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1 Zweites Kapitel

New York

Der Konzertplan war eng und Paul fand kaum Zeit durchzuatmen oder zu entspannen. Sie spielten in London, Mailand, Wien, Zürich und zuletzt in Berlin. Die deutsche Hauptstadt war mit einer dicken Schneeschicht bedeckt, als das Flugzeug in Tegel aufsetzte. Paul versuchte Berlin wie jedes andere Ziel zuvor zu sehen, aber er konnte die Tatsache nicht ignorieren, dass der Ort für ihn eine andere Bedeutung hatte. Er sah das Gesicht der Frau vor sich, die ihm vor nicht mehr als einem Monat in SoHo seinen Besuch vorausgesagt hatte. Er schüttelte seinen Kopf, um die Vision loszuwerden, aber je stärker sein Widerstand, desto lebendiger wurde sie. Ihre Augen glühten wissend. Sie sprachen von einer Einsichtsfähigkeit, die er noch nie in einem Menschen gesehen hatte. Ohne dass sie es in Worten ausgedrückt hätte, schien ihre ganze Erscheinung zu vermitteln, dass sie wusste. Aber was? Was kannte diese Frau? Seine Zukunft? Es musste mehr sein als das, fühlte Paul, ohne genau zu wissen, warum. Ihre Einsicht ging tiefer, sie war elementarer, universeller. Sie kannte ein verborgenes Geheimnis. Und genauso, wie er vergeblich herauszufinden versuchte, was ihre eigenartige Begegnung in dieser Nacht in SoHo für ihn bedeutet hatte, konnte er die Ängste niederkämpfen, die sie in ihm ausgelöst hatte. Ja, er hatte die Frau und ihre Selbstsicherheit gefürchtet. Und obwohl sie sehr viel über ihn gewusst und sogar seine Zukunft gekannt hatte, misstraute er ihr.

Er fröstelte und löste den Sicherheitsgurt, als das Flugzeug seine Parkposition endlich erreicht hatte. Phil sah ihn an und Paul lächelte.

„Bereit für einen eiskalten Ostwind?“

„Absolut!“ Phil sah ihn trotzig an.

Nach seinem eigenartigen Bekenntnis war Phil Paul gegenüber reservierter als jemals zuvor. Paul hatte versucht, den Riss in ihrer inneren Verbindung mit übertriebener Freundlichkeit zu kitten. Doch wenn er ehrlich zu sich war, dann musste er zugeben, dass er nicht einfach so zu reparieren war. Paul wollte die Gefühle seines Freundes weder verurteilen noch verletzen, und doch ließ ihn seitdem etwas vor Phil zurückschrecken, weil er nicht gelernt hatte, mit offen neidvoller Bewunderung umzugehen. Er war stets davon ausgegangen, dass sie sich auf Augenhöhe begegneten. Doch jetzt musste er erkennen, dass Phil über viele Jahre ein Gefühl der Unterlegenheit vor ihm verborgen hatte. Paul vermied es, mit Phil allein zu sein, doch jeder Akt der Vermeidung löste einen kalten stechenden Schmerz aus.

Der Bus, den Emerson für ihren gesamten Aufenthalt in Berlin gemietet hatte, brauchte über zwei Stunden durch den starken Schneefall zum Hotel in der Nähe des Kurfürstendammes. Paul starrte aus dem Fenster und stellte sich pausenlos dieselben Fragen. Warum Berlin? Was ist so wichtig an dieser Stadt?

Er war müde und fiel auf das Bett, sobald er die Tür seines Hotelzimmers verschlossen hatte. Als Phil anrief, um ihn zu fragen, ob sie gemeinsam zu Abend essen, lehnte er die Einladung ab.

„Ich bin so müde, Phil. Ich muss schlafen. Ich will morgen fit für die Probe sein.“

„Ist alles in Ordnung?“

„Ja. Ich bin nur müde. Wir sehen uns beim Frühstück“, log er, als er den Schmerz der Vermeidung fühlte.

Paul starrte nachdenklich in die Dunkelheit. Er spürte, dass hier in Berlin etwas auf ihn wartete, irgendeine Erfahrung oder Einsicht. Doch was für eine Erfahrung? Welche Erkenntnis? Er war doch nicht das erste Mal in Berlin. Warum jetzt?

Er glitt in einen tiefen, unbewussten Schlaf, in dem Träume keinen Raum hatten. Erst, als die Stadt langsam erwachte, wurde sein Schlaf leichter und erlaubte unterbewussten Bildern Form anzunehmen. Pauls Träume waren für gewöhnlich intensiv, doch der Traum dieses Morgens war anders als alle, die er bisher erlebt hatte. Er sah sich wieder in der Bar in SoHo der hellsichtigen Frau gegenüber. Er erlebte dieselbe Situation im Traumzustand, die er tatsächlich vor ein paar Wochen im Wachbewusstsein erlebt hatte. Doch jetzt im Traum war Paul wesentlich ruhiger, klarer, achtsamer; er konnte viele Details sehr genau erkennen, die er während der tatsächlichen Begegnung nicht wahrgenommen hatte. Er sah das Gesicht der Frau, ihre leicht getönte Haut und ihre grünen Augen, die Sommersprossen auf Nase und Wangen. Erst jetzt wurde er sich ihrer Schönheit bewusst und sah, dass ihre Haut eigenartig golden schimmerte. Paul sah ihre zarten Finger und fühlte ihre Berührung auf seiner Haut wie ein brennendes Feuer der Energie, das er kaum ertragen konnte. Er erlebte erneut ihre dringende Ansprache und während sie sprach, wurde ihm ein leichter Akzent bewusst. Heute war sie ihm vertrauter als jeder Mensch, der ihm bisher im Wachbewusstsein begegnet war. Nicht nur sie kannte ihn, bemerkte er plötzlich, er kannte sie auch besser als jeden in seiner unmittelbaren Umgebung. Ihre Augen ließen nicht von seinen ab, als sie bestimmt sagte: „Du bist nicht der Mann, für den du dich hältst! Wach auf!“ Sein Herz begann schnell zu schlagen, er schwitzte und ein starker energetischer Schmerz lief durch sein Kreuz und die Beine, als er aufwachte, weil er sich hin und her warf und seinen Kopf am Nachttisch stieß. Eine Minute später fror er schrecklich und zwang sich aufzustehen und zu duschen, um mit warmem Wasser die Schatten des Traumes zu verscheuchen. Aber das Wasser konnte das Echo der faszinierenden Stimme der Frau nicht aus seinem inneren Ohr spülen. „Wach auf!“, befahl sie und er wusste, dass sie ihn nicht aus dem Schlaf dieser Nacht wecken wollte.

Als er den Frühstücksraum betrat, waren die meisten Orchestermitglieder schon versammelt. Phil stand auf und winkte. Paul begrüßte jeden, an dem er auf seinem Weg zu Phil vorbeikam. Manche der jüngeren Musiker mussten eine lange Nacht gehabt haben. Sie sahen sehr müde aus.

„Seid ihr in zwanzig Minuten bereit für die Probe?“, fragte er mit einem breiten Grinsen und die meisten nickten überambitioniert.

„Du siehst ausgeruht aus“, öffnete Phil die Konversation.

Paul zeigte seine Überraschung nicht. „Ja, ich habe sehr tief geschlafen, und du?“

„Prima. Ich habe nur ein Sandwich gegessen und bin dann noch in den Schnee hinaus. Diese Stadt hat etwas, das ich wirklich mag.“

„Ich glaube, ich weiß, was du meinst. Berlin ist wirklich besonders.“

Paul nahm nur ein französisches Frühstück, Kaffee und Croissant, und verließ den Frühstücksraum als erster wieder. Am Eingang blieb er stehen und klatschte in die Hände.

„Die Probe beginnt in 10 Minuten im Senator Saal. Seid bitte pünktlich!“

Er ging direkt in den größten Konferenzsaal des Hotels, den Emerson für zwei zusätzliche Proben vor der eigentlichen Generalprobe im Konzerthaus am Gendarmenmarkt gebucht hatte. Natürlich kannte das Orchester sein Programm. Doch Paul hatte gelernt, dass es auf einer Konzertreise wichtig war, ein Konzert an jedem neuen Ort mehr als ein Mal zu proben. Die Musiker mussten sich an Klima, Atmosphäre, Jetlag und viele andere Reisephänomene anpassen. Und je mehr Zeit sie hatten, die Musik und die Qualität der individuellen Umgebung im Spiel zu verschmelzen, desto besser spielten sie. Außerdem war es auf Reisen wichtig für alle, eine tägliche Routine beizubehalten, die die Musiker wach und mit der Musik und dem Dirigenten verbunden hielt.

Die Instrumente waren schon hereingebracht worden. Doch als Paul den riesigen Raum betrat, war er allein. Er sah sich um, um die besondere Atmosphäre zu erfassen und nahm einen tiefen, ruhigen Atemzug. Das Hotel war in den goldenen Zwanzigern des letzten Jahrhunderts errichtet worden, ein historisches Gebäude mit hohen Decken und vielen architektonischen Besonderheiten dieser Zeit. Es erinnerte ihn an sein Apartmenthaus in New York. Paul ging hinüber zum Dirigentenpult und öffnete die Partitur. Jede Note erschien in Form eines Klanges in seinem inneren Ohr, sobald er sie betrachtete. Er erinnerte sich an die Nacht, als er diese Suite geschrieben hatte. Er war früh zu Bett gegangen, aufgerieben von seiner Trennung von Kaya. Sie hatte ihn emotional sehr verletzt. Die Suite spielte in seinem Geist und beruhigte ihn, doch zur gleichen Zeit wühlte sie seine Gefühle - Schmerz und Schuld – heftig auf. Sie wurden stärker und wilder, unbezähmbarer. Kaya hatte recht gehabt. Er hatte sie und Sean zuerst verletzt, vielleicht unheilbar. Es war nur gerecht, dass auch er durch ihre Reaktion und die Konsequenzen seiner Entscheidung verletzt worden war. Als er L.A. verlassen hatte, um nach New York zu ziehen, hatte er nicht gewusst, dass er mit der grausamen Währung der Einsamkeit bezahlen würde.

Das Ensemble betrat in kleinen plaudernden Gruppen den Saal und Paul erwachte aus den untrennbar mit seiner Komposition verwobenen Erinnerungen. „Willst du, dass das Publikum deinen Schmerz fühlt?“, fragte ihn eine innere Stimme eine Sekunde zu spät. Seine Aufmerksamkeit war bereits auf die intensive Probe gerichtet, die vor ihnen lag. Bevor seine Wahrnehmung jedoch vollkommen von seiner Arbeit vereinnahmt wurde, bemerkte er undeutlich seine Rationalisierung: es gibt keine Liebe ohne Verletzung!

