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2 20. DEZEMBER

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Eden war ziemlich geschlaucht, als sie am nächsten Abend auf dem Denver International Airport ankam. Nachdem sie erst relativ spät von der Weihnachtsparty nach Hause gekommen war, hatte es an diesem Morgen gegolten, ihre Mutter darauf vorzubereiten, dass sie möglicherweise an Weihnachten nicht nach Boston kommen würde, währenddessen sie ihre Siebensachen für den Flug zusammenpackte. Ein Drama mittleren Ausmaßes. Schließlich hatte sie einen Koffer gepackt und war zum Flughafen gefahren. Gemeinsam mit den anderen Passagieren hatte sie darauf gewartet, dass das Gepäck auf dem Rollband ankam, doch so wie es aussah, stand ihr Colorado-Trip von Anfang an unter keinem besonders guten Stern. Ihr Koffer war nicht da. Nachdem die anderen Passagiere, einer nach dem anderen, ihre Gepäckstücke von dem Band genommen hatten, stand sie nach einer Weile einsam und allein im Gepäckbereich und drehte erst dann ab, als das Band nach einer Weile mit einem leisen Ruckeln stehen blieb. Sie seufzte. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, so schnell wie möglich in ihr Hotel zu kommen, eine heiße Dusche zu nehmen, etwas vom Zimmerservice zu bestellen und mit ihrem Fire-TV-Stick fernzusehen. Jetzt hatte sie noch nicht einmal einen Pyjama, den sie diese Nacht tragen konnte, von ihrem Fire-TV-Stick ganz zu schweigen.

Der Schalter, der für Gepäckverlust zuständig war, war glücklicherweise besetzt und nicht besucht. So wie es aussah, war Eden die Einzige, die an diesem Abend ihr Gepäck verloren hatte.

„Guten Abend, Ma’am, was kann ich für Sie tun?“, fragte eine pikiert wirkende Dame mittleren Alters in der roten Uniform der Airline.

„Ich komme gerade von Manhattan, ich war auf Flug AA8346. Mein Gepäck ist leider nicht angekommen“, schilderte Eden ihren Fall.

„Oh, das tut mir leid. Ich bräuchte bitte Ihren Gepäckabschnitt, den man Ihnen in New York beim Check-in gegeben hat.“ Eden überreichte der Angestellten das kleine Papierstück, das sie in ihrem Portemonnaie aufbewahrt hatte, die daraufhin begann, etwas in ihren Computer zu tippen. Sie hoffte inständig, dass ihr Koffer nur auf einem anderen Band gelandet war und bereits in irgendeinem Lagerraum darauf wartete, abgeholt zu werden. Nach einigen Augenblicken zog die Angestellte die Stirn kraus und sah Eden an.

„Tut mir wirklich leid, Miss Jones, aber Ihr Gepäck ist in Florida.“

„In Florida?“

„Offensichtlich wurde es vom System fehlgeleitet. Merkwürdig zwar, dass es nur Ihren Koffer betrifft, aber… das kommt hin und wieder vor. Ist jedoch kein Beinbruch. Wir schicken ihn mit dem nächsten Flug gleich morgen früh zurück, dann ist er im Laufe des Tages hier. Selbstverständlich wird die Fluglinie den Transport zu Ihrem Hotel übernehmen. Darf ich fragen, wo Sie nächtigen?“

„Im Woody Creek Inn“, sagte Eden und die Angestellte tippte wieder auf ihrer Tastatur herum. Sie druckte ein Formblatt aus, auf dem alle Daten der Reise, des Gepäcks und von Eden standen, und legte es ihr zur Unterschrift vor.

„Gibt es hier irgendwo die Möglichkeit, einzukaufen?“, fragte sie die Angestellte. Sie wusste, dass Läden wie Target oder Saks für gewöhnlich keine Shops auf Flughäfen betrieben und sich hier meist große Labels ansiedelten, aber es widerstrebte ihr, sich vorzustellen, noch eine ganze Nacht und einen ganzen Tag in den Klamotten zu verbringen, die sie bereits trug. Erst recht, wo sie auf so königlicher Mission war. Außerdem, so wurde ihr klar, hatte sie weder eine Zahnbürste noch sonstige Körperpflegeprodukte bei sich.

