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1 Erstes Kapitel

New York

Bevor der Applaus begann, gab es diesen winzigen Moment der Stille. Er war schwer zu erfassen, und doch hatte Paul ihn in seiner gesamten Karriere nicht ein einziges Mal verpasst. Dann erst begannen ein oder zwei Leute zu klatschen und nur eine Sekunde später fiel der Rest mit ein. Er war sehr müde heute Abend. Es hatte ihn Mühe gekostet, sich zu konzentrieren. Er betrachtete die Leute in der ausverkauften Carnegie Hall überkritisch. Ja, sie schienen begeistert zu sein. Der Applaus verstärkte sich sogar noch. Er verbeugte sich, spielte seine Rolle perfekt. Als seine Augen eine weitere Runde durch das Publikum wanderten, dachte er für einen Moment, dass er endlich begriff, was ihn seit langem so verstörte. Die Leute waren gekommen, um Paul Madden zu sehen, den Komponisten, den Dirigenten, den Cellisten. Sie waren hier, um einen Namen zu sehen, aber nicht, um seine Musik zu hören, seine Sprache zu verstehen. Niemand war hier, um der subtilen Geschichte zu folgen, die er mit seinem Orchester zu erzählen versucht hatte. Er fühlte sich leer, fast tot. Ein guter Freund, mit dem er schon viele Jahre auf der Bühne stand, umarmte ihn. Der Applaus brandete ein weiteres Mal auf, aber er beruhigte und tröstete ihn nicht.

Er floh beinahe, als es endlich vorüber war, griff nach seinem Cello und dem Mantel und rannte blindlings davon. Er wohnte Downtown, weit von der Carnegie Hall entfernt, aber heute winkte er kein Taxi heran. Er brauchte dringend Bewegung, musste den Broadway schnellen Schrittes hinunterlaufen, wollte unbedingt die angenehme Kälte dieser Novembernacht in seinem Gesicht und seinen Atemwegen spüren. „Warum tue ich das nur“, fragte er sich mit einem starken Bedürfnis sich für seine Wahrnehmungen, Gedanken und unerwünschten Gefühle zu verurteilen. In diesem Moment hasste er sich. Paul glaubte, versagt zu haben. Wenn die Menschen seine Musik nicht fühlten, dann war sie nicht gut, nicht eindringlich genug. Vielleicht fehlte ihr Tiefe, vielleicht war sie nicht wahrhaftig, nicht universell genug, um die Menschen zu bewegen. Er zog den grauen Schal enger um seinen Hals, um sich vor dem eisigen Nordwind zu schützen und lief schneller in Richtung Süden ohne rechts oder links zu schauen. Sein Telefon klingelte. Es war Phil, derselbe Freund, der ihn vorhin auf der Bühne umarmt hatte. Aber Paul nahm nicht ab. Unzählige Gedanken kaperten seinen Geist und er musste sich bemühen, nicht in ihrer Negativität zu ertrinken. Niemals zuvor hatte er sein Talent und seine Passion dermaßen radikal in Frage gestellt. Musik war immer der Motor seines Lebens gewesen. Sie gab ihm Energie und Inspiration auch in schwierigen Zeiten. Doch jetzt war keine schwierige Zeit. Im Gegenteil - die schwierigen Zeiten lagen gerade hinter ihm. Jetzt war eigentlich alles leicht. Und ausgerechnet da wendete sich die Quelle seiner kreativen Energie gegen ihn. Er lief an seinem Apartment vorbei weiter und weiter. Die beißende Kälte machte seine Hände kalt und unbeweglich. Er musste sich irgendwo aufwärmen. Da fiel sein Blick auf eine Bar auf der anderen Straßenseite. Blind für alles Äußere öffnete er die Tür und setzte sich an den erstbesten Tisch. Mechanisch bestellte er einen Espresso. Der Kaffee kam schnell und er versuchte, seine Hände an der kleinen Tasse zu wärmen, als sich jemand seinem Tisch sehr zielstrebig und ruhig näherte. Neugierig sah er auf und erwartete einen Freund oder Kollegen zu sehen. Die große Frau, die ihn freundlich ansah, kannte er nicht. Sie wirkte ernst und dringlich.

