Читать книгу Elementa - Daniela Kappel - Страница 3
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ОглавлениеDaria saß auf einem der großen Umzugskartons, die ihr Vater zuvor in die kleine Wohnung gehievt hatte, und schaute müde und gelangweilt aus dem schmutzigen Fenster in den von Unkraut überwucherten Garten. Alles in den engen Räumlichkeiten roch nach Staub und abgestandener Luft. Mühsam rappelte sie sich auf und durchschritt den kargen Raum, um das Fenster zu öffnen. Eine kühle Brise würde hoffentlich ihre trüben Gedanken wegblasen, denn wenn sie ihnen nachhing, brachten sie ihr nur Kummer und Schmerz.
So lange war es schon her, seit sie ihre Mutter verloren hatte, und doch drängten sich die Bilder von ihrem Tod immer noch ungefragt auf, als wäre es erst gestern gewesen. So frisch und nahe war ihr die Erinnerung an die tobende See, schwarz wie die Nacht, und den Dunst von Salz auf ihrer verschwitzten Haut.
Jene Dinge, an die sie gern zurückdachte, aus der Zeit davor, als sie noch mit ihren Eltern glücklich beisammen lebte, waren hingegen von einem Schleier umhüllt und sie musste sich anstrengen, um nur bruchstückhafte Szenen in ihr Gedächtnis zu rufen. Immerzu ging sie ihre spärlichen Erinnerungen an eine glücklichere Zeit durch, um den Schrecken aus ihrem Kopf zu vertreiben.
Lange Spaziergänge an der Küste, weit außerhalb der Stadt. Laue Abende unter der Laube in ihrem Garten, mit Tee und Keksen, umhüllt von dem würzigen Geruch nach Lavendel und Salbeiblüten. Kleine Rätselspiele mit ihrer Mutter sonntagmorgens, wenn ihr Vater noch schlief.
Doch so sehr sie sich auch bemühte, immer wieder drängten sich die Erinnerungen an die schrecklichste Nacht in ihrem Leben hervor und ließen sich nicht länger aus ihrem Geist verbannen.
Sie sah die vor Angst geweiteten Augen ihrer Mutter, als ihr Vater sich von dem kleinen Boot aus ins Wasser fallen ließ. Er wollte ihre Verfolger aufhalten, damit sie und ihre Mutter fliehen konnten.
Fliehen wovor? Das wusste Daria nicht. Ihr Vater sprach nicht über diese Nacht oder ihre Mutter im Allgemeinen und sie selbst war zu klein gewesen, um zu verstehen, was da passierte, warum ihre Eltern sie nachts aus ihrem Bett holten, um mit ihr wegzufahren.
Ihr Vater kam nicht mehr zurück auf das wackelige Boot, aber jemand anderes erklomm den glitschigen, hölzernen Rand. Der Mann war groß und die triefnasse Kleidung klebte an seinem massigen Körper ebenso wie seine langen, dunklen Haare. Er packte ihre Mutter am Hals und hob sie hoch, weit über den Bootsrand hinaus. Der Wellengang war stark und spülte stetig eiskaltes Wasser über sie hinweg. Ihre Mutter blickte sie an, ihr panischer Blick wurde von einem Lächeln abgelöst, das nur Daria galt – ein Abschiedsgruß.
Schlagartig war es totenstill. Daria hörte die Wellen nicht mehr gegen das Boot klatschen, den Regen nicht mehr prasseln, nicht einmal mehr das Heulen des Windes und dann ließ der Mann ihre Mutter los und ihr Körper wurde von der rauen See verschluckt.
Als der Angreifer sich zu Daria umdrehte, um auch auf sie loszugehen, wurde er von ihrem Vater überwältigt und ging, wie ihre Mutter zuvor, über Bord. Ihr Vater sah Daria mit einem verzweifelten Ausdruck in den Augen an, doch verließ er sie nicht mehr. Das Wasser peitschte beiden ins Gesicht, trotzdem konnte sie seine Tränen sehen, sowie ihre eigenen schmecken.
„Daria! Daria! Daria, hörst du nicht!“ Ihr Vater stand in der Tür. Sein ernster Blick und das wütende Funkeln in seinen Augen vertrieben die letzten Bilder aus ihrem schmerzenden Kopf und brachten sie endgültig zurück ins Hier und Jetzt. „Daria, das Fenster!“ Er trommelte nervös mit seinen Fingern gegen den Türrahmen und Teile des sich ablösenden Holzlacks rieselten zu Boden.
Das Fenster klapperte wie wild gegen den Rahmen. Immer wieder wurde es auf und zu geschlagen und verursachte dabei massiven Lärm.