„Eigentlich schon“, sagte die Angestellte, „allerdings haben diese Läden bereits geschlossen. Die machen um neun Uhr dicht und öffnen erst morgen früh um sieben wieder. Aber ich darf Ihnen im Namen von United dieses kleine Notfallset hier zur Überbrückung überreichen.“ Sie drückte Eden einen kleinen, durchsichtigen Plastikbeutel in die Hand, der eine ebenso kleine Plastikzahnbürste, eine winzige Tube Zahnpasta und ein Fläschchen enthielt, dessen Inhalt man offenbar zum Duschen und zum Haarewaschen benutzen konnte. Der gesamte Inhalt war mit dem Logo der Airline bedruckt.

Eden seufzte. „Vielen Dank“, sagte sie, nahm ihr Formblatt vom Schalter und verstaute es in ihrer Handtasche. Vielleicht hatte sie Glück und ihr Hotel hatte einen Souvenirshop und einen Reinigungsservice. Ein Umstand, auf den sie jedoch nicht zu hoffen wagte, immerhin würde es sie in eine Kleinstadt in Colorado verschlagen. Leicht resigniert begab Eden sich zu dem Schalter von Budget, bei dem ein Mietwagen für sie angemietet worden war. Ein gelangweilt aussehender, pickliger Junge von vielleicht achtzehn Jahren saß hinter dem Schalter und sah sie kaugummikauend an.

„Hallo, mein Name ist Eden Jones. Es müsste ein Wagen für mich reserviert sein“, sagte sie. Der Junge tippte – wie zuvor die Angestellte beim Gepäckverlust – etwas in seinen Computer.

„Tut mir leid, Ma’am, hier is’ nichts drin“, sagte er unmotiviert.

„Dann vielleicht auf Glamerica New York? Das ist das Magazin, für das ich arbeite.“

Der junge Mann sah Eden verständnislos an, ehe er noch einmal in die Tasten haute. „Nein, tut mir leid, auch nichts. Haben Sie die Reservierungsbestätigung bei der Hand?“

Eden fiel ein, dass sich die Mappe mit ihren Reiseunterlagen und den Infos, die sie über die Familie Preston gesammelt hatte, in ihrem Koffer befand.

„Nein, tut mir leid. Die ist gemeinsam mit all meinen anderen Reiseunterlagen in meinem Koffer. Und der befindet sich in Florida.“

Der Junge sah sie an. „Tja, tut mir leid, Ma’am, aber ich habe hier keine Reservierung für Sie. Außerdem habe ich ohnehin keinen verfügbaren Wagen mehr.“

„Was? Aber ich muss weiter nach Woody Creek“, sagte Eden genervt. Sie hatte die Nase voll von diesem Job, und mittlerweile pfiff sie auch auf die Beförderung, die Dean ihr in Aussicht gestellt hatte. Wenn sie daran dachte, dass sie an diesem Tag eigentlich nach Hause hatte fahren wollen und jetzt mit ihren Eltern auf der gemütlichen Couch vor dem Fernseher sitzen und die selbst gebackenen Weihnachtskekse ihrer Mutter essen könnte, wurde ihr ganz wehmütig.

„Das können Sie sich heute wohl abschminken“, sagte der Junge. „Morgen Mittag bekomme ich den ersten Wagen wieder rein; wenn alles in Ordnung ist, können Sie ihn um eins haben.“

„Ich brauche den Wagen aber nicht morgen um eins, sondern heute und jetzt“, sagte Eden aufgebracht. Ihr Geduldsfaden war kurz davor, zu reißen. „Hören Sie“, sagte sie etwas besänftigter, „ich muss dringend weiter, es steht viel auf dem Spiel. Ich könnte … meinen Job verlieren, wenn ich heute Abend nicht nach Woody Creek komme.“ Ein bisschen schwindeln hatte noch nie geschadet, und wie es den Anschein hatte, trug Edens kleine Notlüge tatsächlich Früchte. Der Bursche sah sie mit einem Ausdruck der Skepsis und des Mitleids an. „Es ist wirklich sehr, sehr wichtig, verstehen Sie?“, legte sie noch nach. Der Bursche sah sie einige weitere Augenblicke an. Dann wirkte er fast so, als habe er einen Geistesblitz gehabt. Er erinnerte Eden an Wickie, den Wikingerjungen aus der Zeichentrickserie, der immer Sternchen sah und „Ich hab’s“ rief, wenn ihm etwas einfiel.

