Читать книгу Kashi - Daniela Jodorf - Страница 5
Оглавление1 Prolog
Varanasi
Die Feuchtigkeit des kalten Novembernebels berührte sanft ihr Gesicht und kühlte die Spitze ihrer Nase. Die Feuer der Verbrennungsghats brannten seit ewigen Zeiten und sandten ihren eigenartig süßlichen Geruch mit der Morgenluft durch die gesamte Stadt. Sie hörte das Klingeln unzähliger Glöckchen der Morgen-Aartis in den Häusern und Tempeln an den Ufern des Ganges; kristallklare Klänge, die ihr Herz stärker berührten, als alle anderen Sinneseindrücke dieser frühen Stunde. Sie erlaubte den feinen Vibrationen, ihr Herz zu durchdringen und es in ihrer eigenen, subtilen und geheimen Frequenz zum Schwingen zu bringen. Grundlose Freude regte sich in ihr, die Glückseligkeit des reinen Seins. Sie gab sich der Welle dieser Energie hin, die über ihr Bewusstsein hinweg brandete, beobachtete ihren Anstieg und ihr Versiegen, als sich die Tür zu einer tieferen Ebene der Existenz öffnete, der Stille der universellen Seele. Reines Bewusstsein und reine Energie offenbarten sich als eins in diesem vibrierenden Nichts, das leer von jeglicher Identität, von jeglicher Erfahrung der Zeit und des Raumes war. Kein Objekt konnte sich in dieser Dimension, die vor jeder Existenz lag, manifestieren, kein Ich, kein Du und kein Das. Und doch wusste sie, dass sie dort völlig lebendig war an diesem inneren Ort, der eigentlich kein Ort war. Jenseits jeglicher Identifikation erlebte sie einen Zustand des reinen Seins, der reinen Subjektivität; einen Zustand jenseits des Geistes und der Sinneserfahrung, jenseits von Wahrnehmung und Kognition. Göttliches Bewusstsein umarmte sie und ihr Herz füllte sich mit Liebe, mit der unendlichen Liebe für das Leben. Auch nach so vielen Jahren, die sie schon in der Gegenwart des Göttlichen lebte, huschte ein Anflug von Dankbarkeit durch ihren Geist und zog ihr Bewusstsein zurück in die Welt der Erscheinungen. Zuerst sah sie ihren Körper auf der Terrasse sitzend, eingehüllt in einen dicken Kashmir-Schal. Der Körper saß in meditativer Haltung, das Gesicht war dem Fluss, der ruhig und unbewegt wie ein kristallklarer Spiegel wirkte, zugewandt. Doch dieser Spiegel reflektierte nicht sie, kein Bild ihres eigenen meditierenden Körpers, den sie noch immer mit dem inneren Auge bezeugte. Nein, der Spiegel des ruhig dahinfließenden Ganges zeigte das Bild eines blassen Mannes, der sie mit leeren Augen ansah. Der Mann war ihr so nah, dass sie fast die Hand ausgestreckt hätte, um ihn zu berühren und zu trösten. Sie fühlte seinen tiefen Schmerz, als wäre es ihr eigener. Der Ausdruck seiner Augen sprach zu ihr in der schweigenden Sprache der unausgedrückten Emotionen. Er war verwirrt. Er wusste nicht, wohin er gehen, was er tun sollte. Er war vom Weg abgekommen und hatte die Verbindung zum Göttlichen verloren. Warum nur, fragte sie sich. Was war geschehen? Doch die aufkeimenden Gedanken störten das klare innere Bild. Unvermittelt löste es sich auf und hinterließ die Erinnerung an das Gesicht und den Ausdruck dieser Augen.
In der Hitze des Nachmittags lief sie durch die vollen Gassen der Altstadt. Es war nicht weit zum Haus ihres Lehrers, nur einige Blöcke. Die Leute sahen sie mit einem erkennenden Lächeln an und grüßten mit einem freundlichen “Hello”. Sie passierte das Verbrennungsghat und es überraschte sie, als ihr bewusst wurde, dass sie immer denselben Gedanken dachte und dasselbe Gefühl fühlte, wenn sie an diese Stelle kam. „Dieser Ort ist surreal“, dachte sie. „Er scheint weder Himmel noch Hölle zu sein und doch beides zugleich; er ist so schrecklich und doch so friedlich.”
Ein kalter Schauer lief über ihren Rücken, als sie den Schmerz des letzten Abschieds spürte, den die Toten hier in den Lebenden hinterließen, während sie die rituellen Mantras sangen und in die Flammen starrten, die ihr transformierendes Werk taten und zu Asche verbrannten, was einst ein lebendes, sich bewegendes, fühlendes Wesen gewesen war. Die Tür zum Haus ihres Lehrers stand offen und sie trat leise ein. Er saß auf dem Boden seiner Veranda und erwartete sie mit einem gütigen Lächeln. Sie setzte sich in den Schatten auf ihren Asana, einen kleinen viereckigen Teppich, ihm gegenüber und begann, ihre Sitar auszupacken. Er hielt sein Instrument auf dem Schoß und stimmte es. Die ersten Klänge waren disharmonisch und spiegelten perfekt ihre emotionale Verfassung. Seit der Vision von heute Morgen war sie eigenartig verstört. Und ihr Lehrer wusste das. Er hielt inne und sah sie mit ernstem Blick an.
„Du musst dir um ihn keine Sorgen machen, das weißt du. Er ist sicher und er wird geführt!”