„Kann ich Ihnen helfen?” fragte Paul. Die Frau lächelte und setzte sich unaufgefordert neben ihn.

„Ich muss mit Ihnen sprechen!” sagte sie mit selbstbewusster Stimme.

„Haben Sie das Konzert gehört?”

„Das Konzert?” Sie lächelte leicht amüsiert. “Nein!”

Er war erstaunt und unfähig sich zu erklären, warum diese Fremde hier an diesem Ort zu dieser nachtschlafenen Zeit mit ihm reden wollte und worüber. Und doch war es nicht vollkommen ungewöhnlich, dass ihn Fremde erkannten und ansprachen.

„Sie müssen keine Angst haben”, sagte sie beschwichtigend.

„Angst?! Vor Ihnen? Warum sollte ich.” Die Situation missfiel ihm und er wollte aufstehen.

Sie griff nach seiner Hand und hielt ihn zurück. „Nicht vor mir, vor Ihren Gedanken, Gefühlen und Erfahrungen!”

Er verstand nicht. „Meinen Erfahrungen?”

„Den Erfahrungen, vor denen Sie hierher geflüchtet sind.”

„Wovon zum Teufel sprechen Sie?” Wieder wollte er aufstehen, doch er war wie gelähmt, unfähig sich zu bewegen. Die Frau drückte noch immer seine Hand auf den Tisch und sah ihn mit einem Ausdruck an, der ihm den Eindruck vermittelte, dass sie ihm etwas sehr Wichtiges zu sagen hatte.

„Sie stellen Ihre Arbeit und ihr Leben in Frage.”

Das war wahr. Aber er hatte mit niemandem darüber gesprochen. Woher wusste sie das?

„Wer sind Sie?”, wollte er wissen.

„Das spielt keine Rolle! Sie müssen herausfinden, wer Sie sind und was Sie brauchen. Sie müssen mir jetzt gut zuhören.“ Der Druck ihrer Hand erhöhte sich so sehr, dass es wehtat. „Sie werden bald nach Berlin fliegen.“

„Nein. Unmöglich. Ich habe zwar im nächsten Monat einige Engagements in Europa, aber keines in Berlin. Mein Terminkalender ist voll!”

„Das wird sich ändern. Sie müssen mir glauben.”

„Das ist lächerlich. Wer sind Sie? Irgendeine Wahrsagerin? Ich werde ihnen keinen Cent geben.”

Sie wirkte nun zum ersten Mal verärgert. „Ich bin überrascht, dass Sie so ein Idiot sind.“ Sie holte tief Luft und sah ihn dann wieder sehr eindringlich an. „Wie auch immer. Sie werden nach Berlin reisen und Sie müssen dort sehr achtsam sein.”

„Achtsam? Wofür?”

„Ihre Gedanken und Gefühle. Für alles, was Ihnen zufällig begegnet.”

Diese Frau war verrückt, dachte er und doch gab er endlich nach. Er wollte sie nicht noch mehr in Rage bringen. “Okay. Ich verspreche Ihnen, dass ich achtsam sein werde, wenn ich nach Berlin fahre, obwohl mein Terminplan keine Änderung zulässt.”

„Sie müssen auf Ihre innere Stimme hören. Und bitte, beurteilen Sie Ihre Erfahrungen nicht. Sie sind absolut sicher und Sie werden geführt!”

Plötzlich ließ sie seine Hand los, stand auf und verließ die Bar schnellen Schrittes, ohne sich umzusehen. Paul war noch immer bewegungsunfähig und begann plötzlich zu zittern. Er winkte die Kellnerin heran, um zu zahlen.