Augenblicklich legte sich der Wind, der es angetrieben hatte, und der Fensterflügel kam mit einem kläglichen Quietschen zum Stillstand. Schuldbewusst blickte sie ihrem Vater ins Gesicht. Seine Züge glätteten sich allmählich wieder und der übliche liebevolle, aber leicht abwesende Ausdruck erfüllte seine Miene. „Daria, schon wieder?“ Es war keine ernst gemeinte Frage. Er wollte sie damit nur daran erinnern, dass sie ihre Kräfte nicht so offensichtlich zur Schau stellen sollte.
Doch immer wieder, wenn sie in Gedanken versunken war, gereizt oder einfach unvorsichtig, passierte es. Sie ließ kleine Windhosen durchs Zimmer jagen oder brachte die Zeitungen und Vorhänge zum Flattern. „Entschuldige, Papa! Ich war nur …“
„Schon gut, Liebling!“, unterbrach er sie mit einem sanften Lächeln, das seine Augen jedoch nicht erreichte.
„Sieh nur zu, dass es dir nicht noch einmal passiert!“
Er machte drei lang gezogene Schritte durch den Raum und schloss das nun verzogene Fenster. „Ich muss nachher noch zur Bank! Mal sehen, was dort auf mich wartet.“ Grüblerisch fuhr er sich mit der Hand über die kratzigen Bartstoppeln.
„Vielleicht solltest du dich vorher noch rasieren?“, merkte Daria leicht amüsiert an. „Ich erledige einstweilen den Einkauf“, schloss sie und machte sich daran, ihre bequemen Turnschuhe aus einem der kleineren Kartons im Vorraum zu angeln.
Die Fahrt war lang gewesen und sie konnte einen kleinen Marsch gut gebrauchen, um ihre Glieder wieder zu lockern.
„Papa, ist das alles, was wir noch haben?“, rief sie ihrem Vater nach, der gerade ins Bad verschwunden war. Mit einem besorgten Blick musterte sie die wenigen Münzen in dem Portmonee ihres Vaters.
„Das muss erst mal reichen, Liebes“, murmelte er, während er sich Seife im Gesicht verteilte.
Mit einem lautlosen Seufzen schnappte sie sich ihre Tasche und verließ die Wohnung. Die kühle, frische Luft war die reinste Wohltat für ihren schmerzenden Schädel.
Drei Gassen weiter machte sie einen kleinen Supermarkt ausfindig und hoffte inständig auf ein paar Sonderangebote, damit sie mit ihrem überaus mickrigen Budget die nötigsten Dinge erstehen konnte.
Vor dem Eingang des kleinen Ladens, dessen Neonreklame unruhig flackerte, hatte ein Bettler Posten bezogen. Schon von weitem sah sie seine zusammengekauerte Gestalt, in lumpige Kleider gehüllt und den Kopf sowie das halbe Gesicht mit einer fleckigen Kapuze verdeckt. Der Mann tat ihr leid und erinnerte sie daran, dass es Menschen gab, die mit noch weniger als sie auskommen mussten.
Seit sie mit ihrem Vater alleine war, hatte sie wenigstens immer ein Dach über dem Kopf, etwas anzuziehen und zu essen. Ihr Vater war ständig auf der Suche nach zusätzlichen Jobs, um ihren Lebensunterhalt aufzubessern.
Dieser arme Kerl schien jedoch nicht mehr als die dreckigen Kleider an seinem Leib zu besitzen. Daria würde ihm, wenn ihr etwas Geld über bliebe, eine Kleinigkeit zum Essen kaufen.
Beim Vorbeigehen lächelte sie den Bettler freundlich, doch zurückhaltend an. Dieser hob träge den Kopf und sah zu ihr auf. Bei ihrem Anblick zuckte er sichtlich zusammen und starrte sie dann unverhohlen aus weit aufgerissenen Augen an. Seine markanten Gesichtszüge verzogen sich zu einem schiefen Grinsen, bei dem es Daria kalt den Rücken hinunterlief. Doch sie war schon zur Tür hinein und ein mit Konservendosen voll gestapeltes Regal versperrte dem Bettler die Sicht auf sie.
Als Daria spürte, wie ihre Haare von einer sanften Brise verwirbelt wurden, zwang sie sich, wieder zur Ruhe zu kommen, und atmete ein paar Mal tief ein und aus. Das Lüftchen legte sich unbemerkt und Daria bemühte sich, ihre Konzentration auf den Einkauf zu lenken. Während sie Preise verglich und zum zweiten Mal schweren Herzens die kleine Haarbürste aus dem Einkaufswagen ins Regalfach zurücklegte, kam ihr der Bettler gar nicht mehr so ungewöhnlich vor. Womöglich hatte sie ihn ja an jemanden erinnert und er hatte sich schlichtweg darüber gefreut.