„Ja, wissen Sie, Ma’am, ich habe da vielleicht doch noch einen Wagen für Sie“, sagte der junge Mann jetzt. Eden hätte ihm am liebsten eine geklatscht. Wieso sagte er zuerst, es gäbe keinen freien Wagen mehr, und dann schüttelte er plötzlich noch einen aus dem Ärmel? Doch anstatt ihm an die Gurgel zu springen, schenkte sie ihm ein Lächeln.

„Ich nehme ihn“, sagte sie, aber der Junge winkte ab.

„So einfach ist das nicht.“ Er lächelte und entblößte dabei eine Reihe gelblicher Zähne, die Kontakt mit Colgate wieder einmal dringend nötig gehabt hätten. „Ich muss erst meinen Dad fragen, ob ich Ihnen diesen Wagen geben darf. Er macht hin und wieder ein paar Mätzchen.“

„Mätzchen?“, wiederholte Eden, doch der junge Mann ging nicht mehr auf sie ein. Was für ein Wagen machte bitte „Mätzchen“? Und welche Mätzchen konnte ein Wagen schon machen? Weigerte er sich, auf gewissen Parkplätzen abgestellt zu werden, oder schmeckte es ihm nicht, wenn man in den vierten Gang hochschaltete? Der Junge nahm keine Notiz mehr von Eden. Stattdessen wählte er auf seinem Tischtelefon eine Nummer und wartete einige Augenblicke. Eden seufzte und drehte sich um. Das alles begann ja schon großartig. Wenn das hier so weiterging, wollte sie sich besser nicht vorstellen, was dieser Trip sonst noch so für sie bereithielt. Sie war nicht einmal eine Stunde in Denver, da hatte sie bereits ihr Gepäck verloren, bekam keinen Mietwagen und … Wenn es so weiterging, war ihr Hotelzimmer bestimmt längst an jemand anderen vergeben worden und sie würde die Nacht wohl unter einer Brücke verbringen müssen.

„Miss?“ Sie drehte sich um und der Junge von Budget grinste sie an.

„Ja?“

„Wenn Sie eine Verzichtserklärung unterzeichnen, kann ich Ihnen den Wagen geben“, sagte er.

„Eine … Verzichtserklärung? Wozu denn eine Verzichtserklärung?“, wollte Eden wissen.

„Na ja, der Wagen macht wie erwähnt hin und wieder ein paar Mätzchen. Nichts Schlimmes. Aber manchmal geht die Zündung einfach so aus, und dann dauert es eine Weile, bis sie wieder angeht. Wir wollen uns nur absichern, dass Sie uns nicht dafür verantwortlich machen, wenn Sie wegen des Wagens Ihren Termin verpassen oder so.“

„Wie, die Zündung geht aus?“, fragte Eden. Ihr war nicht sonderlich wohl dabei, mit einem Wagen, der „Mätzchen“ machte, quer durchs Land zu fahren.

„Na ja, offenbar gibt es ein Problem mit der Elektronik. Nächste Woche kommt er in die Werkstatt, dann sollte er wieder laufen.“

„Und wenn die Zündung ausgeht, was dann?“

„Dann warten Sie ein paar Sekunden, starten ihn neu, und er schnurrt wieder wie ein Kätzchen.“ Der picklige Junge grinste sie dämlich an.

Eden überlegte. Ganz wohl war ihr bei der Sache nicht. Ein Wagen, bei dem die Möglichkeit bestand, dass einfach so die Zündung ausging, war nicht gerade ungefährlich, noch dazu, wo sie eine ganz schöne Strecke zurückzulegen hatte. Was, wenn sie dadurch einen Auffahrunfall provozierte? Oder mitten in der Nacht irgendwo liegen blieb? Die andere Alternative, die sie hatte, war, hier am Flughafen zu übernachten. Dazu hatte sie wirklich keine große Lust. Außerdem würde Dean ihr die Hölle heißmachen, wenn sie keine Infos über die Prestons zusammentrug und – Gott bewahre – ein anderes Magazin ihr am Ende tatsächlich zuvorkam. Und dieser Typ würde ihr doch den Wagen nicht wirklich vermieten, wenn tatsächlich Gefahr im Verzug wäre, oder?

„Und Sie sind sicher, dass der Wagen mich problemlos nach Woody Creek bringt?“

„Klar. Wenn Sie in Kauf nehmen, dass er hin und wieder abstirbt.“

Sieh mal einer an. Aus „ab und zu“ war mittlerweile „hin und wieder“ geworden.