Gleich darauf gab es für Paul nur noch seine Arbeit, das Dirigieren, das Zuhören. Für ihn war der Dirigent der einzige im ganzen Orchester, der den Weg, den die Partitur zeichnete, persönlich gegangen war. Er kannte jede Gefahr, jede Klippe, jedes Loch. Er kannte die Sackgassen und auch die schönen Stellen, die Höhepunkte der Reise. Und es war jedes Mal wieder seine Aufgabe das Orchester durch unbekanntes Terrain zu führen, obwohl alle Musiker das Stück schon unzählige Male gespielt hatten. Sie vertrauten darauf, dass er fähig war, sie durch das ganze Stück hindurchzuführen und er war absolut sicher, dass sie fähig und bereit waren ihren Weg zu finden und das Beste aus ihm zu machen. Die Streicher spielten gerade und füllten den gesamten Saal mit einem so reichen und für Paul so bedeutsamen Klang, dass er tief in sich fühlte und sich ganz und gar ergeben musste. Das war reine Schönheit für ihn, Schönheit jenseits von Worten und jenseits von Beschreibungen; die Schönheit des Lebens selbst, die versteckt in allen Dingen und allen Wesen lag. Paul kämpfte die aufsteigenden Tränen nieder. Er war plötzlich völlig überwältigt von dem Wunsch, diese Schönheit in seinem eigenen Leben zu finden, nicht nur in der Musik, sondern im Leben selbst. Er schluckte einige Male stark und hätte fast seine Konzentration verloren, doch dann warfen andere Instrumente das Echo der Streicher zurück und seine Gefühle ließen ihn frei.

Als er aufsah, sah er einen älteren Mann am Eingang stehen. Ihre Augen begegneten sich für einen Augenblick, obwohl mehr als zwanzig Meter zwischen ihnen lagen. Paul sah, dass der Mann – genau wie er - zu Tränen gerührt war. Doch als er das nächste Mal von der Partitur aufblickte, war der Mann verschwunden.

Diesmal wagte Paul nicht, Phils Einladung zum Mittagessen erneut auszuschlagen. Sie liefen gemeinsam durch den Schnee. Warm eingepackt in dicke Jacken, Mützen und Lammfell-Handschuhe sahen sie den weißen Wolken ihres Atems nach, der schimärische Gestalten formten.

„Willst du darüber reden?“ wagte Phil zu fragen, als sie wenig später in einer italienischen Bar in einer kleinen Seitenstraße saßen.

„Reden? Worüber?“ Paul reagierte kalt und defensiv und gab vor, sich auf die Speisekarte zu konzentrieren.

„Etwas belastet dich! Ich befürchte, es könnte mein Eingeständnis sein, dass ich dich bewundere!“

Paul sah aus dem Fenster. Er war nicht bereit, Phil ins Gesicht zu lügen, wollte aber auch nicht zugeben, dass der Freund recht hatte.

„Das ist es nicht. Ich habe dir doch erzählt, dass ich allgemein eine schwere Zeit habe.“

„Wegen der Wahrsagerin?“

„Sie war keine Wahrsagerin!“ Paul schrie beinahe. Seine heftige emotionale Reaktion erschreckte ihn selbst. Der Kellner kam, um die Bestellung aufzunehmen und Paul wollte das Gespräch hier beenden, doch Phil ließ ihn nicht vom Haken.

„Entschuldigung. Ich dachte, sie hätte dir gesagt, dass du nach Berlin reisen wirst, noch bevor du es selbst wusstest.“

„Ja, hat sie, aber sie ist keine Wahrsagerin.“ Paul versuchte in Worte zu fassen, was sie für ihn war. „Sie war eher eine Botin, jemand der mich kennt und mich wissen lassen wollte, dass ich vor großen Veränderungen in meinem Leben stehe.“ Überraschung erfüllte ihn, als er seine eigenen Worte hörte.

„Es ist noch immer wegen des Publikums!?“

Paul atmete tief ein. „Nein, Phil. Und genau deshalb möchte ich auch nicht darüber sprechen. Weil ich einfach niemandem erklären kann, was ich im Moment erlebe und fühle. Ich weiß es ja selbst nicht.“

„Warum versuchst du es nicht. Manchmal hilft das.“ Phil sah ihn unschuldig an und Paul wusste, dass er ihm vertrauen konnte. Er machte sich Sorgen und wollte ehrlich helfen. Paul konnte sein Mitgefühl unmöglich zurückweisen.

„Es ist nicht wegen des Publikums. Ich meine,... Das Publikum ist nicht der Grund für mein mentales und emotionales Durcheinander.“

Phil nickte verständnisvoll. Paul fühlte sich ermutigt, nach Worten und Erklärungen zu suchen.

„Die Zuhörer sind eher wie ein Spiegel, der mir zeigt, dass mit mir etwas nicht stimmt. Ich will mehr oder etwas ganz anderes, als ich kriegen kann, und ich weiß einfach nicht warum!“

„Liegt das an Kaya?“

„Kaya? Nein. Das ist lange vorbei. Ich habe sehr gelitten bevor, während und nachdem wir uns getrennt haben. Aber ich glaube, dass das Schlimmste jetzt ausgestanden ist. Das ist jedoch ein weiterer seltsamer Punkt der ganzen Geschichte. Warum jetzt? Beruflich bin ich so erfolgreich wie nie zuvor und auch privat haben sich die Wogen geglättet.“

„Könnte das eine Depression oder eine Art Burnout sein?“

„Ja, vielleicht. Ich weiß es nicht. Es fühlt sich nicht wie eine Krankheit an. Eher wie eine bevorstehende Veränderung.“

„Was für eine Veränderung?“

„Ich wollte, ich könnte es erfassen, Phil. Ich habe letzte Nacht von der Frau geträumt. Sie hat mich gedrängt aufzuwachen.“

Phil fröstelte und sah Paul ernst an. „Du bist ein sehr glücklicher Mann. Aber ich glaube, du solltest dich auf einige Dinge vorbereiten, die dir nicht gefallen werden!“

„Ich will keine Veränderung. Ich mag mein Leben.“

Phil lachte. „Lass los, Paul. Lerne von deiner Musik. Sie fließt mit jeder Veränderung und am Ende ist es genau das, was ihre Ganzheit und Vollständigkeit ausmacht: ihre Bereitschaft alles zu sein – Freude und Leid, Verlust und Gewinn!“

Sie trennten sich vor dem Restaurant, weil Phil noch ein paar Dinge besorgen wollte. Paul wanderte zunächst ziellos durch die Stadt, deren Atmosphäre ihn noch immer faszinierte. Etwas zog ihn durch den Park in Richtung Reichstagsgebäude. Während des längeren Spaziergangs ließ Paul seinen Gedanken freien Lauf. Sein Blick glitt über Landschaft, Architektur, Autos und Menschen, als er plötzlich den metallischen Klang einer Militär-Kapelle mit seinem inneren Ohr hörte. Paul war geübt darin, beides – innere und äußere Welt – zu unterscheiden und zugleich wahrzunehmen. Er fröstelte, als der innere Klang der Militär-Kapelle lauter wurde und er gleichzeitig hörte, wie Soldaten im Gleichschritt marschierten. In den Klängen lag ein dunkles, alarmierendes Gefühl, das sich noch verstärkte, als korrespondierende Bilder vor seinem inneren Auge auftauchten. Die Soldaten waren in braun-grüne Uniformen gekleidet. Als er im inneren Raum aufsah, erblickte er rote Flaggen mit Hakenkreuzen, dem Zeichen des Naziregimes, die vom Reichstagsgebäude herabhingen. Sein Herz begann so schnell zu schlagen wie am Morgen. Panik stieg erneut in ihm auf. Das innere Bild suggerierte so sehr Gefahr, dass er sich tatsächlich bedroht fühlte. Er blieb abrupt stehen und wendete den Blick nach außen, um sich mit der aktuellen Zeit und dem gegenwärtigen Ort zu verbinden. Er folgte den Autos mit seinem Blick, um sich zu vergewissern, dass dies nicht 1930, sondern 2016 war. Er sah die jungen Leute an, die liefen, Fahrrad fuhren, geschäftig hierhin und dorthin gingen. Sie waren modern gekleidet, benutzen ihre Handys und tranken Kaffee. Paul machte einen Schritt an den Straßenrand und winkte nach einem Taxi. Zum Glück hielt schon wenige Minuten später ein beigefarbener Mercedes neben ihm. Erst, als er das kalte schwarze Leder der Sitze unter sich fühlte, konnte er ein wenig entspannen. Aber die inneren Bilder hielten ihn weiter gefangen.

In der Lobby stieß er mit Phil zusammen.

„Oh, Gott. Du bist total blass. Bist du okay?“

„Ja. Nein. Ich weiß nicht. Ich muss allein sein!“

Phil wusste nicht, was er tun sollte, um Paul zu beruhigen. Besorgt ließ er ihn in den Fahrstuhl laufen und sah ihm hilflos nach, als Paul hinter den schließenden Türen verschwand.

Paul fiel in einen Sessel, ohne seinen Mantel auszuziehen. Sein Herz schlug noch immer heftig, und er konnte die Bilder nicht kontrollieren, die im Schutze des Hotelzimmers über seinen Geist hinweg schwappten, Visionen von Berlin, die über siebzig Jahre alt waren. Er sah viele Orte, an denen er nie gewesen war und wusste doch, dass sie zu jener Zeit existiert hatten. Soldaten und junge Mädchen in Uniform übten Stechschritt. Die ganze Stadt war in eine dunkle, einschüchternde Atmosphäre gehüllt, die jedes positive Gefühl schluckte, sogar jede positive Handlung. Es war ein Albtraum, aus dem es kein Erwachen gab. Erst nach einiger Zeit erinnerte er sich an den Rat, den ihm die Frau in SoHo gegeben hatte: „Sie werden nach Berlin reisen und Sie müssen dort sehr achtsam sein. Für Ihre Gedanken und Gefühle; für alles, was Ihnen zufällig begegnet. Sie müssen auf Ihre innere Stimme hören. Und bitte, beurteilen Sie Ihre Erfahrungen nicht. Sie sind absolut sicher und Sie werden geführt!”

Paul fühlte sich nicht sicher und auch nicht geführt, aber die Stimme der Frau und ihre Worte beruhigten ihn. Sie hatte ihn gewarnt. Vielleicht hatte Phil doch recht und er war ein glücklicher Mann. „Was sagt diese innere Stimme mir in diesen Bildern“, fragte er sich. Sofort gewann er Distanz zu den erschreckenden Szenen und den nötigen Mut, sich ihnen zu stellen. Sie zwingt mich, zurück zu sehen, Berlin so zu sehen, wie es vor mehr als einem halben Jahrhundert gewesen ist. Gleichzeitig zeigt sie mir das heutige Berlin, die lebendige, kreative Stadt, einen Ort der Einheit, wo Ost und West wiedervereinigt worden sind, eine moderne, kosmopolitische Stadt. Er wagte es, sich auf die Bilder der Vergangenheit zu konzentrieren. Die Atmosphäre der Jahre vor Ausbruch des Krieges, die Manipulation der Deutschen durch das Nazi-Regime und seine Propaganda, die Vorbereitung auf und das Training für den Krieg und die Morde an Millionen. Paul sah, wie eine unmenschliche Ideologie den gesunden Menschenverstand einer ganzen Nation verdrängte und geißelte, und er konnte nur einen Gedanken denken: „Gott sei Dank war ich nicht Teil davon!“ Und mit diesem Gedanken endete der Albtraum. Abrupt. Plötzlich war er vorbei und entließ Pauls Wahrnehmung zurück in das Hier und Jetzt.

Bis zum nächsten Morgen versteckte Paul sich in seinem Hotelzimmer. Er ging nicht einmal zum Frühstück, sondern bestellte sehr früh den Zimmerservice. Dann verließ er das Hotel für einen weiteren langen Spaziergang durch die Stadt. Er war fest entschlossen, die Angst nicht sein Verhalten regieren zu lassen und sich den Bildern seines Unterbewusstseins zu stellen. Aber heute schwieg es. Keine Bilder. Keine Visionen. Er lief durch die Straßen und versuchte herauszufinden, was die Sequenz der inneren Bilder gestern ausgelöst haben könnte. Er ging an denselben Plätzen vorbei. Doch sein Geist blieb ruhig.

