habe er vor einiger Zeit für eine Freundin geschrieben, log er und verstummte. Von betörendem Duft, unbeschreiblichem Gefühl, Anmut, Grazie, gar Vollkommenheit, vom Unglaublichsten, was die Natur je erschuf, bis hin zu den glühenden Augen der Sphinx und dem Lächeln der Sirenen war alles dabei. Ich hatte das Werk in wenigen Augenblicken überflogen. Jetzt tat er mir wirklich leid. Ich betrachtete das Blatt deutlich länger als nötig, dann lächelte ich ihn an. Schön, log ich und gab es ihm zurück. Was ist aus ihr geworden, fragte ich im Aufstehen. An seine Antwort kann ich mich nicht erinnern. Am nächsten Tag fand ich einen Umschlag in meinem Briefkasten, darin war das Gedicht. Mit der Hand hatte er dazugeschrieben: Nur Bewunderung, Jens. Genau. Jens hieß er. Oder Jan?

Ich sitze vor meiner Tasse Cappuccino und hätte Lust, im Internet nach Jens zu suchen, aber mir fällt nicht ein, wie er mit Nachnamen hieß. Warum sind es die Namen, die man als Erstes vergisst? Ich kann mich an Einzelheiten erinnern, an den Klang einer Stimme, an einzelne Sätze, aber an Namen erinnere ich mich oft nicht.

Ich lasse Jens Jens sein und tippe Stéphanes Namen in die Suchmaschine. Es ist sein Künstlername, die ersten zwei Buchstaben genügen, an den Rest erinnert sich die Suchmaschine. Ich versuche, mir ein Bild von ihm zu machen, mich an die Oberfläche zu halten, um wieder Distanz zu gewinnen. Das ist doch dieser in Frankreich recht bekannte Sänger, nouveau chanson und so, der mit Frau und Kindern in Straßburg lebt und eine Webseite hat und ein Facebook-Profil. Jeder seiner wenigen, aber regelmäßigen Posts, die vermutlich von einer hübschen Marketingassistentin seiner Plattenfirma hochgeladen werden, zieht eine Unmenge an Loves und Likes auf sich. Vous êtes le poète nouveau de notre génération … Je suis tombée sous le charme … Je n’aime pas, j’adore! Was dachte ich denn?

Es gibt einen Clip mit einem längeren Interview. Die Moderatorin macht große Augen und sagt, er werde geliebt wie kaum einer seit Brel und Gainsbourg. Der Mann in dem Video ist mir fast genauso fremd wie vor unserer Begegnung, nicht unsympathisch, aber fremd. Das gilt auch für die Fotos, die mir das Internet präsentiert. Auf den Bildern, die vor fünf bis zehn Jahren entstanden sind, gefällt er mir besonders gut. Da muss er in etwa so alt gewesen sein wie ich jetzt. Die Bilder sind sehr gut gemacht, von zurückhaltender Künstlichkeit, aber doch künstlich wie eine Imagekampagne. Die behauptete Natürlichkeit, der anscheinend zufällig eingefangene Augenblick, alles ist inszeniert. Ich habe lange genug im Marketing gearbeitet, um das zu sehen.

Was man für ein Bild abgibt. Ich hatte mir Gedanken gemacht, bevor mein Buch auf den Markt kam. Dabei war es weniger die öffentliche Wahrnehmung gewesen, die mich beschäftigte. Realistisch gesehen, würde die sich in sehr engen Grenzen bewegen. Das Debüt einer unbekannten Spätberufenen. Wer würde sich schon dafür interessieren? Was wahrzunehmen wäre: das Buch, eine Satire über Akademikermütter, lustig; die Autorin, eine von den vielen ehemaligen Literaturwissenschaftlerinnen, die das Romaneschreiben anfangen, sobald sie Kinder bekommen. Alles klar. Alles wahr? Niemand würde sich dafür interessieren, wer ich wirklich war.

Auf der Suche nach einem geeigneten Pressebild scrollte ich mich durch unsere digitale Fotobibliothek, Jahre und Jahre rückwärts in der Zeit. Kindergeburtstage, Einschulungsfeiern, Urlaubsfotos, immer wieder Urlaubsfotos: Meer, Strand, Berge, Schnee, Stadtansichten, laufende, kniende, krabbelnde, kriechende Kinder, Kinder in Bauchlage, Kinder in Rückenlage, Taufkinder. Kein Foto von mir, auf dem nicht mindestens noch ein Kind zu sehen war. Kein Foto von mir allein. Erst in den alten Alben tauchten sie auf, als Einsteckbilder oder auf Papier geklebt, alle mit Alexanders analoger Kamera aufgenommen. Porträts von mir wie aus einem anderen Leben. Er hatte davon gesprochen, dass er die Negative einscannen wolle, dann war doch alles liegengeblieben. Ohne professionelle Fotos würde es nicht gehen. Was ich brauchte, waren Bilder, die gleichzeitig zeigten und verbargen, wer ich war.