„Sie bekommen 25 % Rabatt auf den Mietpreis. Der Wagen hat Vollausstattung, Sitzheizung, Navi, beheiztes Multifunktions-Lederlenkrad …“

„Ich nehme ihn“, sagte Eden, ehe sie es sich anders überlegen konnte. Es machte bestimmt Sinn, jetzt noch nach Woody Creek zu fahren. Diesen fürchterlichen Tag wollte sie schnellstmöglich hinter sich lassen.

Kurze Zeit später saß sie hinter dem Steuer eines 2017er Toyota Avensis und der Junge bei Budget hatte ihr nicht zu viel versprochen. Der Wagen fuhr sich großartig, die Sitzheizung wärmte ihren Hintern perfekt und auch das Innere des Wagens hatte sich bereits angenehm aufgeheizt. Sie hatte die Heizung auf volle Leistung eingestellt und aus dem Radio drang Weihnachtsmusik. Langsam fiel die Spannung von ihr ab, auch wenn sie sich immer noch darüber ärgerte, dass ihr Gepäck nicht mitgekommen war. Aber vielleicht hatte sie ja Glück und sie entdeckte irgendeinen Supermarkt, der um diese Zeit noch geöffnet war. Sie würde sich dort zwar nicht mit grenzenloser Haute Couture eindecken können, aber auf jeden Fall Sportklamotten, eine Jogginghose und ein Shirt finden. Und vielleicht etwas zu essen und zu trinken. Ihr Magen knurrte, das letzte Mal, dass sie etwas gegessen hatte, war mittlerweile schon einige Zeit her. Das Navi zeigte ihr noch eine Fahrtzeit von knapp zwei Stunden an und bislang hatte der Wagen weder Aussetzer gehabt noch „Mätzchen“ gemacht. Und gerade als sie darüber nachdachte, dass sie Glück haben könnte und ohne Probleme ihr Ziel erreichte, passierte es. Mit einem Moment wurde das Armaturenbrett schwarz, der Motor ging aus, die Lenkradsperre aktivierte sich und der Wagen rollte einige Meter die Straße entlang, ehe er träge zum Stehen kam. Eden seufzte. Gut, dass diese Straße hier absolut unbefahren war. Sie drehte den Zündschlüssel auf die Position 0 und wartete einige Augenblicke. Dann startete sie den Wagen erneut und der Junge von Budget hatte Recht behalten – er schnurrte wie ein Kätzchen.

Eine weitere Stunde später hatte Eden bereits einen großen Teil der Strecke zurückgelegt. Der Wagen nervte sie mittlerweile. Fast im Fünf-Minuten-Takt ging der Motor aus, ließ sich aber glücklicherweise problemlos immer wieder starten. Das Navi hatte sie auf eine unbefestigte Straße gelotst und mittlerweile hatte starker Schneefall eingesetzt. Sie ärgerte sich, dass sie nicht bei dem Motel angehalten hatte, das sie vor zehn Minuten passiert hatte. Sie hätte sich einfach dort ein Zimmer nehmen und am nächsten Tag weiter nach Woody Creek fahren sollen. Eden fuhr Schritttempo und war sich längst nicht mehr sicher, ob sie sich auf dem richtigen Weg befand. Sobald sie im Hotel war, würde sie den Wagen abholen lassen und sich einen anderen organisieren. Damit nach Aspen zu gelangen, wo die Prestons das Fest angeblich verbringen würden, würde ihr Nervenkostüm auf eine harte Probe stellen. Schon passierte es wieder. Das Armaturenbrett wurde schwarz und der Motor ging aus. Eden wartete die üblichen fünf Sekunden, ließ den Motor erneut an und rollte weiter. Der Schneefall war mittlerweile stärker geworden, und sie aktivierte die Scheibenwischer, um die Windschutzscheibe frei zu machen, auf der sich mittlerweile eine ordentliche Schicht Schnee gebildet hatte. Doch nichts passierte. Eden glaubte es nicht. Die Scheibenwischer hatten die ganze Fahrt über problemlos funktioniert. Sie drückte den Hebel für die Scheibenwischeranlage erneut. Nichts passierte, nur der Schneefall wurde stärker und stärker.