Zurück am Hotel hatte er noch Zeit für einen starken, heißen Espresso in einer kleinen Bar gegenüber. Sie erinnerte ihn an die Bar in SoHo, obwohl sie viel europäischer wirkte. Er setzte sich an den Tresen und bestellte einen Macchiato. Beim zufälligen Blick in den Spiegel hinter der Theke, erkannte er überrascht das Gesicht des alten Mannes, der gestern der Probe zugehört hatte. Paul stand auf und näherte sich neugierig seinem Tisch.

„Good morning, Sir. Did you listen to our concert rehearsal at the Hotel vis-à-vis yesterday?“ Er zeigte auf den Hoteleingang auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

Der alte Mann sah ihn an, schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern. „No English!“

Paul sah den Kellner hilflos an. „Could you translate for me? I do not speak any German.“

„Ich kann es versuchen“, willigte der Kellner unsicher ein und wandte sich direkt an seinen älteren Gast. „Haben Sie gestern die Probe im Hotel gegenüber gehört, hat der Herr gefragt.“

Der Mann sah Paul mit großen Augen an und nickte.

„May I invite you for tomorrow’s concert at Gendarmenmarkt?“

„Der Herr möchte Sie zu seinem Konzert morgen ins Konzerthaus einladen.”

„Das ist sehr freundlich von ihm. Ich werde gerne kommen. Aber ich habe nämlich schon eine Karte.“ Der Alte lachte.

“He already has a ticket, Sir.”

Auch Paul lachte nun. „May I invite you for a coffee, then?“

„Der Herr möchte Ihnen dann wenigstens einen Kaffee ausgeben.”

„Sehr gern. Aber er muss sich zu mir setzen. Ich würde ihn gerne etwas Wichtiges fragen.“

Paul war nervös. Er zog einen Stuhl zurück und setze sich, während der Kellner stehen blieb.

„Ich kannte seinen Großvater, müssen Sie wissen.“

Der Kellner schien überrascht und übersetzte die Worte fließend.

„My grandfather? Wherefrom?“

“Ich war sein Schüler.”

Paul versuchte zu verstehen, wie das möglich war. Welchen Großvater meinte er überhaupt?

Der schlanke grauhaarige Mann sah Paul ernst an.

„Wo war das?“ musste Paul wissen.

„Hier in Berlin!“

„Er hat keine Verwandten in Berlin“, übersetzte der Kellner Pauls Worte. „Sie müssen ihn verwechseln.“

„Nein, nein! Ich kannte Ihre Mutter und Ihre Großmutter, ebenfalls. Katharina und Susanna.“

Pauls Großmutter hieß Catherine und seine Mutter Susan. Sprach der Fremde etwa die Wahrheit?

„Sie haben das Land im Krieg verlassen müssen. Aber er hat nie wieder von Ihrem Großvater gehört. Wie ist Ihr Großvater mit der schwierigen Situation umgegangen, möchte der Herr gerne wissen.“

„Welche Situation?“

Der Alte sah Paul ungläubig an. In seinen Augen lag ein tiefer Schmerz. Er nahm Pauls Hand und sagte: „Sorry, boy. Ich muss mich geirrt haben. Bitte entschuldigen Sie.“

Dann stand er auf und verließ die Bar.

Der Kellner sah Paul verstört an. „Sind Sie okay? Was war das?“

„Ich habe keine Ahnung. Er muss mich für jemand anderen gehalten haben.“

„Sind Sie sicher? Ich meine, ich weiß nicht... Er schien Sie zu kennen, er kannte Ihre Arbeit, er kommt sogar zu Ihrem Konzert.“

„Ich bin Amerikaner. Meine Verwandten sind alle Amerikaner. Keiner von ihnen war jemals in Berlin.“

„Mysteriös!“

Paul nickte. Aber er war ruhig und in Frieden mit sich. Der alte Mann musste jemanden in ihm gesehen haben, der er nicht war. Es war beängstigend, wie sehr der Geist alter Leute sie täuschen konnte, das musste er zugeben. Aber die falschen Erinnerungen dieses Mannes berührten ihn nicht.

Er gab dem Kellner ein großzügiges Trinkgeld und dankte ihm für seine Hilfe.

„Hätten Sie gerne ein Ticket für das Konzert?“

„Ich würde sehr gerne kommen, Sir, aber ich muss arbeiten. Es tut mir leid. Vielleicht das nächste Mal, wenn Sie in Berlin sind.“

„Werde ich jemals wiederkommen“, fragte Paul sich. Er wusste es nicht. Seine Zukunft schien noch unvorhersehbarer als sonst. Sobald er versuchte zu erkennen, was vor ihm lag, sah er nichts als grauen Nebel.

Während der Probe beobachtete Phil ihn sehr genau und offensichtlich besorgt, traute sich aber nicht, Paul noch einmal zu fragen, was mit ihm los war. Er gab Paul den Raum, den er brauchte, kümmerte sich um die Gruppe und erlaubte Paul, sich allein in sein Zimmer zurückzuziehen, wann immer er wollte. Die Generalprobe im Konzerthaus lief gut. Paul hatte erfolgreich darum gekämpft, vor dem letzten Konzert ihrer Reise sein inneres Gleichgewicht wiederzufinden.

Am Abend, allein im Taxi zum Gendarmenmarkt , dachte er an den alten Mann. Würde er heute Abend kommen? War das wichtig? Ja, es war wichtig für Paul. Denn als er ihn das erste Mal bei der Probe im Hotel gesehen hatte, hatte er gedacht, dass er weinte, weil seine Musik ihn berührte. Paul hatte sich dem Mann nahe gefühlt, verstanden und erkannt. Aber als ihm klar wurde, dass der Mann ihn verwechselte, wurden diese Gefühle zerstört, aufgelöst, ausgelöscht. Paul fühlte den Schmerz und das Bedauern, die dieses Missverständnis auslöste. Sein größter Wunsch war nicht erfüllt worden. Wieder einmal!

Das Taxi hielt so nah wie möglich am Künstlereingang des Konzerthauses. Der Bus war noch nicht hier und Paul hatte einige Minuten, um in seiner Garderobe zu sitzen, zu entspannen und sich zu konzentrieren. Der Wagen hielt an einer Ecke und Paul bezahlte den Fahrer großzügig. Als er die Tür zuwarf, fiel sein Blick auf ein Plakat an einer Litfaßsäule direkt neben ihm. Adrenalin schoss durch seine Adern und er verlor fast das Gleichgewicht. Die Frau! Die Frau aus SoHo! Das war sie. Ohne Zweifel. Karen Garin! Sie spielte Sitar?! Und sie gab am Montag ein Konzert hier. Übermorgen! Sie war in der Stadt. Seine Gedanken rasten zu schnell, als dass er sie fassen konnte.

Phil fand Paul in der Garderobe, als das Orchester endlich mit dem Bus eingetroffen war.

„Sie ist hier“, sagte Paul mit leiser Stimme und sah Phil im Spiegel an, bevor dieser Hallo sagen konnte.

„Wer?“

„Die Frau aus SoHo?“

„Hier bei unserem Konzert?“

„In der Stadt. Sie spielt Sitar und gibt ein Konzert in Berlin, genau hier im Konzerthaus, am Montag.“

„Puh, das ist ja kaum zu glauben.“

„Ich habe bereits ein Ticket für Montag. Es ist wahr.“

Phil versuchte die Information, und was sie für seinen Freund bedeuten mochte, zu verstehen. „Du willst nicht mit uns zurückfliegen?“

„Nein, Phil. Ich muss sie sehen. Ich muss sie einfach spielen hören.“

„Indische Musik hat dich doch nie interessiert.“

„Es ist nicht die Musik. Es ist sie. Ich muss sie sehen.“

So spontan hatte Phil Paul noch nie erlebt. Er wusste, dass Paul nichts zurückhalten konnte.

Während des Konzerts war Pauls Aufmerksamkeit geteilt. Ein Teil war hier im Konzerthaus bei seinem Job, den er schon unzählbare Male gemacht hatte. Mechanisch bewegten sich seine Arme, gaben die Signale für die Einsätze der Instrumente und hielten den Orchester-Körper als Ganzes zusammen. Die andere Hälfte dachte über die Frau nach, ihren Namen, ihren Beruf, ihr Leben. Er versuchte, sich vorzustellen, wie alt sie wohl war, wo sie wohnte und fragte sich, warum er noch nie von ihr gehört hatte. Diese geteilte Aufmerksamkeit beeinträchtigte seine Leistung in keiner Weise. Paul dirigierte so virtuos und fehlerlos wie immer. Erst kurz bevor der Vorhang zur Pause fiel, schaute er in den Saal und suchte nach dem alten Mann. Paul entdeckte einen leeren Sitz in der Mitte der dritten Reihe. Das war sicher seiner. Wieder fühlte Paul dieselbe Enttäuschung wie bei seinem überstürzten Aufbruch in der Bar. Doch er vergaß die Sache, sobald er hinter der Bühne war. Die Präsenz der Sitarspielerin war zu stark, zu bedeutungsvoll und zu beängstigend. Tatsächlich war alles andere plötzlich bedeutungslos und unwichtig.

Paul entfloh der Situation wieder einmal, als der letzte Applaus nicht enden wollte. Nach der dritten Verbeugung verließ er die Bühne und zog die erste Violine nach vorne, neben Phil. Es war ihm egal, ob er das Publikum enttäuschte. Er wollte nicht länger alte Gepflogenheiten beachten. Letzten Endes folgten auch Konzerte dem Prinzip des Gebens und Nehmens. Auch er war enttäuscht und die Leute durften gerne spüren, wie er fühlte. Sie hatten seine Kompositionen offener angenommen als er erwartet hatte, und doch sahen sie nicht, was er ihnen zeigen wollte, fühlten sie nicht, was er beschrieb, hörten sie die Geschichte nicht, die er erzählte. Er fühlte sich hilflos in einer Dauerwiederholung ohne Ende gefangen und er fand den Ausgang nicht.

Er rannte fast zum Hotel zurück durch die kalte Winternacht. Streufahrzeuge versuchten, die Straßen von den schweren Schneefällen zu befreien, die während des Konzerts erneut eingesetzt hatten. Männer kehrten die Bürgersteige und streuten Salz, ohne dass Paul es bemerkte. Er fror nicht einmal.

Sofort, nachdem er das Hotel erreicht hatte, öffnete er seinen Computer, um im Netz nach Karen Garin zu suchen. Sie hatte keine eigene Website, kein Account in den sozialen Medien; sie machte keine Werbung für sich. Erst nach einer ganzen Weile fand er eine Gruppe, die über sie chattete. Die Mitglieder nannten sie „Meisterin der Sitar“, eine Klasse, die bisher nur von indischen Männern erreicht worden war. Die Gruppe sprach sehr respektvoll von ihr, und eine junge Frau nannte sie „die einzige wirklich spirituelle Künstlerin“, die sie je getroffen habe. Paul sah aus dem Fenster in die dicken, fluffigen, langsam herabsinkenden Schneeflocken. Er versuchte, sich Karen Garins Erscheinung in Erinnerung zu rufen und sie mit den Urteilen, die er über sie gelesen hatte, zu vergleichen. Sie war ganz sicher eine besondere Person. Das hatte auch er in dieser Nacht gespürt. Aber er hätte nie solche Worte gefunden, um sie zu beschreiben. „Sie ist die moderne Perle in einem langen Rosenkranz der Tradition, die bis in die Zeit zurückreicht, als die Sitar aus dem alten Persien nach Indien gelangte“, las er. Je mehr er über sie herausfand, desto mehr wunderte er sich, warum sie ihn in New York angesprochen hatte. Sie war sicher nicht zufällig in der Bar gewesen. Sie musste ihn gesucht haben. Warum kannte sie ihn? Woher? Und wie zum Teufel hatte sie ihn gefunden? Er war niemals zuvor in dieser Bar gewesen!