Die Fotografin steuert ihren alten Kombi übers Land. Sie hat einen ganz bestimmten Ort im Kopf, zu dem sie mich bringen will. Wir sind am Holbeinpferdchen vorbeigekommen, das arme Tier wird immer wieder überpinselt und übersprüht, muss Farben tragen von Ländern, Parteien und Vereinen, Glückwünsche und Parolen auf seinen Flanken präsentieren. Ganz unförmig sieht es aus. Das schlanke Fohlen unter den Farbschichten ist kaum mehr zu erkennen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie es früher ausgesehen hat. Wir reden über gemeinsame Bekannte und die Stadt, in der wir beide leben. Wir gleichen unsere Biografien ab. Gleich alt, der gleiche Blick auf die Welt und das Leben, die Überzeugung, dass man etwas wagen muss, der Anspruch, dass da mehr sein muss als Aufträge und Geld verdienen. Sie erzählt von einem Ex-Freund, der brutale Thriller schreibe und sich vor Rezensionen fürchte, und von ihren Kindern. Ich erzähle von meinen Jungs. Frauen mit Kindern reden ständig über ihre Kinder. Dann reden wir wieder übers Bildermachen, Bilder mit der Kamera und Bilder im Kopf. Wie an dem Morgen, als wir uns zum ersten Mal trafen.

Sie hatte auf meine Anfrage nach Porträtfotos mit einer Einladung in ein Café reagiert. Zum Kennenlernen. Danach wollte sie erst entscheiden, ob sie den Auftrag annimmt. Mir gefiel diese zurückhaltende Annäherung, denn der Gedanke, dass jemand mich und nur mich für eine unendliche Weile durch sein Objektiv betrachten würde, auf der Suche nach einer inneren Wahrheit, die ich womöglich selbst nicht kannte, beunruhigte mich. Das war doch gerade das Schöne an der Schriftstellerei, dass man selbst als Person nur sehr mittelbar in Erscheinung treten musste. In einer Art Rückfall in den Agentur-Modus breitete ich vor ihr aus, was ich zum Thema Autorinnenporträt recherchiert hatte. Ich erzählte von den Händen im Gesicht, unterm Kinn, an der Wange, einhändig oder beidhändig, und von den mit den Insignien der Schriftstellerei ausgestatteten Geschöpfen vor dem Bücherregal, hinter der Schreibmaschine oder gleich mit dem Füller in der Hand, die mir überall begegnet waren. Als ich bei den an die Wand gestellten Menschen vor Sichtbeton, Naturstein oder groben Holzbrettern angelangt war, mussten wir beide laut herauslachen. Das sei alles egal, sagte sie, und ich verstand sofort, was sie meinte.

Der besondere Ort, zu dem sie mich bringt, ist eine unscheinbare Straßenecke in einem kleinen Dorf, eine dieser Ecken, an denen man sein Leben lang vorbeigehen kann, ohne sie zu bemerken. Wir verbringen den ganzen Vormittag dort, viel länger als geplant. Wir stehen rum und reden. Bald schon habe ich vergessen, dass sie auch fotografiert. Sie fragt, ich antworte. Eine der Fragen bringt mich aus dem Konzept. Ob ich Geschwister habe? Früher mal, sage ich ausweichend. Kurz schaut sie hinter ihrer Kamera hervor, dann wechselt sie das Thema. Ich weiß nicht sicher, ob in diesem Moment das Bild entstand, das ich am Ende als Pressefoto auswählte. Es ist ein sehr ernstes Bild. Ganz im Gegensatz zum lustigen Buch.

Das Bild eines Künstlers. Es ist das Bild, das er von sich zeigen will, eine fast lebensgetreue Maske, keine Verkleidung, aber alles ein bisschen in die gewünschte Richtung verschoben. Der fremde Stéphane im Internet ist nicht der Mensch, der mir am Samstagmorgen gegenübersaß. Der Fremde sagt befremdliche Sachen, wie: Ich interessiere mich nicht für mich, Schriftsteller erzählen immer nur von sich selbst, ich singe lieber über die Welt. Keine Sekunde glaube ich ihm das.

