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Wir waren über ein Jahr zusammen, bevor Friedrich und ich auf die Idee kamen, miteinander zu schlafen. Ich ging zum Frauenarzt. Als ich zum ersten Mal die Pille nahm, fürchtete ich mich vor diesem Eingriff in meinen Körper. Mir war, als ob ich eine gefährliche Droge nähme, die mich für den Rest meines Lebens abhängig machen könnte. Das Bild, das mir geblieben ist: Die Nachttischlampe in Friedrichs Zimmer wirft ein rundes Licht auf die Blisterpackung, daneben der Beipackzettel auf dünnem Papier, dichtbedruckt, kleingedruckt. Ich habe ihm vorgelesen, Risiken und Nebenwirkungen. Ich drücke die erste Tablette aus ihrer Plastikblase und hoffe, dass er versteht.

Es folgte die Radtour übers Land, bergauf, bergab zum See. Übernachtung in der Jugendherberge. Die Suche nach einem Plätzchen für unser Vorhaben in der Dämmerung: ein Spielplatz, ein Toilettenhäuschen, die Treppenstufen zum See. Viel Herumgestochere, wenig Rauschhaftes. Wir enden in einer kleinen Pension. Die Wirtin mustert uns und kassiert vorab das Geld, das ein gewaltiges Loch in unsere Ausflugskasse reißt. Das rustikale Bett mit den dicken Federkissen am Nachmittag. Es gibt ein Foto von unseren ineinander verschlungenen Beinen, etwa ab Hälfte der Oberschenkel abwärts. Wo ist das geblieben? Ich habe es genau vor Augen, erinnere mich sogar an die winzige, rote Warze an meinem rechten Fußballen, über die ich mich wochenlang geärgert hatte, und die eines Tages einfach verschwand. Und ich erinnere mich an das lauwarme Gefühl, das die ganze Aktion begleitete. Der Rest ist weg.

Ich versuche, mir ein erfülltes körperliches Erlebnis mit Friedrich zurückzurufen. Wir waren sieben Jahre zusammen, das muss es doch gegeben haben? Aber es ist nichts mehr da. Dafür taucht ein anderes Bild auf: Wir sind in meiner Wohnung in der Innenstadt. Es ist helllichter Tag. Ich liege auf meinem Bett, das fast den ganzen Raum einnimmt, Friedrich daneben, aber ich kann ihn auf meinem Erinnerungsbild nicht sehen. Ich sehe nur mich, ich sehe, dass ich nackt bin. Eine nackte Frau. Nichts an der Frau bewegt sich. Man sieht nicht einmal, ob sie atmet. Der Augenblick wie eingefroren. Die Frau hält still, wie jemand, der auf keinen Fall gefunden werden will. Mit offenen Augen, vollkommen unbedeckt versteckt sie sich. Das Wort frigide habe ich ihm damals trotzdem nachgetragen. Heute glaube ich, dass er verzweifelt war. Er war so ein dummer Junge. Beide waren wir dumm und jung und ohne jede Erfahrung, wir kannten uns selbst nicht, und wir hatten keine Ahnung, wie wir miteinander umgehen sollten, weder mit uns selbst noch mit dem anderen. Und dann kommt mir doch noch ein warmer Moment in den Sinn: In einem dunklen Raum, in den nur schwaches Licht von draußen fällt, betrachte ich mit großen Augen, die seit Stunden an die Dunkelheit gewöhnt sind, diese Linie entlang der Wirbelsäule, und der weiche Schatten meiner Hand beschreibt das Auf und Ab des breiten Rückens, und ich denke, das ist die schönste Stelle eines Männerkörpers.

Stéphane schreibt: Ein Trophäenjäger bin ich nicht, das musst du mir glauben. Aber ein Engel bin ich wohl auch nicht. Hast du Erfahrung in diesen Dingen?

Ich schreibe: Was für Dinge meinst du genau?

Stéphane schreibt: Des intrigues amoureuses, Affären, Liebschaften oder wie immer du es nennen willst.