Manche Leute hatten Fotos von Karen Garin geposted, auf der Bühne mit einem Trommler, nach einem Konzert in einer Traube von Bewunderern. Sie schien immer sanft zu lächeln, aber als Paul die Bilder genauer betrachtete, sah er, dass nicht ihre Lippen, sondern einzig ihre Augen lächelten. Da war eine Sanftheit in ihnen, die ihn sehr berührte. Liebende Güte, dachte er. Sie verkörpert liebende Güte. Er fragte sich mit einem Mal, warum er sie so sehr gefürchtet hatte. Doch dann erinnerte er sich: wegen ihrer Selbstsicherheit. Die Art wie sie mit ihm geredet hatte, hatte ihm Angst gemacht: ihrer selbst und ihrer Botschaft absolut gewiss. Er fröstelte wieder. Diese extreme Sicherheit hatte Paul in dem Traum, in dem sie ihm aufzuwachen befahl, noch viel deutlicher wahrgenommen. Er schüttelte energisch seinen Kopf, um die Gefühle, die die Erinnerung begleiteten abzuschütteln.

Als er nach ihrer Musik auf einem der Videokanäle, auf denen seine Werke regelmäßig geposted wurden, suchte, fand er rein gar nichts. Eines war sicher: Karen Garin war keine Mainstream -Künstlerin. Sie schien viel mehr nur eine kleine Gruppe von Menschen zu erreichen, die in ihrem Werk mehr sahen als reine Unterhaltung. Für sie hatte ihre Musik eine numinose Qualität, einen spirituellen Aspekt, der nicht nur der indischen Herkunft ihres Instruments geschuldet war. Er verbrachte die halbe Nacht im Netz, aber am Ende begannen die Informationen sich zu wiederholen. Er hatte noch nicht herausgefunden, woher sie kam, wo sie wohnte, wie alt sie war. Nur, dass sie mit ihrer Band, einer Trommel, einer Tanpura und einer Violine, vier Monate des Jahres, von September bis Januar, durch Europa und die Staaten, aber auch Asien und Australien, tourte. Und sie hatte in der Nacht, als sie sich in SoHo begegnet waren, in einem kleinen Theater off Broadway gespielt.

Das Orchester war am frühen Sonntagmorgen abgereist. Phil machte sich noch immer Sorgen um Paul.

„Ich kann bei dir bleiben, wenn du willst..., wenn du mich brauchst...“, schlug er vorsichtig vor.

„Danke, Phil. Aber das musst du nicht. Es geht mir gut. Ich komme allein klar.“

„Ich hoffe, diese Karen wird keine Enttäuschung für dich.“

„Wie denn? Ich erwarte nichts von ihr. Ich bin nur neugierig.“

„Nur neugierig? Entschuldige, Paul, aber das ist weit mehr als Neugierde.“

Paul lachte. „Ja, wahrscheinlich hast du recht. Ich ruf dich an und erzähl dir alles.“

Phil konnte einfach nicht aufhören, sich zu sorgen. „Bist du sicher, dass du alleine klarkommst?“

„Absolut! Geh und feiere Weihnachten zu Hause! Ich weiß noch nicht, wie lange ich bleibe.“

Phil umarmte ihn herzlich. „Pass auf dich auf! Ich hoffe, du findest, was du suchst!“

Paul versuchte vergeblich zu lächeln.

Endlich wieder allein im Zimmer, veränderte sich Pauls innerer Zustand. Er fühlte sich viel entspannter, fast erleichtert, und war sich der Tatsache sehr bewusst, dass er allein war – nicht einsam, sondern nur mit sich. Wann war ich jemals allein, außer zu Hause in meinem Apartment in New York, fragte er sich. Eine sehr lange Zeit war er immer irgendwo mit irgendjemandem gewesen, entweder mit seiner Familie oder mit großen Gruppen von bis zu hundert Leuten. Wenn das Orchester in den USA oder nach Übersee reiste, war er für die ganze Gruppe verantwortlich. Er war mehr als nur der musikalische Direktor. Paul war Mentor, Freund und Lehrer; ein Vater manchmal für einige der jüngeren Musiker. Er hatte seine Verantwortung nie als Last empfunden, aber an diesem Sonntag allein in Berlin wurde ihm zum ersten Mal in seiner Karriere klar, dass es kein Gleichgewicht in seinem Leben gab. Er war immer verantwortlich: als Ehemann, als Vater, als Lehrer, als Komponist, als Dirigent. Hatte Karen Garin solche Erkenntnisse gemeint, als sie ihn aufgefordert hatte, seine Gedanken und Gefühle achtsamer wahrzunehmen? Es war eigenartig, aber Paul hatte tatsächlich das Gefühl, jetzt wacher zu sein; jedoch nicht weil er sich darum bemühte, sondern weil sie es vorausgesagt hatte. Die Veränderung schien ihr Wille viel eher zu sein als der seine.

Das Alleinsein gefiel ihm und er versuchte, den geistigen Zustand, den es mit sich brachte, zu erforschen. Er entspannte tiefer, schloss die Augen, Wärme und Energie breiteten sich in seinem Körper aus. Die Gedanken entschleunigten; weniger Ideen, weniger Pläne, weniger Selbstgespräche, weniger Bedürfnisse und weniger Vorstellungen. Sein Körper fühlte sich statisch an, fast unbeweglich, jedoch auf angenehme Art. Paul genoss die Entspannung und Leichtigkeit. Plötzlich nahm er eine starke, weite Ausdehnung im Herzraum wahr, die sich zunächst befreiend anfühlte, doch im nächsten Moment rollten Tränen über seine Wangen. Paul begann heftig zu schluchzen. Er konnte nicht aufhören zu weinen, ohne Grund, aus dem Nichts. Dieser emotionale Ausbruch erschreckte ihn. Wie konnte er nur so vollständig die Kontrolle verlieren und woher kam diese plötzliche Schwäche? Er sah keinen Grund für die plötzliche Traurigkeit und doch weinte er über eine Stunde. Danach fühlte er sich zerschlagen, erschöpft und sehr müde. Er legte sich ins Bett und schlief sofort ein. Erst gegen sechs wachte er auf. Seine Stimmung war wieder normal und nichts erinnerte an die Traurigkeit, die über seinen Geist hinweg geschwappt war und ihn so vollständig gefärbt hatte, dass er nicht die leiseste Chance gehabt hatte, ihr zu entkommen. Sein Herz fühlte sich jedoch anders an: weiter, offener und weniger beschwert.

◊◊◊

Montag machte Paul einige Besorgungen und versuchte, die Zeit im archäologischen Pergamon Museum totzuschlagen. Obwohl das Museum Paul an das Metropolitan Museum of Art in New York erinnerte, wo er jedes Jahr Stunden in der archäologischen Abteilung verbrachte, fand er heute kein richtiges Interesse an der Ausstellung. Kaum eine Stunde später wurde er müde und suchte nach der Cafeteria, wo er eine warme Linsensuppe und ein Stück Kuchen zu Mittag aß. Auf dem Rückweg kaufte er eine New York Times, falls er sich später langweilen sollte.

Während des Rückwegs beobachtete er ängstlich seinen Geist. Er hatte das Reichstagsgebäude schon ungestört hinter sich gelassen, aber als er Richtung Tiergarten lief, kamen die Klänge der marschierenden Soldaten wieder an die Oberfläche seines Bewusstseins. Dieses Mal war er vorbereitet. Er versuchte, die aufsteigenden Bilder klarer zu erkennen; versuchte, die Worte zu hören, die die Soldaten in harscher deutscher Sprache hervorstießen und sogar die Gefühle der Angst und der Bedrohung, die sein Herz gefangen hielten, sobald das innere Szenario lebendig wurde, zu fühlen. Sind das meine Gefühle, oder gehören sie zu dieser Stadt, fragte er sich. Wie können sie nur so stark, so lebendig und selbst heute noch so präsent sein? Paul hatte nie zuvor eine hellsichtige Erfahrung wie diese gemacht. Wenn er durch New York lief, wurden die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts nicht in seinem Geist lebendig. Und selbst hier in Berlin erlebte er nicht den Mauerbau von 1961; er sah nicht das ehemalige Ost-Berlin, als er am Reichstag vorbeilief, obwohl dieser Teil der DDR gewesen war, der kommunistischen Seite Deutschlands, das aufgrund des Gleichgewichts der östlichen und westlichen Mächte nach dem Zweiten Weltkrieg als unübersehbarer Ausdruck des kalten Krieges geteilt worden war.

Jetzt sah Paul Autos an dem marschierenden Bataillon vorbeifahren. Uniformierte, offensichtlich höheren Ranges, als die Soldaten, standen im Wagen, salutierten und grüßten mit dem Hitlergruß. Und plötzlich fühlte Paul den Stolz der jungen Soldaten, die in dieser Armee ihrem Land dienten; den Stolz einer Nation, die sich überlegen fühlte; einer Rasse, die sich anmaßte, über den Wert menschlichen Lebens zu urteilen, über andere Nationen und andere Rassen; einer Nation die nur schwarz oder weiß kannte – Leben, das es wert war gelebt zu werden und Leben, das ausgelöscht werden musste.

Heute war Pauls Gemüt ruhig, fast friedlich. Die Szenen geschahen nur in seinem Geist, wusste er. Sie waren wie ein Tagtraum und er war jetzt bereit, sich die Zeit zu nehmen und sie unvoreingenommen und neugierig zu betrachten. Es gab keinen Grund in Panik auszubrechen. Die Bilder würden ihm nicht schaden. Immerhin waren sie ein unsichtbarer Teil dieses Ortes, eine nicht wahrnehmbare, historische Schicht des Lebens, die hinter dem aktuell Offensichtlichen verborgen lag. Für ihn wurde Geschichte plötzlich lebendig und mit dem Abklingen der Angst fühlte er Dankbarkeit. Diese Visionen veränderten seine Einstellung zu Berlin. Er war sich der schmerzlichen Vergangenheit bewusst und erlebte die Gegenwart in einem anderen Licht – ganz sicher mit einem größeren Bewusstsein für die Wunden dieser Stadt und viel weniger achtlos. Junge Mädchen in Uniform standen längs der Straßen und winkten den Soldaten zum Abschied. Manche weinten...

So unvermittelt, wie die Bilder aufgetaucht waren, stoppte die Vision. Pauls Geist wurde zuerst ruhiger, und dann begannen normale Gedanken darin aufzusteigen.

An derselben Stelle, wo er letztes Mal vor den Visionen geflohen war, rief er wieder ein Taxi. Er hatte noch den halben Nachmittag, zu viel Zeit um nichts zu tun und zu wenig, um etwas zu machen. Die Tageszeitung interessierte ihn nicht.