„Haben Sie die Frau gesehen, die gerade bei mir gesessen hat?”

Die Kellnerin sah ihn eigenartig an. “Welche Frau?! Da war niemand, Sir.”

„Sie meinen, Sie waren zu beschäftigt, um jemanden an meinem Tisch zu sehen?”

„Nein, Sir. Hier ist um diese Zeit nicht viel los – nur Sie und drei andere Gäste dort drüben.”

„Sie haben keine braunhaarige, große Frau gesehen, die eine hellbraune Wildlederjacke und Jeans anhatte?”

„Nein, Sir.”

Paul war geschockt. Angst kroch in sein Herz. Wurde er jetzt langsam verrückt?

Als er zehn Minuten später die Tür zu seinem Apartment aufschloss, entspannte er zum ersten Mal an diesem Abend. Und doch vermied er den gewohnten Blick in sein Gesicht im Spiegel gegenüber der Eingangstür. Stattdessen sah er auf das Foto auf dem Regal darunter, das seinen Sohn und seine Frau zeigte. Würde dies auch geschehen, wenn sie noch bei mir wären, fragte er sich mit einem starken Gefühl des schmerzhaften Verlustes. Er wusste es nicht, musste er sich eingestehen. Paul wusste nicht, was mit ihm los war, und er hatte keine Ahnung, was diese Krise ausgelöst haben könnte. Er zog seinen Mantel aus und ging direkt ins Bad. Nach einer langen heißen Dusche fühlte er sich besser. Die dunklen Gedanken waren fort, hatten sich, ohne die kleinste Spur zu hinterlassen, aufgelöst. Aber er wusste, dass sie wiederkehren würden. Es war noch lange nicht vorbei.

Das Telefon weckte Paul am nächsten Morgen. „Ja!“

„Paul, Emerson hier.”

„Emerson, weißt du eigentlich wie spät es ist?!”

„Ich würde dich nicht wecken, wenn es nicht wichtig wäre, Paul.”

Paul schnaufte verächtlich. “Okay. Was ist es?”

„Ich hab Deutschland am Telefon. Hamburg hat abgesagt. Der Himmel weiß warum. Die haben Probleme mit ihrer neuen Philharmonie. Aber Berlin fragt dich für denselben Tag an, Paul. Das ist perfekt. Phantastisch. Berlin! Im Dezember!”

Berlin! Paul wurde eiskalt, als er sich an die Begegnung der letzten Nacht erinnerte; das Gesicht der Fremden, ihr selbstbewusstes Auftreten, die Dringlichkeit, die sie in ihre Worte gelegt hatte. Er zitterte wieder.

„Paul!?”

„Ja, Emerson. Berlin. Hast du mit irgendjemandem darüber geredet, bevor du mich angerufen hast?“

„Nein. Ich hab dir doch gesagt, ich hab Berlin in der anderen Leitung.”

Paul bekam kein Wort heraus.

„Paul! Bist du noch dran? Ich brauche deine Zustimmung.”

Paul zwang sich zu antworten. „Ja, Emerson.”

„Großartig! Das wird die beste Weihnachtssaison, die Ihr je hattet!”

Paul konnte Emersons Enthusiasmus nicht teilen. Die Angst der letzten Nacht war plötzlich wieder da; die furchtbare Angst davor, die Kontrolle zu verlieren.