„Geh doch an, verdammter Mist“, fluchte Eden, doch die Scheibenwischer rührten sich keinen Millimeter. Die Windschutzscheibe des Toyota war mittlerweile fast völlig zugeschneit. Eden stieg aus und befreite sie vom Schnee, was jedoch nicht sehr viel Wirkung zeigte. Sie setzte sich in den Wagen und rollte einige Meter vorwärts. So weiterzufahren wäre absoluter Irrsinn. Laut Navi hatte sie noch an die fünfzig Meilen vor sich. Die ohne anständige Sicht hinter sich zu bringen, war lebensmüde. Jetzt hatte sie die Wahl. Sollte sie die Nacht hier im Wagen verbringen und riskieren, zu erfrieren oder von irgendwelchen Verrückten überfallen zu werden? Wer sich hier in den Wäldern Colorados so herumtrieb, wollte sie sich lieber nicht ausmalen. Oder sollte sie es wagen, zu dem Motel zurückzufahren, das sie vor einer Weile passiert hatte? Es würde sicher nicht sehr einfach werden, mit derart schlechter Sicht die ganze Strecke zurückzukehren, doch Eden kam es klüger vor, es wenigstens zu versuchen, als hier draußen ganz allein im Wagen zu bleiben. Es würde eiskalt werden, würde sie die Zündung ausmachen und versuchen, hier zu übernachten. Und ob der Tank noch ausreichte, um die Heizung im Inneren die ganze Nacht über am Laufen zu halten, wagte sie auch zu bezweifeln. Im Schneckentempo kroch sie Meter für Meter vorwärts, versuchte immer wieder vergeblich, die Scheibenwischer zu aktivieren, doch bereits nach kurzer Zeit bemerkte sie, dass sich die Rückfahrt nicht so einfach gestaltete, wie sie zunächst angenommen hatte. Sie sah absolut gar nichts da draußen. Auch dann nicht, wenn sie alle paar Meter haltmachte, ausstieg und die Windschutzscheibe von Hand freischaufelte. Es war einfach irrsinnig, und auch wenn das Motel nur ein paar Meilen die Straße hinab sein musste, war ihr spätestens jetzt klar geworden, dass sie es in dieser Nacht nicht mehr erreichen würde.