Er nahm ein Notizbuch heraus, das er immer mit sich trug und in das er normalerweise Ideen schrieb, Teile von Stücken, Melodien, Harmonien – was immer ihm während des Tages zu Bewusstsein kam –, setzte sich in den Sessel und begann aufzuschreiben, was seit der Novembernacht in SoHo alles geschehen war. Er erinnerte sich an viele Gedanken, viele Worte, viele Szenen der letzten Wochen. Und er hatte unzählige Fragen. Er versuchte nicht, den Sinn der Ereignisse zu erfassen. Er rief sie sich nur erneut ins Gedächtnis und hielt sie fest. So objektiv wie möglich. Die Begegnung in SoHo, die Kellnerin, die Karen Garin nicht gesehen haben wollte, ihre Botschaft, seine Angst, seine Nervosität, seine Gegenreaktion zu der Reaktion seines Publikums, sein Bedürfnis, als Komponist anders wahrgenommen zu werden, als bisher. Und zum ersten Mal nach seiner Scheidung war er fähig zuzugeben, dass er keine Familie mehr hatte. Er war allein, aber er lebte noch immer so wie ein Ehemann und Vater; seine Familie lebte weit weg, aber er hatte immer noch geglaubt, dass er eine hatte. Wie konnte er sich nur so belügen? War es wirklich so schlimm, allein zu sein? Als Paul seine Notizen noch einmal las, spürte er plötzlich eine dynamische Energie in den Ereignissen, die neu für ihn war. Es schien ihm, als sei hinter den zusammenhanglosen, zufällig wirkenden Ereignissen ein unsichtbares Muster verborgen, ein Plan, für den er völlig blind war.

Am Ende musste Paul sich beeilen, um pünktlich zum Konzert zu kommen. Als er gehetzt am Konzerthaus eintraf, erwartete ihn eine ganz andere Atmosphäre als noch vor zwei Tagen. Heute waren sehr viele junge Leute dort, locker gekleidet, manche trugen Mützen, Kopftücher oder Turbane; nicht wenige waren indisch angezogen. Paul fühlte sich ein wenig steif in seinem ordentlich gebügelten blauen Anzug. Er musste sich in eine Schlange vor dem Eingang einreihen. Die Türen öffneten nicht vor acht. Paul wurde zusehends nervöser. Leider verstand er die aufgeregten deutschen Gespräche um sich herum nicht. Er fühlte sich so fehl am Platze, dass er sogar darüber nachdachte, wieder zu gehen. Aber dann öffnete sich die Tür und er wurde mit dem Strom der Wartenden hineingezogen. Sein Sitz war zum Glück nicht zu weit hinten und er war glücklich, als er in die roten Samtkissen sinken konnte. Der Vorhang stand offen. Auf der Bühne lagen eine Sitar, eine Tabla, eine Tanpura und eine Violine. Pauls Herz schlug schneller, als er sich fragte, was zum Teufel er hier eigentlich machte. Er hätte längst zu Hause sein können. Plötzlich fürchtete er, dass seine Erwartungen zu hoch gewesen sein könnten, so hoch vielleicht, dass eine große Enttäuschung folgen musste. Diese Frau war ja fast zur Heiligen für ihn geworden. Sie kannte ihn, sie kannte seine Zukunft. Wer sagte ihm eigentlich, dass das alles nicht bloß eine große Manipulation war? Vielleicht hatte sie gewollt, dass er herkam und alles, was sie gesagt und getan hatte, war nur ein Mittel gewesen, um ihn her zu bekommen.

Die Lichter wurden gedimmt, und ein Mann in einem weißen Baumwollanzug kam auf die Bühne. Barfuß. Er verbeugte sich vor dem Publikum und setzte sich auf einen Teppich hinter die Tabla, eine klassische indische Trommel. Er begann einen angenehmen, langsamen Beat zu spielen. Das Publikum applaudierte noch schüchtern. Der Mann spielte weiter. Er war sofort eins mit dem Puls der Trommel. Als Nächste betrat eine junge Inderin die Bühne. Sie war in einen wundervoll verzierten blauen Sari gekleidet und als sie sich verbeugte, waren die Menschen von ihrem selbstsicheren und gewinnenden Lächeln offensichtlich beeindruckt. Sie kreuzte elegant ihre Beine und setzte sich hinter die Tanpura, atmete tief ein und begann, die Saiten mit ihrer rechten Hand zu zupfen. Die linke Hand lag locker auf ihrem Schoß. Paul hatte selten so eine Anmut und Gelassenheit erlebt, die auf der perfekten Meisterschaft über ein Instrument beruhten. Er wünschte, dass viel mehr seiner Studenten und Kollegen diese Leichtigkeit in der technischen Beziehung zu ihrem Instrument hätten. Er versuchte, ihnen beizubringen, dass ihr Instrument Teil ihres Körpers war; wie eine dritte Hand oder ein sechster Finger. Nur wenn der Musiker diese Identität erlebte, konnte sein Spiel entspannt und virtuos sein. Diese junge Frau hatte diese schwierige Kunst auf ganz natürliche Weise perfektioniert. Als Nächste kam eine Frau mittleren Alters auf die Bühne, die europäisch oder amerikanisch aussah, aber ein langes indisches Oberteil trug, das sie ein wenig verkleidet aussehen ließ. Ihre Ausstrahlung war ganz anders als die des indischen Mädchens. Die Frau wirkte weniger selbstbewusst, steifer und kontrollierter. Sie musste eine Ausbildung in klassischer, westlicher Musik haben. Paul konnte sich nicht vorstellen, dass sie ihren Platz in diesem Trio finden und sich den anderen beiden anpassen könnte. Aber als sie die Violine in die Hand nahm und ohne Zögern oder auch nur eine Sekunde der Konzentration zu spielen begann, war er von ihrem Können beeindruckt. Paul war wie elektrisiert. Diese Musik berührte ihn tief. Wie gut, dass er geblieben war.

Die Drei spielten ein orientalisches – vielleicht persisches – Stück, das auf den Rhythmus der Trommel gründete, durch die Tanpura, die in C-Dur gestimmt war, einen Hauch von Melodie erhielt und dann durch die Violine in einen Fluss der Harmonie gelenkt wurde. Die Geige wurde sehr sanft und zurückhaltend gespielt. Sie erzeugte in Paul die Vorstellung eines Flusses, der langsam und leicht durch eine weite, offene Landschaft floss und ihm das Gefühl von Weite und Freiheit vermittelte, ohne Sorgen und Kümmernisse; unbeschwert, aber nicht übermütig. Es gab keine Anzeichen für Gefahr oder Selbstüberschätzung, keinen leichtsinnigen Versuch, die eigenen Grenzen zu überdehnen. Paul fühlte, erlebte, durchlebte in den ersten fünf Minuten von Karen Garins Konzert einen Zustand des Gleichgewichts, der Harmonie, der Einheit mit allen Umständen.

Dann verstummten die Instrumente. Der gesamte Raum vibrierte noch in der Frequenz der Saiteninstrumente und mit dem Herzschlag der Trommel. Die Stille war vom Klang, von der Energie und der Emotion, die er erzeugt hatte, gefüllt. Paul erlaubte dieser Energie, sich in seinem Körper auszubreiten und ihn in dieselbe Schwingung zu versetzen. Er erlebte einen Zustand der absoluten Balance und Harmonie. Die Energie ließ langsam nach, die Vibration begann zu verklingen, die Stille trat in den Vordergrund, wurde spürbarer und mit ihr eine Erfahrung der Leere, des Nichts. Die Klarheit und Lebendigkeit seiner Wahrnehmung überraschte Paul. Aber er fühlte nicht den Drang, seinen Gedanken zu folgen. Er beobachtete diese unglaubliche Erfahrung nur. Die Leere breitete sich ebenfalls in seinem Körper aus. Es konnte nicht länger als eine Minute gedauert haben, bis Karen Garin den Raum betrat, doch Paul hatte längst jedes Gefühl für Zeit und Ort verloren. Nur Leere, nur Nichts, das Paul wie der Hintergrund, der fruchtbare Nährboden für jede Schöpfung, jedes Objekt erschien, das in die Wahrnehmbarkeit geboren wurde. Als sie die Bühne barfuß und lautlos betrat, kam es Paul vor, als wäre sie erst hier und jetzt direkt vor seinen Augen lebendig geworden. Sie schien keine Vergangenheit und keine Zukunft zu haben. Sie wirkte wie ein neugeborenes Kind, ohne Erinnerung, ohne Narben, ohne Hoffnungen oder Ängste. Auch sie verbeugte sich vor dem Publikum, das den kollektiven Atem anzuhalten schien. Da war kein Geräusch, kein Lärm, nicht die leiseste Ablenkung für die auf die Stille und auf sie Konzentrierten. Die Bescheidenheit, die sich in ihren Bewegungen zeigte, beschämte Paul. Er hatte eine Bühne noch nie so betreten, sich noch nie so verbeugt, mit so wenig Ego, mit so wenig Stolz, mit so wenig Bedürfnis nach Anerkennung. Mit derselben demütigen Anmut setzte sie sich neben die Tanpuraspielerin, kreuzte ihre Beine und nahm verspielt ihre Sitar. Die Leute waren noch immer atemlos, als sie die ersten Saiten zupfte, die Einleitung eines Ragas, den sie allein zu spielen begann, langsam und leise, bis sie die Tanpura ansteckte, die Geige und zuletzt die Tabla, um ein neues Erlebnis des Klanges und der Energie zu kreieren. Paul wunderte sich nicht, als ihm langsam bewusst wurde, dass sie zuerst eine Geschichte der Unschuld erzählte, derselben Unschuld, die sie gerade erst verkörpert hatte, als sie den Raum betrat. Und als er das fühlte, konnte er die Tränen nicht zurückhalten, die geweint werden mussten, wenn ein Mensch erkannte, dass er seine eigene Unschuld an irgendeinem Punkt auf seinem Weg verloren hatte. Dort und dann war Karen Garin der perfekte Spiegel für Unschuld und Demut, und Paul konnte diese Attribute einer reinen Seele ebenso erkennen wie die Tatsache, dass sie ihm vollkommen fehlten. Zum ersten Mal in seinem Leben konnte er sein Ego sehen, das narzisstische Gesicht seiner Persönlichkeit, das bisher vollständig vor ihm verborgen gewesen war. Gleichzeitig musste er erkennen, dass er eine strahlende Seele gegen ein graues Selbst getauscht hatte. Aber wann und warum? Tränen rollten seine Wangen hinunter, während er sich mehr und mehr mit der Musik und den Ideen, die sie in das Publikum projizierte, zu identifizieren begann.

Karen Garin spielte wie eine Magierin, die genau wusste, was die menschliche Seele sehen und hören musste, wonach sie sich am meisten sehnte. Genau das gab sie jedem im Publikum. Sie ließ niemanden aus, schloss jeden ein, weil sie auf einer Ebene des Lebens kommunizierte, die Teil eines jeden war – das Wesen der menschlichen Persönlichkeit. Paul wusste, dass sie nicht von der gewöhnlichen, alltäglichen Persönlichkeit sprach. Nein, sie sprach von einer verfeinerten, reiferen Persönlichkeit, die die Lektionen ihres Lebens gelernt hatte. Sie kreierte die Blaupause eines Charakters, der seine Masken abgelegt und seine Wunden geheilt hatte; einer Persönlichkeit, die weder Angst vor ihrer Verletzlichkeit, noch vor ihrer Stärke hatte.