Es war erst sechs, doch Paul stand immer früh auf. Noch im Schlafanzug nahm er einen starken schwarzen Tee mit in das Arbeitszimmer, seine persönliche Einsiedelei, zu der niemand Zutritt hatte, weder seine Ex-Frau, noch sein Sohn und erst recht kein Anrufer. Hier fühlte er sich lebendig und wirklich, immer ruhig und konzentriert. Paul hatte nie auch nur eine Stunde hier verbracht, ohne ein neues Werk in sich entstehen zu sehen. Er saß auf seinem Bürostuhl, die nackten Füße berührten das kühle Holz des Bodens. Wenn er den weichen grünen Bleistift in die Hand nahm, musste er nicht lange darauf warten, dass Inspiration und Kreativität auf das leere Notenblatt vor ihm flossen. Mit dem inneren Ohr hörte er die Streicher, die Harmonien; das Zusammenspiel der Instrumente, die ein Netz unterschiedlichster Melodien zu einem homogenen Stück verwoben; das Steigen und Fallen der Melodie, die zu einem dramatischen Moment intensiver Dichte anschwoll. Diese Komposition hatte eine Dringlichkeit, die ihn überraschte. Sie war der Entwurf eines Soundtracks zu einem fiktiven englischen Film über Shakespeare, und schon als Paul sich das erste Mal an das Thema setzte, hatte er das drängende Bedürfnis des Dichters sich auszudrücken, als ihr Hauptthema gespürt. Der berühmte Autor hatte seinen intensiven – zugleich persönlichen und universellen - Gefühlen in starken Worten Ausdruck verliehen. Und Paul musste nichts anderes tun, als diese Empfindungen in seine eigene Sprache zu übersetzen, die Sprache des Klanges. Paul liebte seine Arbeit noch immer. Seine Krise war keine Ideenblockade oder stressbedingte Antriebslosigkeit. Er arbeitete viel, aber nicht zu viel. Die Krise, die sich erst langsam und leise, und dann immer deutlicher und schneller in sein Leben geschlichen hatte, betraf eher die Resonanz, die er für seine Arbeit erhielt. Sie betraf weniger ihn selbst, als vielmehr sein Publikum und die Art und Weise, wie es sein Werk auf- und wahrnahm. Doch das machte alles nur noch schlimmer. Er hätte seine Einstellung oder seine Arbeitsweise verändern können, aber er konnte unmöglich sein Publikum ändern. Tatsächlich fand er seine Reaktion schrecklich. Paul fühlte sich arrogant und überheblich, völlig ohne Verbindung zu den Leuten für die er schrieb und spielte, die Leute, die für seine Konzerte und CDs bezahlten, die er mitreißen und bewegen wollte. Was sollte er bloß tun, fragte er sich voller Scham und Verzweiflung.

Bevor er zur Schule fuhr, rief er seinen Sohn in L.A. an, doch erreichte nur den Anrufbeantworter und erfuhr, dass Sean und Kaya über das Wochenende verreist waren. Kaya hatte einen neuen Mann in San Diego und Sean schien ihn zu mögen. Paul war nicht eifersüchtig. Es war schwer für ihn gewesen, Kaya und seinen Sohn gehen zu lassen. Aber das war fünf Jahre her. Sie wollten in L.A. bleiben, als er an die Julliard School nach New York berufen worden war. Natürlich hatte er deshalb bis aufs Blut mit Kaya gestritten. Sie hatte ihm vorgeworfen, seine Arbeit mehr zu lieben als seine Familie. Für Kaya hatte er seinen Sohn seiner Karriere geopfert. Wie konnte eine Mutter nur so denken?! Paul hatte versucht, Kaya davon zu überzeugen, dass sie sich täuschte. Für ihn war es keine Wahl zwischen Karriere und Familie, sondern eine Wahl zwischen Verleugnung der Tatsache, dass sie sich nicht mehr liebten und dem schmerzhaften Eingestehen der Wahrheit; eine Wahl zwischen Unehrlichkeit und Aufrichtigkeit. Ein ganzes Jahr hatte sie sich nach diesem Gespräch geweigert, mit ihm zu sprechen. Aber sie hatte ihm nie den Kontakt zu seinem Sohn verweigert. Heute wusste er, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte, obwohl er sie mit Einsamkeit bezahlt hatte. Sean besuchte ihn häufig und regelmäßig, aber das war nicht genug, um die Wunde der Trennung zu heilen. Er war Seans Vater und als Vater hatte er versagt, weil er gegangen war. Es gab keine Entschuldigung für seine Abwesenheit, nicht einmal eine Rechtfertigung. Kaya und er hatten als Eltern versagt. Wenn Paul eines sicher wusste, dann dass ein Kind fühlen musste, dass seine Eltern sich liebten. Plötzlich erinnerte Paul sich an die Frau, die ihn letzte Nacht angesprochen hatte. „Sie müssen auf Ihre innere Stimme hören“, hatte sie zu ihm gesagt. Er hatte diese Stimme noch nie so klar gehört, seine eigenen Gefühle noch nie so klar wahrgenommen wie heute, und er war sich seiner Fehler und seiner Schuld nie zuvor derart bewusst gewesen.