Die meisten Männer, die ich getroffen habe, seit ich verheiratet bin, waren langweilig und eindimensional. Die Art von Männern, die brav ihre Targets abliefern, sich eine dicke Uhr kaufen und angelesenes Zeug über Wein von sich geben. Das einzig Attraktive war ihre Macht und ihr Status – aber das hat mich nie wirklich interessiert. Und davor? Davor geht die Erzählung so: Ich wollte unbedingt an die ewige Liebe und Treue glauben … Der arme Friedrich! Ich glaube, ich habe ihn völlig überfordert. Vielleicht neige ich dazu, meine Männer zu überfordern.

Ich schreibe: Kann ich dir vertrauen?

Stéphane schreibt: Vermutlich würde dir jedes Schlitzohr sofort versichern, dass du ihm trauen kannst. Es wird dir also nicht viel helfen, wenn ich das schreibe. Aber: Ja, du kannst mir vertrauen.

Mit keinem bin ich so schnell im Bett gelandet wie mit Yannik, und mit keinem so oft. Dabei ging das Ganze vielleicht ein halbes Jahr, kaum länger. Zuerst hatte ich auf der Medizinerparty ein wenig mit einem anderen Kerl geflirtet, der mir sehr gut gefiel, aber er hatte eine Freundin, eine zierliche Medizinstudentin, der man anmerkte, dass sie diesen Mann nicht wieder aufgeben würde. Ich bin sicher, dass die beiden geheiratet und Kinder bekommen haben, und dass sie nie ihren Facharzt zu Ende gemacht hat. Und fast genauso sicher bin ich, dass er nach einer gewissen Zeit, als die Karriere und die Familie liefen, angefangen hat, sich nach anderen Frauen umzuschauen. Ganz diskret natürlich. Lutz hieß er. Wie sie hieß, weiß ich nicht mehr. Auf den ersten Blick war mir klar gewesen, dass Lutz beruflich sehr weit kommen würde, und weil ich auch seinen Nachnamen noch erinnere, finde ich im Internet prompt die Bestätigung: Radiologe, Professor Doktor, mittlerweile in der Schweiz. Er sieht noch genauso aus wie früher, nur alt, und das Alter steht ihm nicht. Es gibt diese Art von hübschen jungen Männern, die schlecht altern, so wie Ivo Pogorelich. Die Hülle seiner Schubert-Platte aus den Achtzigern hatte ich mir damals übers Bett gehängt. Und wie sieht er heute aus!

Yannik war ein Freund von Lutz. Nach ihm kann ich nicht suchen, der Nachname ist weg. Wieder eine Party, dieses Mal irgendwo privat, aber wo genau? Eher Innenstadtlage, denke ich. Jedenfalls war die Bude rappelvoll, eine Wohngemeinschaft, glaube ich. Jetzt hab ich’s: Lutz’ Freundin wohnte dort, und es war ihre Party.

Es war nicht lange, nachdem Friedrich mir mit furchtbar viel Schweigen erklärt hatte, dass er nicht mehr könne. Er war gerade nach Mannheim gezogen, um an seiner Promotion am Deutschen Krebsforschungszentrum zu arbeiten. Aber auch weniger räumliche Distanz hatte unsere Beziehung nicht retten können. Ich schaltete von Erfrieren auf Verbrennen um. Freddy Mercury war noch nicht lange tot, und überall liefen die alten Queen-Platten, Tonight, I’m gonna have myself a real good time … So don’t stop me now!