Dann wechselte Karen Garin in ein schnelleres Stück, das zu Paul von Mut und der Notwendigkeit sprach, das Alte hinter sich zu lassen. Die tiefe Rinne der Lebenslinie, auf der man schon so lange gewandert war hatte einen blind für das Neue, das Frische, die lebendige Energie des Lebens selbst werden lassen. Paul verlor sich vollkommen in der Musik, identifizierte sich absolut mit den Erfahrungen, die er in dem Spiel dieses mystischen Orchesters entdeckte. Leicht flossen seine Gefühle und veränderten sich mit der Musik. Jetzt wurde sie dunkler, dramatischer, melancholischer. Ein Gefühl des Verlustes breitete sich in Paul aus, der Verlust des Alten und der Kampf um Offenheit und für das Neue. Ein sehnsüchtiger Blick zurück zu den Szenen des Lebens und den Eigenheiten, die man zurückgelassen hatte, entzündeten eine schmerzhafte Phase der Angst. War es richtig gewesen, den Weg, den schon Millionen von Menschen gegangen waren, zu verlassen? War es sicher, ihn zu verlassen? War das Neue es wert? Was würde man gewinnen und was hatte man verloren? Paul spürte das Zögern, das sich in unzähligen Zweifeln ausdrückte, die nicht ganz die Kraft hatten, den Wanderer zurückzuhalten. Er hatte gar keine Wahl. Er wurde ständig weiter gezogen zu einem Zustand des Lichts und der Ganzheit, der Unschuld und Demut, zu einem Zustand der Reinheit und der Selbsterkenntnis. Karen Garin deutete an, dass nach dem Zustand des Schmerzes und der Angst kein Mut mehr aufgebracht werden musste. Aber etwas anderes musste wachsen: Vertrauen und die Fähigkeit loszulassen. Und – wirklich – Paul ließ sich erleichtert von dem Fluss der Musik, der erneut von der Violine bestimmt wurde tragen. Deswegen liebte er dieses Instrument so; es verkörperte soviel Stärke, so große Lebenslust und Hoffnung.

Die zauberhafte Musik hatte einen überwältigenden Einfluss auf Pauls Geist. Mit Freude gab er sich der inneren Reise hin, die das Orchester anbot. Es war die Reise der Seele von der Dunkelheit zum Licht; die uralte, archetypische Wanderung, von der Märchen und Mythen, Träume und Filme, große Epen und Fantasien berichteten. Paul hatte schon oft von ihr gehört, aber nie gefühlt und erlebt, wie wichtig sie für sein eigenes Leben war. Die Musik wurde dichter, komprimierter, fast kondensiert. Die Energie baute sich auf und verlangte nach Erlösung, dem letzten Loslassen. Karen führte das Publikum bis an seine Grenzen. Als dann die Erlösung kam, wirkte sie so süß, so heilend und so umfassend, dass die vorausgehende Anspannung sofort vergessen war. Stattdessen nahm Ekstase die Gemüter der Zuhörer gefangen; reine Seligkeit; ein spirituelles, nicht-physisches Verzücken. Und mit einer letzten Wendung, einer letzten Windung der Geschichte, verwandelte sich die Seligkeit in einen ruhigen Frieden, der den evolutionären Zyklus vollendete. Der Mensch war zum Göttlichen zurückgekehrt, wiedervereint mit seiner Essenz, heimgekehrt zu seinem Ursprung. Er war geworden, was er immer gewesen war – ein spirituelles Wesen.

Paul war vollkommen in Frieden, als die Musik ausklang und Karen Garin wieder der Stille erlaubte, den Raum zu füllen. Diesmal schien die Ruhe stärker, lauter fast, verführerischer. Der Nicht-Klang der Leere vibrierte voller Energie in einer sehr hohen Frequenz; der höchsten, die Paul je wahrgenommen hatte. Sein Geist war klar, ruhig und absolut wach und dennoch losgelöst. Er fühlte sich mehr wie ein Beobachter, als wie ein Teilnehmer und als solcher sah er, dass Karen Garin gelungen war, was er so unbedingt erreichen wollte: sie hatte das Numinose fühl- und sichtbar gemacht. Die Stille nach dem Spiel ihres Orchesters hatte eine solche Kraft, dass kaum jemand ihre Schönheit, Stärke und Heiligkeit übersehen konnte.

Karen Garin war wirklich eine Magierin, die das Instrument des menschlichen Geistes spielte. Natürlich spielte sie die Sitar, aber mit diesem Saiteninstrument reichte sie tief hinab in die menschliche Psyche, bis zum Ursprung der menschlichen Erfahrung. Paul fragte sich nicht, wie und warum er all das begreifen und wissen konnte. Er zweifelte nicht an der Wirklichkeit seiner Erfahrung und der Bedeutung, die sie für ihn hatte – für ihn und jeden um ihn herum. Er war nur dankbar. Dieses Erlebnis erschien ihm wie ein Wunder, wie die Antwort auf ein Gebet, das er nicht zu beten gewagt hatte. Karen Garin hatte ihm gezeigt, was man tun musste, damit jeder die Sprache der Musik verstehen konnte. Mehr als das, hatte sie ihm gezeigt, wie jeder die Geschichte, die der Musiker erzählen wollte, auch erleben konnte. Die Kluft zwischen dem letzten Ton und dem Klatschen des Publikums schien zeitlos. Als das Licht anging, legte Karen Garin ihre Sitar zur Seite und stand graziös auf. Sie trat an den Bühnenrand und verneigte sich tief. Jetzt wirkte sie noch entspannter. Der Applaus brandete frenetisch auf. Karen lachte und zog die Violinistin nach vorn. Manche Zuhörer standen auf und einige kreischten sogar. Paul überlegte, wann dieses Konzerthaus das letzte Mal so einen Begeisterungssturm erlebt hatte. Ein Musiker nach dem anderen trat nun zu Karen nach Vorne. Paul war so berührt und aufgeregt, dass er immer lauter klatschte. Irgendwie war ihm klar, dass das Orchester keine Zugabe geben würde. Sobald das Klatschen verebbte, würde es den Raum verlassen. Genau deshalb fand der Applaus einfach kein Ende. Die Leute wollten nicht, dass dieser Moment, diese Erfahrung vorüber war. Das unausweichliche Ende kam dennoch und Karen verließ die Bühne, gefolgt von den anderen Musikern. Erst jetzt sahen sich die Leute im Publikum an und manche begannen sofort, ihre Erlebnisse zu diskutieren. Paul wollte nichts davon hören und kämpfte sich aus seiner Reihe.

Er musste unbedingt mit ihr sprechen. Er suchte nach jemandem, der ihn Backstage führen konnte. Aber die Leute drückten zur Garderobe und er war wieder in der Menge gefangen. Draußen versuchte er, den Künstlereingang zu erreichen, durch den er selbst erst vor zwei Tagen das Konzerthaus betreten hatte. Ein Knäuel von Menschen drückte dort gegen ein Absperrgitter. Einer der Wachmänner sah ihn kurz an.

„Ich muss unbedingt mit Karen Garin sprechen. Es ist wichtig!“

„Klar. Das wollen alle.“ Wenigstens sprach der Mann Englisch.

„Sie hat mich herbestellt“, sagte Paul nicht ganz ehrlich.

Der Mann lachte. „Das tut mir leid. Ich kann Sie nicht durchlassen.“

„Wissen Sie, wo Mrs. Garin in Berlin wohnt?“

„Nein, das weiß ich nicht, Sir. Schauen Sie, ich sagte bereits... Ich kann nichts für Sie tun.“

Paul holte eine Visitenkarte aus der Tasche und schrieb auf die Rückseite: Midtown Hotel, Zimmer 263. Muss mit Ihnen sprechen! Dann gab er sie dem Sicherheitsmann. „Sie muss das unbedingt kriegen!“ Der Wachmann grinste, aber es war Paul egal, was er von ihm dachte.

◊◊◊

„Sie werden erwartet, Sir“, sagte der Concierge, als Paul fünfzehn Minuten später zurück in sein Hotel kam.

Paul sah sich in der Lobby um.

„Eine Dame. Sie sitzt dort hinten in der linken Ecke.“

Pauls Herz begann zu rasen, fünf Takte schneller als normal Er war noch immer wie in Trance. Alles wirkte größer, lauter, schneller und stärker. Seine Nerven schienen sehr sensibel, gereizt fast, und Paul spürte das dringende Bedürfnis, sich allein in sein Zimmer zurückzuziehen. Ob sie es ist, fragte er sich, als er dem Concierge dankte. Sie muss es sein.

Sie war es. Sie saß auf einer braunen Couch, beobachtete alles sehr aufmerksam und stand auf, lange bevor Paul ihre Sitzecke erreicht hatte. Sie lächelte nicht und wirkte ernst. Pauls Herz schlug noch immer bis zum Hals, und er war unfähig, klar zu denken.

„Haben Sie meine Karte erhalten?“, fragte er und fühlte sich wie ein Narr.

Sie ignorierte seine Frage. „Ich warte schon eine Viertelstunde!“

Er wusste nicht, ob ihre Aussage als Anschuldigung gemeint war. Wie konnte das sein? Hatte sie das Konzerthaus lange vor ihm verlassen?

„Ich bin direkt hierher. Ich habe meine Visitenkarte einem der Wachmänner am Künstlerausgang des Konzerthauses gegeben. Ich musste Sie unbedingt sehen nach diesem..., nach diesem... Erlebnis.“

Sie setzte sich, und er ging um eines der riesigen Sofas herum und nahm ihr gegenüber platz, ohne ganz sicher zu sein, dass sie einverstanden war. Sie war wieder so selbstbewusst, dass es fast unhöflich und arrogant wirkte. Ihr Verhalten machte ihn sehr unsicher. Er fühlte sich blöd, wie ein kleiner Junge, der zu spät zur Schule gekommen war. Paul war sicher, dass sie nach anderen Regeln kommunizierte, als er es gewohnt war. Er konnte nicht erkennen, ob sie ihn mochte oder nicht. Sie wirkte vollkommen neutral, weder sympathisierend noch ablehnend. Er konnte die Stille zwischen ihnen kaum aushalten, aber er zwang sich, nicht zuerst zu sprechen. Sie kämpfte nicht mit ihm, versuchte nicht, ihn in einem stillen Machtkampf zu besiegen. Nein, sie sah ihn lediglich an, betrachtete ihn sehr genau, als hätte sie eine Frage im Kopf, die sie unbedingt beantwortet haben musste, bevor sie wieder sprach. Der Kellner war Pauls Rettung.

„Möchten Sie einen Drink, Sir?“

„Darf ich?“, fragte er sie mit einem Blick auf das Glas, das vor ihr stand.

Sie nickte, noch immer ohne zu lächeln und ihn von seiner inneren Anspannung zu erlösen.

„Einen Gin Tonic, bitte.“ Er blickte sie an, um ihre Reaktion zu sehen, doch sie zeigte keine innere Regung. Wieder keine Zustimmung und keine Ablehnung. Er war ganz durcheinander und wusste kaum noch, was er wollte.

Der Kellner spürte sein Zögern. „Einen Gin Tonic, Sir?”

“Ja, bitte.”

Als der Kellner gegangen war, begann sie endlich zu reden. „Wie war Ihre Zeit in Berlin?“

„Interessant. Anders. Beängstigend. Bewusster – wie Sie vorausgesagt haben.“

„Irgendwelche Tagträume oder Visionen?“

Wie konnte sie das wissen? Er wollte weglaufen. Aber auch diesmal zwang er sich, ruhig zu bleiben und abzuwarten. Er war nicht Herr der Unterhaltung. Das wusste er. Aber er wusste auch, dass er bleiben und das durchstehen musste.