Paul war zum Lunch mit Phil in einem Deli in der Nähe der Julliard School verabredet. Phil saß schon an ihrem Stammtisch und las die Tageszeitung, als Paul eintraf.

„Hey, du siehst besser aus als gestern Abend.” Phil schien besorgt.

„Mir ist etwas Merkwürdiges passiert, Phil. Ich bin gestern Abend zu Fuß nach Hause gelaufen und habe in einer Bar in SoHo noch einen Kaffee getrunken. Da hat sich eine fremde Frau einfach zu mir an den Tisch gesetzt.”

„Uh, das ist unheimlich!” Phil lachte. Paul sah ihn irritiert, fast wütend, an.

„Ich kannte sie nicht! Sie sagte, ich würde bald nach Berlin fahren und dort auftreten.”

„Emerson hat mich heute Morgen sehr früh angerufen.”

„Ja, Phil. Verstehst du jetzt? Sie sprach von unserem Engagement, bevor es überhaupt existierte!”

„Das ist tatsächlich ungewöhnlich, Paul!”

„Sie sagte viele kryptische Dinge, so als wisse sie alles über mich. Zum Beispiel, ich solle auf meine innere Stimme hören und die kommenden Erfahrungen nicht bewerten oder beurteilen.”

„Wie zum Teufel soll man eine solche Erfahrung nicht beurteilen?”

„Es kommt noch verrückter. Als ich die Kellnerin fragen wollte, ob sie die Frau kannte, sagte sie, sie hätte niemanden an meinem Tisch gesehen.”

„Wow! Du hast dir das alles nur eingebildet?”

„Nein! Die Frau war da, ganz sicher. Sie hat meine Hand gehalten und auf den Tisch gedrückt, damit ich ihr zuhöre. Ich habe sie gefühlt. Ich weiß wie sie riecht. Ich würde sie überall erkennen. Ich weiß nicht, warum die Kellnerin sie nicht gesehen haben will. Sie war sehr präsent und charismatisch. Ihre Worte waren wahr für mich. Ich fühle mich irgendwie unter Druck. Ich habe das Gefühl, dass etwas Entscheidendes in meinem Leben falsch läuft und kämpfe verzweifelt gegen dieses Gefühl an, aber es kriecht immer wieder aus dem Unterbewusstsein hervor. Es reicht nicht, wenn ich mir sage, dass dieses Gefühl nur vorübergehend ist, dass eigentlich alles in Ordnung ist. Ich muss irgendetwas dagegen tun, aber ich weiß einfach nicht was.”

Phil wirkte beunruhigt. „Warum? Weißt du warum, Paul?”

„Es hat etwas mit den Leuten zu tun, mit unserem Publikum. Ich fühle mich missverstanden, falsch interpretiert; als spräche ich eine völlig fremde Sprache, die niemand versteht.”

Phil lächelte endlich wieder. „Das ist Musik, Paul, eine Fremdsprache und wir haben Glück, wenn einige wenige unsere Sprache verstehen oder sie sogar auch sprechen können.”