Sie starrte die Bürste noch einige Augenblicke sehnsüchtig an und dachte dabei an das alte, kaputte Modell, das daheim in einer Kiste auf sie wartete und ihr mit den abgewetzten Borsten mehr die Kopfhaut aufritzte, als ihre Haare zu entwirren. Doch dann entschied sie sich endgültig dafür, statt der Bürste ein Stück Brot für den Bettler mitzunehmen und wandte sich ab.
Als sie ihre spärlichen Einkäufe verpackt hatte und mit dem Brotlaib in der Hand beim Ausgang angekommen war, zeugte der menschenleere Gehweg jedoch davon, dass der Bettler weitergezogen war. Mit einem leisen Brummen verstaute sie das Brot in der Einkaufstüte und dachte wehmütig an die Bürste.
„Wir können Ihnen leider keinen weiteren Kredit gewähren, Herr Hellar! Sie sind bereits mit Ihren aktuellen Zahlungen weit im Rückstand!“, sagte der Bankangestellte mit einem leichten Kopfschütteln.
Erik sackte enttäuscht in sich zusammen. Er hatte zwar nicht ernsthaft damit gerechnet, einen weiteren Kredit zu bekommen, doch ein letzter Funke Hoffnung war da gewesen. Zumindest hatte er es versuchen müssen, denn jeder Kredit bei einer Bank war besser, als Geld von Kopack zu nehmen. Er schuldete ihm bereits eine stattliche Summe, welche dieser bis Ende des Monats wieder sehen wollte, mit Zinsen versteht sich.
Doch die Anzahlung für die Wohnung war jetzt erst mal am wichtigsten, ansonsten müssten sie im Auto übernachten und das wollte er Daria nicht antun. Sie musste auch so schon auf so vieles verzichten, da wollte er ihr wenigstens ein Bett zum Schlafen bieten können. Sein schlechtes Gewissen steigerte sich noch, als er die Gedanken zu seiner verstorbenen Frau schweifen ließ. Wäre Iris heute noch bei ihm, so wäre alles anders gekommen. Sie hätte gewusst, wie die Familie besser über die Runden kommen könnte, würde seine Sorgen um Daria mit ihm teilen und er müsste nachts nicht wach liegen und mit schmerzendem Herzen an sie denken.
Jede wache Minute verfluchte er sich dafür, geglaubt zu haben, er könnte ihre Verfolger abschütteln. Der Sprung ins Wasser mit dem Ziel, deren Boot fahruntüchtig zu machen, war der größte Fehler seines Lebens, hatte ihn seine geliebte Frau gekostet und Daria ihre Mutter genommen.
„Brauchen Sie noch etwas?“, fragte der Banker sichtlich genervt und tippte dabei mit dem Zeigefinger auf das blank polierte Glas seiner Rolex.
„Nein, entschuldigen Sie, dass ich Sie so lange aufgehalten habe“, murmelte Erik und verabschiedete sich mit einem Kopfnicken. Bevor er die Bank verließ, um mit leeren Händen heimzukommen, suchte er noch die Toilette des weitläufigen, mit dunkelgrünem Teppichboden ausgelegten Gebäudes auf.
Als er gerade dabei war, sich die Hände mit einem kratzigen Papierhandtuch abzutrocknen, hörte er, wie sich die Tür zur Toilette öffnete. Das Klacken von Absätzen und Knautschen von Leder war zu hören. Erik wusste, wer der Mann war, der gerade den Raum betreten hatte. Seine Lederstiefel im Cowboylook steuerten das Waschbecken neben ihm an. Durch den Spiegel hindurch sah ihm der Mann eindringlich in die Augen. Erik bemühte sich, ruhig zu bleiben, aber die eben abgetrockneten Hände waren wieder nass von seinem Schweiß.
„Hallo, mein Freund!“, begrüßte ihn der Mann, nachdem er ihn eine Weile mit belustigtem Blick betrachtet hatte.
Erik drehte den Kopf zur Seite, um ihm direkt ins Gesicht zu blicken. „Hallo, Spencer!“, erwiderte Erik gedehnt.
„Du weißt, warum ich dich besuche? Kein Glück gehabt mit der Bank, was? Du erinnerst dich aber schon noch daran, dass in acht“, dabei zeigte Spencer die Zahl mit seinen Fingern, „Tagen das Geld fällig ist?“ Ein schmieriges Grinsen straffte seine markanten Züge und verlieh ihm einen gefährlichen Ausdruck.