„Ja.“

„Welcher Art?“

Paul zögerte. Er wollte nicht darüber reden. Er vertraute ihr noch nicht genug, um seine intimsten Gedanken und Erlebnisse mit ihr zu teilen.

„Es tut mir leid, Mrs. Garin, aber ich bin nicht sicher, ob ich mit Ihnen darüber sprechen will. Ich kenne Sie kaum!“

Jetzt lächelte sie zum ersten Mal bei dieser Begegnung. Es war ein schönes, strahlendes und unschuldiges Lächeln, das dieselbe Reinheit spiegelte, die er zu Beginn ihres Konzertes beobachtet hatte.

Sie atmete tief ein, bevor sie antwortete. „Natürlich wissen Sie nicht, ob Sie mir vertrauen können, Paul. Aber das ist im Moment auch gar nicht nötig. Es reicht vollkommen, wenn Sie ein wenig neugierig sind und Ihnen meine Musik gefallen hat.“

Paul schluckte. Die Gegenwart des Kellners, der seinen Drink servierte, beruhigte ihn wieder. Paul brauchte Zeit, bevor er sein Glas in die Hand nahm und ihr zuprostete. Er sah ihr in die Augen und versuchte herauszufinden, wer sie war.

„Was wollen Sie von mir?“ fragte er geradeheraus und klang forscher als beabsichtigt.

„Nichts!“, war ihre unmittelbare und überraschende Antwort.

„Warum haben Sie in SoHo mit mir gesprochen und warum sind Sie heute hier?“

„Wollen Sie das wirklich wissen?“

„Auf jeden Fall!“

„Bitte korrigieren Sie mich, wenn ich falsch liege... Sie sind ein sehr erfolgreicher, international anerkannter Komponist und Cellist. Sie haben zahlreiche Preise gewonnen und unterrichten an der Julliard School. Sie sind geschieden und in letzter Zeit immer häufiger unzufrieden mit Ihrer Arbeit. Sie haben Ihre Einsamkeit entdeckt und das Bedürfnis, gesehen und gehört zu werden, das über normale Anerkennung hinausgeht. Sie fühlen sich oft missverstanden von Ihrem Publikum und Sie haben nach Wegen gesucht, die Wahrnehmung der Menschen, die ihre Musik hören, zu verändern. Aber genau da sind Sie an eine Grenze gestoßen, eine unsichtbare Barriere, die Sie nicht überschreiten können...“

„Woher wissen Sie...?“, fragte er, von der Präzision ihrer Beschreibung vollkommen erschlagen.

„Ich habe Ihre Not gefühlt...“ Ein Ausdruck von Sorge, Güte und Mitgefühl flog über ihr Gesicht.

„Sie haben meine Not gefühlt? Ich verstehe nicht.“

„Ich habe Sie gesehen. Immer wieder. Es umgab Sie ein Gefühl der Verzweiflung, der Hoffnungslosigkeit und der Impuls zu wachsen, zu lernen, und höher auf der Leiter der Evolution zu klettern...“

„Sie haben Visionen von anderen Menschen und Sie wissen, wo Sie sie finden können?“ Paul konnte nicht glauben, was er da hörte.

Sie lachte. „Nicht immer. Ich sehe nur die Menschen, die meine Unterstützung brauchen, die in Syntonie mit mir und dem Pfad, den ich repräsentiere, sind.“

Er fühlte sich wie ein Papagei, als er wiederholte: „Sie repräsentieren einen Pfad? Was für einen Pfad?“

„Hören Sie, Paul. Ich weiß, dass sich das für Sie eigenartig anhört, aber ich möchte wirklich nur helfen. Es ist meine Aufgabe, Ihnen einen Ausweg aus dieser leidvollen Lebenssituation und neue Möglichkeiten zu zeigen. Aber Sie können das nicht mit Ihrem Verstand entscheiden, mit Vernunft und Logik. Sie können es nur intuitiv wählen, ohne zu denken. Und vielleicht helfen Ihnen die Erfahrungen hier in Berlin dabei. Das Leben hält eine Lektion für Sie bereit. Sind Sie neugierig genug, herauszufinden, welche, und mutig genug, viele Hürden zu überwinden?“

Er fror, als ihre Worte die Erinnerung an Gedanken auslösten, die er erst vor wenigen Tagen gedacht hatte. Es war seltsam, aber für einen Moment war Paul absolut sicher, dass er tatsächlich in Syntonie mit ihr war. Er erinnerte sich daran, was er fühlte, wenn er an sie dachte. Sie war ihm irgendwie vertraut. Und je mehr er entspannte und ihren Worten ohne Abwehr zuhörte, desto bekannter kam sie ihm vor, wie ein lange verlorener, wohlgesonnener Freund.

„Ihre Musik...“ Paul wollte ihr seine Gefühle während des Konzertes beschreiben, aber es fiel ihm schwer, die richtigen Worte zu finden. „Ihre Musik hat zu mir gesprochen. Ich meine, ich konnte jedes Bild verstehen, das Sie gezeichnet haben, jedes einzelne Gefühl, jede Erfahrung, die Sie beschrieben haben. Ich sah Unschuld und Demut; ich sah den Wunsch zu wachsen; die Notwendigkeit, das Alte zurückzulassen; ich erlebte Mut und Neugier; ich war mit Hindernissen und Verzweiflung konfrontiert, mit Rückschlägen und Zweifeln, mit Angst vor dem Neuen und Unbekannten. Ich traf auf Vertrauen und die Fähigkeit loszulassen, und dann wurde ich in einen hellen Raum getragen, einen Raum der Freude, der Seligkeit, die sich in Frieden und Leere auflöste. Ich wusste, dass Sie von einer spirituellen Reise sprachen, aber ich wusste nicht, woher ich das wusste. Ich bin nie zuvor mit Spiritualität in Berührung gekommen.“

Ihr gesamter Ausdruck veränderte sich, während sie seinem hilflosen Bemühen zuhörte, seine Erlebnisse zu beschreiben. Sie verriet mit keiner Regung, ob seine Interpretation ihrer Intention entsprach. Und doch schien ihr zu gefallen, was sie hörte. Ihr Gesichtsausdruck zeigte nun ein sanftes und freundliches Interesse und Paul sah, dass hinter ihrer Gelassenheit, ihrer Losgelöstheit, eine warme, liebevolle Natur verborgen lag. Diese Erkenntnis löste seine Angst endlich auf. Zum ersten Mal fühlte er so etwas wie Sympathie für Karen Garin. Ja, er begann, sie zu mögen. Offenbar wusste sie von Dingen, die er nie gehört, an die er nicht einmal im Traum gedacht hatte.

„Möchten Sie diesen Weg gehen?“, fragte sie ihn mit warmer, voller Stimme. „Haben Sie den Mut, ins Unbekannte zu gehen, wo Schmerz und Leid die dickste Mauer sind, die Sie durchbrechen müssen, und wo Sie am Ende für sich selbst sterben müssen?“

Sein Herz klopfte wieder laut und heftig. Seine Hände verkrampften sich, wie sein ganzer Körper. „Wie trifft man eine Wahl, wenn man solche Versprechungen hört?“, gab er spöttisch zurück.

„Es ist eigentlich keine Wahl, Paul. Die Dinge sind längst in einer zeitlosen Dimension entschieden, alles geschieht ganz von selbst. Sie können sich nur Ihrem Schicksal entgegenstellen oder in Einklang mit ihm vorwärtsschreiten.“

Eine starke Welle der Energie lief durch seinen gesamten Körper und erzeugte eine Gänsehaut. Sie hatte recht. Dies war kein Moment der Wahl, und doch war es eine Kreuzung, ein Wendepunkt in seinem Leben, der ihn herausforderte, mutig genug zu sein, Bekanntes hinter sich zu lassen und dem Unbekannten entgegenzugehen.

Sie nahm ihr Glas und sah ihn an. „Es ist also entschieden?“

Er hatte kein Wort gesagt, nickte aber kaum sichtbar.

Noch während sie ihr Glas zurückstellte, erhob sie sich. Sie trug Jeans und eine türkisfarbene Seidenbluse. Ihr glattes Haar wirkte kräftig und glänzend. Sie war sehr schlank, jedoch nicht dünn. Sie griff in ihre Hosentasche und zog eine Karte hervor.

„Hier ist meine Adresse in Varanasi. Ich werde nächste Woche wieder zu Hause sein. Treffen Sie mich dort.“

Sie war schon auf dem Sprung.

„Varanasi?“

„Ja, ich lebe in Indien. Wenn Sie eine Veränderung wollen, dann ist dies der perfekte Ort dafür.“ Sie lächelte, drehte sich um und ging.

Er blieb in einem katatonischen Zustand der Unbeweglichkeit zurück. Sein Körper war wie eingefroren, genau wie sein Geist. Nur seine Augen konnten sich in der Bar-ähnlichen Hotellobby umsehen. Menschen redeten, tranken, aber er konnte ihre Stimmen nicht hören. Es war eine bemerkenswerte Szene, wie in einem alten Stummfilm. Zahllose Handlungen geschahen gleichzeitig um ihn herum und er saß auf dem Sofa im Hintergrund und beobachtete alles völlig unberührt. Der Kellner näherte sich seinem Tisch mit einem Glas auf seinem Tablett.

„Mrs. Garin hat noch einen Drink für Sie bestellt, Sir!“ Er sprach ihren Namen französisch aus und es hörte sich herrlich an. Paul hatte nie über die Herkunft ihres Namens nachgedacht.

„Kennen sie Mrs. Garin?“, fragte er den Kellner.

„Ja, Sir. Sie ist immer unser Gast, wenn sie in Berlin ist.“

„Sie wohnt hier im Hotel?“

„Sie hat vorhin ausgecheckt, Sir.“ Der Kellner nickte und ließ ihn wieder allein mit seinem Gin Tonic, der Bewegungsunfähigkeit und der seltsamen Erfahrung totaler Losgelöstheit.

Ihr Vorschlag war verrückt. Paul würde sicher nicht nach Varanasi reisen. Nächste Woche war Weihnachten. Er musste zurück nach New York, denn Sean wollte ihn nach den Feiertagen besuchen und er musste an dem Shakespeare Soundtrack arbeiten. Paul konnte nicht einfach jederzeit überall hin. Er hatte zu viel Verantwortung und zu viele Verpflichtungen. Als er in der Lobby seines Hotels saß, erschien ihm Karen Garins Idee so bar jeder Realität, dass er nicht einmal darüber nachdenken musste.

Er saß bis weit nach Mitternacht am selben Platz. Ein weiterer Drink half ihm, wieder zu entspannen, und doch blieb eine subtile Anspannung, die der Alkohol nicht zu lösen vermochte.