Wir haben getanzt. Nie vorher und nie nachher hat ein Mann so mit mir getanzt wie Yannik. Ich weiß, wovon ich spreche. Alexander macht immer ein beleidigtes Gesicht, wenn ich sage, ich könne mit jedem alles tanzen, wenn er nur führe. Dabei war es seine Idee gewesen, einen Tanzkurs mit mir zu machen. Bis zum Goldabzeichen haben wir es gebracht, aber selbst in der Zeit, als wir noch regelmäßig zum Tanzen gingen, bestand er auf die immer gleiche Abfolge der Figuren und zählte mit halboffenem Mund leise den Takt mit, obwohl er wusste, dass es mich wahnsinnig machte. Mit Yannik war es, als tanze er mich, als seien meine Bewegungen seine und seine meine. Eine Weile mischte Lutz noch mit. Wir probierten uns im Sandwich-Tanz, einer von vorne, einer von hinten und ich mitten drin, und wir lachten furchtbar viel. Bis Lutz’ Freundin neben uns auftauchte. Ich hatte sie schon eine Weile still an der Tür stehen sehen. Lutz verschwand, und Yannik und ich machten alleine weiter. Dann war der Raum plötzlich leer. Der Freund, mit dem ich gekommen war, war längst nicht mehr da. Er hatte sich nicht verabschiedet. Genau so war’s. Hatte ich vergessen. Ich weiß auch nicht mehr, welche Worte zwischen Yannik und mir gefallen sind, oder ob überhaupt Worte gefallen sind, und ich weiß auch nicht mehr, wie wir den Weg zu meinem Zimmer am Seepark zurückgelegt haben. Aber wenn ich die Augen schließe und es zulasse, taucht da wieder der Rausch im Kopf, im Bauch und zwischen den Beinen auf, ich erinnere mich an die vollkommene Hemmungslosigkeit dieser Nacht oder besser dieser frühen Morgenstunden und all derer, die noch folgen sollten.

Er hatte eine Wohnung im Westen der Stadt, nicht weit vom Seepark, in der ich von da an jede Nacht und dazu den halben Morgen verbrachte. Zwei Zimmer, Küche, Bad, in dieser Wohnung gab es keinen Ort, an dem wir nicht miteinander geschlafen hätten. Erst mit der Zeit fiel mir auf, dass wir uns nie küssten. Wir taten die intimsten Dinge mit allen möglichen Körperteilen, aber wir küssten uns nie, und wenn wir zusammen ausgingen, dann traten wir nicht als Paar auf.

Nur ein Mal. Es war der Silvesterball hoch oben auf dem Tübinger Schlossberg. Noch nie war mir so nach Jahreswechsel zumute gewesen. Ich wollte alles hinter mir lassen, war ganz auf Neuanfang eingestellt. Wir fuhren in Yanniks Auto über den Schwarzwald. An diesem Rastplatz bei Hinterzarten erzählte ich vermutlich meine Anekdote von der Polizeikontrolle. Ich hatte ein atemberaubendes Ballkleid im Gepäck, ausgeliehen aus dem Theaterfundus, roter Samt, enganliegend, schulterfrei, nur am Hals von einem Knoten zusammengehalten, tiefer Ausschnitt. Die roten Riemchenschuhe dazu waren meine eigenen, hatten zum letzten meiner Turnierkleider gehört, das ich längst verkauft hatte. Wir kamen in Verkleidung. Wir bestellten Sekt und Lachscanapés, spielten verliebt, verlobt, verheiratet, als wären wir in einem anderen Lebensjahrzehnt gelandet. Es fühlte sich an, als würde der Ball nur für uns veranstaltet werden, der gedeckte Tisch, das bunte Licht, das Tanzorchester, alles war nur für uns da. Es muss voll gewesen sein, aber ich kann mich an keine anderen Menschen erinnern, nicht einmal an Theresa, die uns überhaupt erst nach Tübingen eingeladen hatte, oder ihre Freunde. Nein, wir waren bestimmt nicht allein gekommen, und doch sind sie alle aus meinem Gedächtnis verschwunden. Da ist nur Yannik im ebenfalls geliehenen Smoking, der aussieht wie gemalt und den ich mir in meiner Erinnerung nur zehn Jahre älter vorstellen kann, als er damals war. Wir tanzen. Seine Hand auf der nackten Haut meines Rückens. Beim Wiener Walzer schaut er mich andauernd an, ich ermahne ihn mit gespieltem Ernst, gefälligst seine Augen von mir abzuwenden, wie wolle er uns sonst unfallfrei durchs Gedränge lotsen? Und überhaupt sei das ganz und gar nicht reglementgemäß. Aber ab und zu bewege ich selbst den Kopf hin und her, um den Drehschwindel noch zu intensivieren. Im Laufe der Nacht war es, als füllten sich Kleid und Smoking mit Leben. Vielleicht war aber auch nur die äußere Lüge nach innen gewandert, bis innere Wahrheit und äußere Verstellung nicht mehr zu unterscheiden waren.