Paul war entschieden anderer Meinung. „Nein, Phil. Das ist nicht wahr. Es ist eine viel zu defensive Sicht unseres Berufes. Ich hatte Momente vollständiger Einheit. Das Publikum, die Musiker und die Musik wurden dann zu einem einzigen bewussten Wesen und die Zuhörer verstanden die Musik auch ohne unsere Sprache kennen zu müssen. Es gab keine Notwendigkeit für irgendwelche Erklärungen oder Übersetzungen. In diesen Momenten fand eine Vermittlung von Herz zu Herz statt, nicht von Verstand zu Verstand. Und das war reine Glückseligkeit, mehr als Glück und bloße Freude. Reine Seligkeit, Phil. Aber das habe ich sehr lange nicht mehr erlebt.”

Phil schwieg nachdenklich. “Diese Momente sind selten und wertvoll, ich weiß. Wann hast du so etwas zuletzt erlebt?“

“Vor zwei oder drei Jahren vielleicht.”

Phil nickte und sah aus dem Fenster, um Paul nicht ansehen zu müssen. „Du bist ein sehr glücklicher Mann, Paul. Ich hab dir das noch nie gesagt, aber… Ich habe dich immer bewundert. Für dein Talent, deinen Erfolg, die Liebe in deinem Leben, deine Freundschaften und Chancen. Dein Leben war schon immer so voller Chancen, Paul. Und ich glaube, du nimmst das noch nicht einmal wahr!“

Auch Paul blickte aus dem Fenster, als er sehr leise antwortete. „Du hältst mich für undankbar?“

Phil nickte kaum sichtbar, ohne den Freund noch einmal anzusehen.

Paul nahm die Metro am Lincoln Center. Der Zug war überraschend leer für einen Samstagnachmittag im November. Die Weihnachtsverkaufssaison hatte schon vor einigen Wochen begonnen, und Paul war daran gewöhnt, in überfüllten Zügen mit Einheimischen und Touristen zu stehen, die schwere Tüten schleppten. Heute fand er sogar einen Sitzplatz und ließ seinen Gedanken freien Lauf, als der Zug sich ruckartig in Bewegung setzte. Phils überraschende Beichte hatte ihn verstört. Er hatte sich nie in irgendeiner Weise als privilegiert empfunden. Natürlich waren viele Dinge in seinem Leben gut gelaufen. Doch es hatte auch Frustrationen gegeben, Schmerz und Leid, Verluste und Fehlentscheidungen. Verlangte er wirklich etwas so Abwegiges, wenn er das tiefe Bedürfnis artikulierte, gehört und verstanden zu werden? Es gab etwas Höheres in der Musik, etwas Heiliges, Tiefes und Bedeutungsvolles. Für ihn war das die Essenz und auch der Zweck seiner Arbeit. Und was immer er in seinem Leben erreicht oder nicht erreicht hatte, konnte selbst in der Summe diese Seele der Musik nicht erreichen. Tatsächlich zählte es nicht einmal im Angesicht dieser unbeschreiblichen, numinosen Qualität von Schwingung und Klang.

Als er um sieben vor seinem Haus in ein Taxi zum Lincoln Center stieg, wo er mit seinem Streichquartett ein Kammerkonzert spielen sollte, breiteten sich Angst und Anspannung in ihm aus. Das war kein Lampenfieber. Er war nie nervös vor einem Auftritt. Paul hatte plötzlich Angst vor dem Ende des Konzerts und der Publikumsreaktion, der er nicht ausweichen konnte.