Eden wusste nicht, wo sie sich gerade befand. Sie hatte es im Schneckentempo geschafft, den Wagen zu wenden, und war in eine Straße abgebogen, von der sie glaubte, sie würde zurück zu dem Motel führen. Die Sicht wurde immer schlechter, obwohl sie sich das kaum vorstellen konnte. Sie ließ die Fensterscheibe herunter. Vielleicht würde sie besser vorwärtskommen, wenn sie, anstatt durch die Windschutzscheibe zu sehen, seitlich aus dem Fenster blickte. Sie konnte den Tempomat auf zehn Meilen die Stunde anschalten und … Blöde Idee. Auch auf diese Weise sah sie kaum etwas, zusätzlich flogen ihr Schneeflocken ins Gesicht, und es war lebensmüde, den Wagen auf diese kuriose Art und Weise zu lenken. Sie rollte langsam weiter und stellte fest, dass sie die Orientierung schließlich völlig verloren hatte. Hatte sie zunächst wenigstens noch gewusst, dass sie auf der Straße Richtung Woody Creek war, so hatte sie jetzt keine Ahnung, wo sie sich befand. Das Navi war auch keine Hilfe mehr. Es sah ganz so aus, als wäre es hängen geblieben, und zeigte eine verzerrte Straßenkarte und Zeichen an, die Eden kaum entziffern konnte. Und dann, als hätte es nicht noch schlimmer kommen können, ging wieder der Motor aus. Eden fluchte, wartete ein paar Sekunden und betätigte die Zündung. Nichts passierte. Sie schob den Schlüssel wieder auf Position 0 zurück, wartete, zündete … und wurde erneut enttäuscht. Sie probierte es wieder und wieder und wieder, aber der Wagen sprang nicht mehr an. Doch er bewegte sich. Eden sah die Landschaft an sich ganz langsam vorbeiziehen, obwohl der Motor des Wagens stumm war. Natürlich. Zu allem Überfluss hatte der Wagen auf einer abschüssigen, vereisten Straße den Geist aufgegeben, sodass er jetzt mit aktivierter Lenkradsperre munter weiterrollte wie ein überdimensionaler, unkontrollierbarer Schlitten. Eden trat mit aller Kraft auf die Bremse, doch der Wagen wurde nur minimal langsamer und ignorierte all ihre Bemühungen, ihn zum Anhalten zu bewegen. Er rollte immer noch den Abhang hinunter und stellte sich leicht seitlich. Panik stieg in Eden auf. Sie drückte ihren Fuß mit aller Kraft auf die Bremse und wartete zwei, drei, vier Sekunden. Dann drehte sie den Zündschlüssel nach rechts, doch … nichts passierte. Sie stellte ihn zurück auf Position null, wartete drei Sekunden, startete erneut und wieder – nichts. Das war doch nicht die Möglichkeit, oder? Eden probierte es noch einmal und noch einmal, doch der Wagen ließ sich nicht mehr starten. Stattdessen rollte er unentwegt die Straße hinunter. Es rumste. So wie es aussah, hatte sie eine Absperrung durchbrochen. Der Wagen rollte unterdessen immer schneller und Eden sah eine Schneewehe vor sich. Mit einem weiteren Rums krachte der Toyota dagegen bohrte sich etwas hinein und blieb stehen. Eden versuchte, ihn wieder zu starten, was ihr nicht gelang und außerdem ohnehin keinen Zweck gehabt hätte. Der Wagen war festgefahren und befand sich auf einer verschneiten Wiese mitten im Nirgendwo. Im Inneren war es noch recht warm, doch Eden wusste, dass sich das sehr schnell ändern würde, wenn der Motor nicht mehr lief. Sie sah an sich hinunter. Sie trug Jeans, ein Shirt und eine Weste, dazu Sneakers und eine leicht wattierte Jacke. Nicht gerade die beste Ausrüstung, um eine Nacht eingeschneit mitten in der Wildnis zu verbringen. Sie sah sich im Wagen um, konnte aber nichts entdecken, was sie über Nacht zumindest einigermaßen warm gehalten hätte. Das Schlimmste war: Sie wusste noch nicht einmal, wo sie sich überhaupt genau befand. Vielleicht konnte man sie mit ihrem Handy orten und aus ihrer misslichen Lage befreien. Natürlich. Immerhin konnte man Smartphones heutzutage mit dem Gesicht entsperren und erst unlängst hatte eine beklagenswerte Glamerica-Leserin im Facebook-Feed des Magazines erklärt, dass ihr Versuch, ihren Verlobten mittels Handyortung zu tracken, gescheitert war, weil er sie dabei ertappt hatte, wie sie seine letzten Standorte abrief. Jetzt musste sie nur noch genügend Akku haben, um einen Hilferuf abzusetzen, und schon würde man sich nach ihr auf die Suche machen. Ein Stein fiel ihr vom Herzen, als sie ihr iPhone aus ihrer Handtasche zog und es aktivierte. Das Telefon reagierte sofort, doch ein Blick auf die Empfangsanzeige ließ eine hässliche Vermutung in ihr wahr werden. Sie hatte keinen Empfang. Null. Nada. Nichts. Keinen. Für einen Augenblick überlegte sie, nach draußen zu gehen und den Hügel, den sie hinabgerollt war, hinaufzulaufen. Möglicherweise hatte sie dort – zumindest vorübergehend – ein Signal, um Hilfe zu rufen. Doch dann fiel ihr ein, dass das Auto auskühlte, sobald sie die Tür öffnete und sie in ihrem Outfit nicht gerüstet war, sich lange Zeit draußen aufzuhalten. Sie ärgerte sich. Das war doch lächerlich. Das hier war das Jahr 2018. Ihr Handy erkannte sie am Gesicht, scheiterte aber dennoch daran, Hilfe zu rufen? Es war möglich, Autos ins Weltall zu schießen, wie Elon Musk das unlängst getan hatte, aber nicht, hier auf der Erde Hilfe zu holen, wenn man in einer Schneewehe steckte? Langsam, aber sicher bemerkte Eden, wie es im Wagen kälter wurde. Es würde nicht mehr lange dauern, bis es hier drin genauso kalt war wie draußen. Sie schüttelte resigniert den Kopf. Das konnte doch nicht die Möglichkeit sein, oder? Würde sie am Ende hier draußen gar erfrieren? Nur, weil sie versucht hatte, eine Beförderung zu ergattern? Weil sie so karrieregeil war, dass sie sogar das Weihnachtsfest für ihren Job ausfallen ließ? Sie wusste nicht, ob es von der Kälte kam oder einfach daher, dass sie total geschlaucht war, als sie feststellte, dass etwas Müdigkeit sich über sie senkte. Sie wusste, dass sie jetzt nicht einschlafen durfte, aber sie war so unsagbar müde. Sie würde einfach ein paar Sekunden die Augen schließen und dann überlegen, wie sie am besten weiter vorging. Noch bevor sie diesen Gedanken zu Ende führen konnte, senkte sich der schwere Schleier des Schlafes über sie.

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