Sein Zimmer wirkte kalt und leer, als er es betrat. Paul ging direkt zu Bett und driftete einfach und leicht in die tieferen Schichten des astralen Bewusstseins, wo Träume ihren Ursprung haben. Er fand sich in einer Landschaft, die neu für seine Traumwelt war. Sie wirkte alt, sehr alt, oder zeitlos. Er saß auf einer ausgedörrten Sandbank an einem weiten Fluss und blickte auf eine mittelalterlich wirkende Stadt, die sich entlang des langsam dahinfließenden Flusses ausbreitete. Paul war vollkommen entspannt und wunderte sich darüber. Er wusste, dass er träumte und erinnerte sich genau an alles, was in den vergangenen Stunden im Wachbewusstsein geschehen war. Die Traumstadt war quicklebendig. Er sah viele Menschen am Fluss und in den engen Gassen, die offenbar in ein Labyrinth von Straßen tiefer in das Herz dieser faszinierenden Stadt führten. Glöckchen klingelten und das Muhen von Kühen wehte über das Wasser zu ihm herüber. Neben ihm pickten Krähen Puffreis, gierig um das größte Stück kämpfend. Er zog einen Cracker aus seiner Jackentasche, brach ihn in Stücke und hielt eines davon in seiner rechten Hand, die Krähen lockend. Sie sahen ihn intelligent an und wackelten sanft mit den Köpfen, nicht sicher, ob sie ihm trauen konnten. Er lachte. Sie vertrauen mir ebenso wenig, wie ich Karen Garin vertraue, dachte er. Eine Krähe wirkte neugierig und hüpfte in seine Richtung, um ihn auszutesten. Die Krähe kam näher und setzte sich tatsächlich auf seinen ausgestreckten Arm. Sie sah ihn ein weiteres Mal an und nahm das Keksstück blitzschnell aus seiner Hand. Dann flog sie davon, aber die nächste Krähe näherte sich ihm schon mutiger als ihre Vorgängerin. Die Krähen stoben davon, als sich ein Boot mit einem älteren Mann der Sandbank näherte. Der Ruderer hatte gerade das Ufer erreicht, als Paul aufstand, das hölzerne Boot festhielt und hineinkletterte. Der alte Mann lächelte sanft und ruderte kräftig zurück zur anderen Seite, wo er hergekommen war.

„Ich bin froh, dass du dich entschieden hast herzukommen“, sagte der Fremde zu Paul. „Ich bin der ältere spirituelle Bruder von Karen, und sie ist deine spirituelle Schwester. Sie hat großes intuitives Wissen über die menschliche Seele und die tiefsten Geheimnisse der Musik. Für uns ist Musik weniger eine Kunst, als eine Wissenschaft, eine spirituelle Wissenschaft, die den Menschen zurück zum Selbst führen kann.“

Der Mann ruderte kräftig während er sprach, und das Boot kam schnell voran. Sie hatten bereits die Mitte des Flusses erreicht und kamen den monumentalen Gebäuden in verschiedenen Rot- und Sandsteintönen immer näher. Paul sah zurück zur Sandbank. Erst da begriff er, dass die Stadt, auf die er blickte, Varanasi sein musste; der Ort, an den Karen Garin ihn gerade erst eingeladen hatte.

„Und wie jede andere spirituelle Wissenschaft, ist die Lehre der Musik eine Wissenschaft der reinen Liebe!“

Die Worte des Bootsmanns hatten einen direkten Effekt auf Pauls inneren Zustand. Er spürte eine starke Welle der Energie in seinem ganzen Körper, aber vor allem in Brust und Herz. Dieser Mann war so besonders, so lebendig, so sanft, so wohlwollend. Er zeigte keinerlei Anzeichen von der Unnahbarkeit, die es Paul so schwer machte, Karen Garin zu vertrauen.

„Sie kann den Geist und das Herz reinigen und zur letzten Erkenntnis führen. Aber – und ich bin sicher, dass Karen dir das gesagt hat – zuerst kann der Reinigungsprozess sehr schmerzhaft sein. Viele versteckte Leiden werden aus dem Unterbewusstsein hervorkommen, viele unbekannte Geheimnisse, die die Psyche in den dunklen Raum der Verdrängung gesperrt hat. Das anzuerkennen, das die Psyche nicht akzeptieren kann, führt zu einer Befreiung der Lebensenergie und einer Öffnung des Bewusstseins, die unbeschreiblich ist.“

Das Boot hatte einen schmalen Holzsteg erreicht, der alt und gammelig aussah. Der alte Mann knotete das Ruderboot an den Steg und kletterte hinaus. Paul folgte ihm neugierig. Sie erreichten eine kleine Hütte aus Bambus und Stofffetzen am Ende der abbruchreifen Brücke. Auf dem Boden lagen Decken und Kissen und Paul sah eine Sitar in der hintersten Ecke stehen. Der Bootsmann ging auf die Knie und robbte nach hinten in das Zelt. Er nahm die Sitar und brachte sie Paul. „Sie gehört dir, Paul. Achte gut auf sie. Sie ist das Instrument, das deine Seele befreien wird.“

Plötzlich hielt Paul sein Cello in der Hand und übergab es dem alten Mann, der ihm dafür die Sitar gab. „Von nun an kannst du deinem Ego nicht mehr folgen, deinen weltlichen Begierden. Du kannst nur noch deiner Seele folgen, die dich zur Seele der Musik führen wird. Am Ende wirst du erkennen, dass beide eines sind! Inshallah, Bruder. Geh mit Gott. Du bist sicher, vertraue mir und lerne, Karen zu vertrauen.“

Paul erwachte mit einer Empfindung der Ruhe und tiefen Entspannung. Sein Geist war friedlich und er wünschte sich, dieser Zustand würde nie vergehen. Er konnte sich nicht erinnern, wann er sich jemals so ruhig, so sicher und geborgen gefühlt hatte.

Es war drei Uhr morgens und Paul war hellwach. Er stand auf, zog sich einen warmen Pullover über und holte sein Tablet ins Bett. Er musste wissen, ob dieser Ort, den er gerade in seinem Traum gesehen hatte, wirklich existierte. Alles war so realistisch, so echt gewesen, völlig lebendig und ergreifend. Ihm war fast, als wäre er dort gewesen, nicht nur im Traum, sondern im Wachbewusstsein.

Er fand schnell zahlreiche Bilder von Varanasi, der alten Stadt am Ganges, dem breiten und langsam fließenden Strom, der weiten Sandbank am gegenüberliegenden Ufer. Alles sah genauso aus, wie er es geträumt hatte. Das Gefühl der Ruhe wurde stärker, während er durch die Bilder der altertümlichen indischen Stadt blätterte, die dieselben Ocker-, Rot- und Orange-Töne zeigten, die seine Traumbilder gefärbt hatten. Er erkannte verschiedene Häuser aus seinem Traum, und die hölzernen Ruderboote sahen genauso aus wie das Boot, in dem er gefahren war. Paul versuchte, sich zu erinnern, ob er jemals zuvor Bilder von Varanasi gesehen hatte, aber er wusste es nicht. Doch selbst, wenn er die Stadt im Nordwesten Indiens schon einmal gesehen hatte, hätte er sie niemals so akkurat und detailliert beschreiben können, wie er sie im Traum erlebt hatte. Paul konnte es sich selbst nicht erklären, aber er war plötzlich sicher, dass der Traum eine wichtige Botschaft enthielt: den Ruf, der Einladung Karen Garins nach Indien zu folgen.

Furcht erfasste Paul, eine Furcht, die so existentiell bedrohlich wirkte, dass er keine andere Reaktion sah, als Flucht. Er zog sich achtlos etwas über, griff nach Mantel und Mütze und rannte die Treppen hinunter, raus aus dem Hotel, in die Dunkelheit und Leere des frühen Berliner Morgens. Ziellos lief er davon, wollte nur weg. Es war völlig sinnlos und doch konnte er nicht stoppen. In seinem Bewusstsein mischten sich Bilder von Karen Garin, Sitars, dem alten Bootsmann und Varanasi zu einem endlosen Film, den er nicht willentlich abschalten konnte.

Es war inzwischen fünf Uhr morgens, und Paul fühlte sich erschöpft von seinem langen, ziellosen Lauf. „Berlin“, dachte er verzweifelt, „was hältst du nur für mich bereit?“ Doch zu seiner eigenen Überraschung, wünschte er sich nicht, niemals nach hergekommen zu sein. Es war gut und richtig, dass er hier war, fühlte er. Er verlangsamte seine ermüdende Geschwindigkeit und nahm langsam die äußere Welt wieder wahr. Die Apartments waren noch dunkel. „Die Leute schlafen ungestört“, dachte Paul neidisch. „Warum habe ich nur so große Angst“, fragte er sich. „Was ist so furchterregend an meiner Erfahrung, dass ich vor ihr fortlaufen muss? Ich will keine Veränderung“, dachte er auch diesmal. „Ich möchte nicht, dass sich mein Leben ändert.“ Ein starker Widerstand gegen jedwede Veränderung war Teil seines Charakters seit früher Kindheit. Als er fünf gewesen war, zog seine Familie in ein anderes Viertel von Boston, und Paul hatte sich mehr als einen Monat geweigert, das Haus zu verlassen. Erst als die Schule begann, erklärte er sich einverstanden, nach draußen zu gehen, aber nicht weil er nachgab, sondern weil er zur Schule gehen musste. Deshalb war auch seine Scheidung so schmerzhaft für Paul gewesen. Er hatte geglaubt, seine Familie für immer zu haben. Die Möglichkeit einer Veränderung sah er nicht, und als sie nicht mehr zu vermeiden war, empfand er sie wie eine katastrophale Niederlage. „Du kannst nicht mehr davonlaufen“, sagte ihm seine innere Stimme. „Diese Veränderung ist – mehr als jede Veränderung zuvor – die wichtigste deines Lebens. Wenn du sie zulässt, wird sie dich befreien!“

Es war also entschieden. Er würde nach Indien fliegen. Er musste es wenigstens versuchen. Was hatte er zu verlieren? Ein Satz des Traumes hallte in Pauls Geist wider: „Von nun an kannst du deinem Ego nicht mehr folgen, deinen weltlichen Begierden. Du kannst nur noch deiner Seele folgen, die dich zur Seele der Musik führen wird.“ Und – wirklich – zum ersten Mal in seinem Leben fühlte Paul, dass er den Bedürfnissen seiner Seele folgte und Offenheit, Neugierde, Wachstum und Entwicklung suchte. An diesem Morgen in Berlin verließ Paul den weltlichen Pfad und betrat die spirituelle Straße der wachsenden inneren Bewusstheit ohne zu wissen, wohin sie ihn führte.

Noch vor Mittag beantragte Paul in der indischen Botschaft ein Visum. Als er es am Nachmittag abholte, hatte er bereits seinen Flug für den kommenden Montag gebucht. Er hatte entschieden, direkt zu fliegen, ohne vorher nach New York zurückzureisen. Er musste nur einige wichtige Telefonate führen, vor allem mit seinem Sohn. Sean nahm die Planänderung cooler hin, als Paul erwartet hatte.

„Mach dir keine Sorgen, Dad. Mein Freund David hat mich nach San Diego eingeladen. Er wohnt direkt am Strand und wir können den ganzen Tag surfen. Mom hat gesagt, du wärst zu enttäuscht, wenn ich nicht nach New York komme, aber ehrlich, Dad... New York ist schrecklich im Winter. Ich bin nicht scharf auf Eislaufen im Central Park. Nächstes Mal musst du nach Kalifornien kommen.“

Paul lachte erleichtert. „Du hast vollkommen Recht, Sean. Ich komme, sobald ich aus Indien zurück bin.“

„Was machst du da überhaupt?“, wollte Sean wissen.

„Ich weiß es nicht!“

„Kein Konzert, keine Komposition für Bollywood?“

„Nein. Das ist eine private Reise. Ich bin von einer Sitarspielerin eingeladen worden.“

„Wow. Du verreist privat? Das ist ja was ganz Neues. Viel Spaß, Dad. Und bis dann.“

„Bis dann, Sean. Hab dich lieb!“

Kashi

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