Er kam fehlerlos durch das Programm. Die anderen Streicher, zwei Violinen und ein Kontrabass, spielten hochprofessionell. Paul war vollständig im Fluss und Rhythmus der Musik, war absolut konzentriert. Sein Herz war weit geöffnet und er erlebte jede einzelne Emotion, die die Saiteninstrumente malten – einen vollständigen Kreislauf der Erfahrungen des Lebens, von Glück und Schmerz, Gewinn und Verlust, Liebe und Hass. Und dann, wieder am Ende, den magischen Moment der absoluten Stille, in dem das Luminose fühlbar werden konnte. Konnte... Für ihn war es spürbar. Und auch seine Kollegen nahmen es wahr, sah er. Aber als er dann ängstlich in die Gesichter des Publikums sah, fand er nicht das Aufblitzen des Erkennens, das er so sehr ersehnte. Leere Augen blickten ihn wieder einmal verständnislos an. Er fand keinen Funken von Liebe oder Erstaunen in ihnen. Und auch heute erntete er mit seinem Orchester einen lauten, fast endlosen Applaus, der ihm nichts bedeutete. Die Stille war wichtiger, wusste er, aber ihre Magie war wieder einmal überhört worden.

◊◊◊

Der November verging wie im Flug und Paul schien sich besser zu fühlen. Die meiste Zeit war sein Geist sehr ruhig und still. Nur die Konzerte erinnerten ihn an den latenten Schmerz, den er so gut es ging zu unterdrücken versuchte. Nach fast jedem Auftritt musste er allein sein, um den Schmerz niederzukämpfen, der seine Brust einengte und ihn schwindelig machte. Was war nur mit ihm los? Woher kam dieser Schmerz? Was konnte er dagegen tun? Jeder Gedanke zündete einen Gegengedanken, genährt von dem Schmerz, den er nicht anerkennen wollte, der Niedergeschlagenheit, die er unbedingt abschütteln wollte. Aber sein Geist fand einfach keine Lösung. Er steckte fest und war sich dessen absolut bewusst. In diesen Momenten erinnerte er sich jedes Mal an die Frau, die er in der kalten Novembernacht in SoHo getroffen hatte. Manchmal hasste er sie, weil sie ihn so erschreckt hatte. Manchmal dachte er, sie sei Teil eines Albtraumes, der bald enden würde. Dann wieder wünschte er sich, ihr wieder zu begegnen, noch einmal ohne Abwehr und frei von Angst. In ihrem Auftauchen hatte irgendein Versprechen gelegen, fühlte er, aber er war unfähig seine Bedeutung zu erfassen.

Als er für den vierwöchigen Trip nach Europa packte, ergriff ihn endlich wieder ein Gefühl der Hoffnung. Er reiste mit einem extrem talentierten Orchester, das in den renommiertesten Konzerthäusern des Kontinents spielen würde. In vielen vorausgegangenen Konzertreisen in die alten Länder hatte er das europäische Publikum als versiert und sehr sensibel in der Wahrnehmung klassischer Musik erlebt. Es schien die alten Meister weit besser zu verstehen als die Amerikaner, näherte sich modernen Komponisten wie ihm aber weitaus skeptischer und mit größeren Vorurteilen. Die Kritiker dagegen liebten seine Kompositionen und verglichen ihn mit Idolen wie Philip Glass und Terry Riley. Aber er hatte nie viel auf die Meinung der Kritiker gegeben. Das Publikum war Pauls einziges Maß für die Qualität seiner Arbeit.

Der Koffer war gepackt und Paul tat, was er immer tat, bevor er verreiste: er rief seine Mutter in Boston an.

„Hallo Mutter. Ich fliege morgen!“

„Toi, toi, toi”, sagte sie, um ihm Glück zu wünschen. „Grüß mir Berlin!“

„Du kannst mitkommen. Ich habe dich mehr als einmal eingeladen.“

„Nein Paul.“ Sie lachte. „Du bist der Vagabund. Ich bleibe in der Weihnachtszeit lieber zu Hause!“

„Ich besuche Dich im Januar“, versprach Paul. „Ich habe zwei Monate frei zum Schreiben und für die Studioarbeit für den Shakespeare-Film. Keine Konzerte!“

Keine Konzerte. Was für eine Erleichterung, dachte er.

„Bis dann, Paul”

„Bis dann.“

Kashi

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