Ich schreibe: Ich musste noch eine Weile übers Fangen und Gefangenwerden nachdenken, und warum ich weder gerne nachlaufe noch davonlaufe.

Stéphane schreibt: Wenn man nicht gerne fängt und nicht gerne gefangen wird, ist man dann nicht furchtbar allein?

Allein. Da fällt mir mein kleiner Medizinstudent ein, an dessen Namen ich mich auch nicht mehr erinnern kann. Noch ein angehender Arzt. Aber vielleicht zählt der nicht. Wenn es nach ihm gegangen wäre, wäre er gar keiner gewesen. Ich wünsche ihm, dass er heute etwas ganz anderes macht! Und mein Wunsch fühlt sich noch genauso an wie die Abende, an denen wir auf seinem Bett saßen, und ich seinen Kopf auf meinem Schoß streichelte. Er hatte dunkles, weiches Haar und war schön und traurig. Er hatte mich in einem Club angesprochen, ganz klassisch. Ich sei ihm gleich aufgefallen, meine Art zu tanzen und wie ich angezogen sei (ich weiß noch heute bis zur Unterwäsche, was ich an diesem Abend anhatte), und er habe mich lange beobachtet. Ich sei so anders, so lebendig und unbekümmert. Nichts von dem, was er sagte, war außergewöhnlich oder originell, aber wie er es sagte, mit einer Offenheit, als ob er nackt vor mir stünde. Ich glaubte ihm jedes Wort, und am liebsten hätte ich ihn direkt geküsst, Friedrich hin oder her. Wir trafen uns ab und zu, lasen uns auf seinem Bett gegenseitig Grimms Märchen vor (einen meiner Bände hat er behalten, ob er den wohl noch hat?) und quatschten über Lebensziele und Elternerwartungen. Er interessierte sich sehr für Psychologie, wie mein Bruder und wie alle, die psychische Probleme haben. Vielleicht ist er Psychologe geworden. Aber genauso denkbar wäre es, dass er den Wünschen und Ansprüchen seiner Mediziner-Eltern nicht entkommen konnte. Oder dass er sich umgebracht hat.

Stéphane schreibt: Ich hatte vor dem Festival ein Foto von dir gesehen, da sahst du ziemlich streng und ernst aus. Als ich dich dann in der Realität erlebt habe, warst du so lebendig und irgendwie sprühend. Ich fand dich auch, und das hilft natürlich, très sexy.

Ich hasse es, wenn Alexander das sagt, ich sei sexy. Nach über zwanzig Jahren immer noch! Dann muss ich es sofort ins Lächerliche ziehen.

Alexander sagt: »Schreib doch mal was über mich!«

Ich sage: »Das willst du gar nicht. Aber ich werde wieder schreiben. Ich werde schreiben, um etwas herauszufinden.«

Alexander freut sich über meinen Tatendrang. »Um was geht’s denn?«

»Das Leben und so«, sage ich ausweichend. Es ist der gleiche Satz, den ich schon beim ersten Buch immer verwendet habe, wenn jemand danach fragte. »Ich will nicht darüber reden. Aber ein lustiges Buch wird es dieses Mal nicht.«

Was soll das sein, eine Schriftstellerin? Eine Autorin, die so lange schreibt, bis Kunst daraus wird? Wie kommt man dahin? Wohin soll man gehen? Wie merkt man, wenn man da ist?

Ich verlasse das Kolben-Café und mache mich auf den Nachhauseweg. Ob Spuren von dem, was gerade passiert, nicht doch eines Tages in einem Chanson auftauchen? Ich habe gar keine Lust mehr, seine Musik anzuhören. Ist mir doch egal, wie erfolgreich dieses Bild von einem Künstler ist. Auf dem Festival spielte er nur ein kurzes Set seiner bekanntesten Chansons, so stand es im Programmheft. Das war nicht schlecht, aber überzeugend fand ich es nicht. Als ob ihm nichts Besseres eingefallen wäre oder er dem Auftritt keine rechte Bedeutung zugemessen hätte. Vor zwanzig Jahren ist sein erstes erfolgreiches Album erschienen, seither hat er allerlei Preise eingesammelt, so steht es auf der Webseite seiner Plattenfirma. Auf keinen Fall hätte ich mir auf dem Festival eine CD von ihm gekauft und womöglich signieren lassen. Ich bin doch kein Groupie. Die Oberfläche interessiert mich nicht besonders.

Lichte Horizonte

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