In den frühen Morgenstunden, seine Smoking-Jacke über meinen Schultern, die kaputtgetanzten Schuhe in meiner Hand, wandern wir über das eiskalte Kopfsteinpflaster. Über dem Neckar steht der Nebel. Wir gehen und sprechen, führen ein Zwiegespräch, das so nah ist wie nie zuvor, so nah an irgendeiner inneren Wahrheit wie nie. Für die Dauer des kurzen Weges bis zu Theresas Wohnung scheint an diesem Neujahrsmorgen alles möglich. Wir legen uns erschöpft ins Bett, wie Bruder und Schwester. Binnen Minuten ist er eingeschlafen. Er sieht aus wie ein Schuljunge, wie er daliegt auf dem Bauch, das Gesicht halb ins Kissen vergraben, mit leicht geöffnetem Mund. Mit großer Klarheit sehe ich, wie alles für einen Moment wahr ist und im nächsten schon nicht mehr. Ich weiß, dass ich ihn ziehen lassen muss, und dass ich ihn auch gar nicht haben will, nicht diesen Yannik, nicht den, der er ist, höchstens den, für den ich ihn gerne gehalten hätte. Für einen kurzen Moment halte ich an meinem Bild fest, weil es so schön ist, hänge diesem geliehenen Gefühl nach, wie man ein geliehenes Kleid für einen Abend trägt, als wäre es das eigene. Die roten Schuhe landen in Theresas Müll.

Ich hatte gewusst, dass er in ein paar Monaten nach Amerika gehen würde, um einen Teil seines Praktischen Jahres dort zu absolvieren, und ich hatte keine Illusionen, was seine eingeschränkten Möglichkeiten in puncto Treue betraf. Aber auch wenn das Ende von Anfang an absehbar gewesen war, tat es doch mehr weh, als ich geglaubt hatte. Ich half ihm noch bei der Auflösung seiner Wohnung, zusammen mit Lutz und ein paar anderen aus ihrer Mediziner-Clique. Wir packten alles in einen gemieteten Transporter und brachten es zu seinen Eltern nach Hause, die in einer kleinen Stadt im Schwarzwald lebten. Dort saßen wir dann am Esstisch, und ich musste unaufhörlich lächeln, weil es mir so bizarr erschien, wie Yannik von seiner Mutter umsorgt wurde, und wie der Vater bürgerliche Reden schwang.

Ich war neben Hannes zu sitzen gekommen. Wenn ich mich recht entsinne, hatte er schon auf der Fahrt ganz nah bei mir gesessen. Unsere Helferschar war nicht klein, und im Transporter war es eng zugegangen. Hannes bemühte sich sehr um mich, spielte den aufmerksamen Tischherren. Vielleicht fühlte er sich von meinem ständigen Lächeln ermutigt. Wie sich später herausstelle, war er völlig ahnungslos, was mein Verhältnis zu Yannik anging. Eigentlich naiv, er kannte ihn doch schon viel länger als ich. Ich glaube, Hannes hätte es wissen können. Ich glaube sogar, es war schwerer, sich einzureden, da sei nichts, als es wahrzunehmen. Für die Sache mit Hannes schäme ich mich, für ihn allerdings auch. Er hatte etwas Bedürftiges, und er hatte Vorstellungen von der Zukunft, mit denen er mich nicht verschonte. Einen Jaguar wolle er mal fahren, wie sein Vater. Das sei kein so gewöhnliches Auto. Daimlerfahren könne doch jeder Landarzt. Dabei beobachtete er ängstlich, ob seine Worte auch die beabsichtigte Wirkung auf mich ausübten. Er tat mir leid, denn es war offensichtlich, dass er hoffte, ich würde aus der Exklusivität seines Geschmacks Rückschlüsse auf seine partnerschaftlichen Qualitäten ziehen.

Aus Mitleid nahm ich seine Essenseinladung in den Süden der Stadt an. Kochen und Wein. Zu viel Wein. Er bot mir an zu übernachten, überließ mir sein Bett und machte sich ein Lager auf dem Boden. Wir redeten die halbe Nacht, und in der Dunkelheit des Zimmers begann Hannes sich aufzulösen. Es blieb nur seine Stimme und irgendwann seine Hand, die nach meiner suchte und sich weiter tastete. Nur die Stimme und die Finger auf der Haut. Am anderen Morgen hatte ich einen Kater, nicht nur wegen des Weins. Er lud mich zu einem Ausflug nach Straßburg ein (wieso wollen immer alle nach Frankreich?), und weil ich es nicht übers Herz brachte, ihm abzusagen, standen wir bald darauf stumm nebeneinander auf der Grand Île. Es muss ein Foto davon geben! Ich erinnere mich dunkel an ein paar Fotos. Und dann habe ich noch ein einziges Mal mit ihm geschlafen. In meinem Zimmer am Seepark. Bei Tageslicht. Es war grauenhaft.

Danach erzählte ich ihm von Yannik, natürlich nicht im Detail, aber Hannes flippte völlig aus. Der treibe es doch mit jeder! Das sei ein Schwein sondergleichen! Wenn er das gewusst hätte. Wir müssten sofort einen HIV-Test machen, beide, auf der Stelle! Er spielte sich auf, als sei er der Rächer meiner Ehre und der Retter meines Lebens. Ich ging zu meiner Hausärztin, die sich wie eine Freundin verhielt und bald Entwarnung gab. Dann schrieb ich eine wütende E-Mail an Yannik, der gekränkt reagierte. Ob ich denn tatsächlich glaubte, dass er sich und mich und andere in Gefahr bringen würde? Schließlich sei er Arzt.

Du kannst mir vertrauen. Kann man einem Betrüger vertrauen? Einem Lügner glauben? Man muss die Kategorien verschieben, darf den Betrug nicht Betrug nennen, die Lüge nicht Lüge. Wie immer du es nennen willst. Man muss andere Worte finden, sich andere Worte zurechtlegen, mit denen man das Ding behängt und schmückt, es bekleidet und frisiert, und man muss das Kind zum Schweigen bringen, das laut rufen will, der Kaiser sei nackt und ein Betrug ein Betrug und eine Lüge eine Lüge.

Beim Abendessen erkläre ich den Kindern und Alexander, dass ich vor Weihnachten unbedingt noch Theresa besuchen müsse. Wir hätten uns ewig nicht gesehen, und so könne das Jahr nicht zu Ende gehen. Dass auf halbem Weg zwischen Offenburg und Straßburg die Île du Rohrschollen liegt, eine Rheininsel im Niemandsland zwischen hier und dort, bequem in dreißig Autominuten aus beiden Richtungen zu erreichen, sage ich nur Stéphane.

Alexander sage ich, dass ich bereits am Freitag fahren wolle. Er könne doch einen seiner seltenen Homeoffice-Tage einlegen, ausnahmsweise. Freitag hin, Samstag zurück, das sei doch kein Ding. Alexander grummelt herum, dann konsultiert er seinen Kalender und lenkt ein. Er wundert sich nicht, dass ich unbedingt mit dem Auto fahren und nicht den Zug nehmen will, wo ich mich doch sonst vor der Fahrerei drücke. Tausende Kilometer Urlaubsfahrten musste er deshalb schon alleine bewältigen. Manchmal frage ich mich, wie gut er mich wirklich kennt.

Alexander und ich waren erst ein halbes Jahr zusammen, da zogen wir in eine gemeinsame Wohnung. Eine Beziehung, die sechs Monate lang auf fünfundzwanzig Quadratmetern und in einem neunzig Zentimeter breiten Bett funktioniere, müsse doch erst recht auf neunzig Quadratmetern eine Zukunft haben, versicherten wir uns gegenseitig. Tagsüber schrieb ich an meiner Doktorarbeit und abends, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, fielen wir übereinander her. Nicht lange nach unserem Einzug, ich sehe es mehr wie ein Bild vor mir, denn als Szene, sitzen wir befriedigt im dunklen Wohnzimmer, ich auf seinem Schoß, den Kopf an seine Brust gelehnt. Er streicht mir übers Haar und sagt, wie schön es sei, dass er mich nun vollständig kennen würde. Erst war ich entsetzt, dann habe ich ihn ausgelacht. Ich weiß nicht, ob er es verstanden hat.

Während Alexander unten die Küche aufräumt und sich deshalb für einen modernen Mann hält, suche ich oben auf dem Dachboden nach den Resten meiner alten Tagebücher, in der Hoffnung etwas zu finden, was mir mit meinem neuen Schreibprojekt weiterhilft. Ich glaube zwar, mich zu erinnern, dass ich sie vor langer Zeit peinlich berührt von den Ergüssen einer Heranwachsenden vernichtet hatte, auf alle Fälle noch bevor wir hier ins Haus gezogen sind, aber ganz sicher bin ich mir nicht. Vielleicht ist doch noch etwas von früher übrig.

Im Gerümpelschrank unter dem Dach stoße ich auf alte Reiseführer, Wörterbücher und Lexika. Noch weiter hinten stehen Lehrbücher der Wirtschaftswissenschaften und der Anglistik. A Handbook to English Romanticism, Mad Women in Romantic Writing. Neugierig blättere ich in den roten Taschenbüchern, Geschichte der englischen Lyrik 1 und 2, Abriß der englischen Metrik. Ungelesene Romane füllen in Zweierreihung einen Regalboden, geschenkte Gegenwartsliteratur lebender Autoren von zur jeweiligen Zeit aktuellen Bestsellerlisten, die ich nie gelesen oder nach den ersten Seiten aufgegeben habe. Es sind auch missglückte Geburtstagsgeschenke für Alexander darunter – von anderen Leuten, nicht von mir. Ich habe schon vor einem halben Leben damit aufgehört, ihm Bücher aufzunötigen.

Dann fällt mir das schwarz gebundene Büchlein in die Hand, in dem ich bereits im Gymnasium angefangen hatte, Zitate zu sammeln. Ich lächle über mein schwärmerisches Schülerinnen-Ich und schlage die erste Seite auf. Lese, blättere weiter. Jetzt staune ich doch. Natürlich sind ein paar unvermeidliche Klassiker, Song-Texte und andere kitschige Sachen dabei, auch Jans schwülstiges Gedicht. Es steht sogar sein voller Name darunter. Aber bei so manchem, was ich damals notierenswert fand, bleibe ich noch heute hängen: das Ungenügen der Sprache, die Unsagbarkeit der wahrhaft wichtigen Dinge, das Risiko, das in dem Versuch steckt, sein Leben wirklich zu leben, die Gefahr, sein Leben zu verpassen, weil man nicht lebt, um zu leben, sondern nur, um andere glauben zu machen, man hätte gelebt. Dazu der trotzige Spruch aus meiner eigenen Feder, der in der wilden Zeit entstand, als es mit meiner großen romantischen Liebe zu Ende ging: Lieber hoch hinauffliegen und abstürzen, als immer nur am Boden herumzukriechen, ohne je zu wissen, wie es ist, zu fliegen.

Kurz darauf der letzte Eintrag. Es ist ein Zitat von Umberto Eco, und ich schenkte es Friedrich zum Abschied:

Das Bedürfnis sich zu verlieben: Gewisse Dinge spürt man kommen, man verliebt sich nicht einfach, weil man sich verliebt, man verliebt sich, weil man in der betreffenden Zeit ein verzweifeltes Bedürfnis hat, sich zu verlieben. In solchen Zeiten, wenn du die Lust verspürst, dich zu verlieben, musst du gut aufpassen, wohin du die Füße setzt: Es ist, als hättest du einen Liebestrank getrunken, einen von denen, die dich in das erstbeste Wesen verliebt machen, das dir begegnet. Könnte auch ein Schnabeltier sein.

Lichte Horizonte

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