„Ich weiß, ich werde das Geld parat haben, das habe ich bereits bei deinem letzten Besuch vor einer Woche gesagt“, erwiderte Erik kleinlaut. Es brodelte in ihm, er konnte das Blut in seinen Ohren rauschen hören, doch er wollte seinem Gegenüber keinen Grund liefern, verärgert zu werden.
„Gut, gut … schöne Wohnung übrigens“, meinte dieser nur, tippte sich auf seinen schwarzen Cowboyhut und ließ Erik alleine in der Männertoilette zurück.
Woher zum Teufel wusste Kopack schon wieder, wo sie wohnten? Sie hatten etliche Kilometer zurückgelegt und doch war es wie immer nur eine Frage der Zeit, bis Spencer oder ein anderer von Kopacks Leuten ihm einen Besuch abstattete.
Um seine Entrüstung zu bekämpfen, atmete er zweimal tief durch und machte sich dann mit leeren Händen, aber einem Stein im Magen auf den Heimweg.
„Bist du dir absolut sicher, Konrad?“, fragte Alarik nun schon zum zweiten Mal mit erregter Stimme und blickte sein Gegenüber mit zusammengekniffenen Augen an. Schweißperlen traten auf seine Stirn und der Atem ging ihm schnell vor Aufregung. Sollte Konrad wirklich recht haben, wäre das seine große Chance.
„Ohne Zweifel!“, betonte dieser erneut und knetete fiebrig seine schmutzigen Hände. „Ich weiß doch, was ich gesehen habe! Oder vertraust du nicht in meine Fähigkeiten? Es war zwar nur ein blauer Schimmer, aber ich bin mir hundertprozentig sicher, dass ich es gesehen habe. Dieses Mädchen hat beide Elemente, Luft und Wasser, in sich vereint! Mag sein, dass sie die Affinität zum Wasser geheim hält, um nicht aufzufallen, oder aber es ist ihr gar nicht erst bewusst, dass sie diese Macht hat! Allerdings könnte ich mir keinen Grund denken, warum das so sein sollte. Aber egal“, betonte Konrad. „Ich bin mir sicher! Und nur das zählt!“, schloss er und reckte triumphierend sein Kinn in die Höhe.
Alarik war sich sehr wohl bewusst, dass Konrad einer der besten Auraleser war, zumal diese Gabe äußerst selten auftrat. „Und du weißt, wo sie sich aufhält?“, wollte Alarik wissen.
„Ja! Ich habe sie bis zu ihrer Wohnung verfolgt und dort noch eine Weile beobachtet. Kurze Zeit später kam ein Mann dazu, ich schätze, es ist ihr Vater. Hier ist die Adresse.“ Konrad reichte ihm ein abgerissenes Stück Papier, auf dem in krakeliger Handschrift ein Straßenname samt Hausnummer zu lesen war.
„Nun gut, dann geh dich erst einmal duschen, im Bad liegen frische Sachen für dich bereit, und dann zu Silvia in die Küche. Sie wird dir etwas zum Essen machen und dir deinen Lohn aushändigen.“
Angewidert von dem intensiven Geruch nach Schweiß und Tabak, der von Konrad ausging, drehte sich Alarik weg und widmete sich seinem Computer, um den Hauseigentümer ausfindig zu machen, welcher unter der eben erhaltenen Anschrift aufschien.
Konrad hatte den Raum bereits vor einigen Minuten verlassen, als Alarik Gepolter und Stimmengewirr aus dem unteren Stockwerk vernahm. Eilig sperrte er den Computer, um nachzusehen, wer oder was diesen Tumult verursachte. Als er auf halbem Weg nach unten war, machte er die gereizten Stimmen seiner Söhne aus und auch die seiner Frau, während sie versuchte, zwischen den beiden zu schlichten.
„Musstest du dich einmischen, Derek? Ich hätte bei ihr landen können! Sie hat mir schließlich den ganzen Abend schöne Augen gemacht!“, warf Vincent, sein Jüngster, seinem Bruder wutentbrannt vor.
Alarik nahm gerade die letzten zwei Stufen der Treppe auf einmal, als Derek, der eine blutende Nase hatte, in schallendes Gelächter ausbrach. „Sie dir schöne Augen gemacht? Schielst du? Die hat sich nur für mich interessiert, wie man ja auch unschwer daran erkennen kann, dass sie mich geküsst hat und nicht deine Wenigkeit! Hättest du mir nicht die Tour vermasselt, hätte ich sie sicher noch flachgelegt!“, prahlte er.
Vincent wollte sich gerade wieder auf seinen älteren Bruder stürzen, zweifellos um auch das andere Nasenloch zum Bluten zu bringen, doch Alarik hatte genug gehört.
„Vincent, hör auf!“, dröhnte er deshalb mit seiner tiefen Stimme.
Vincent, der gerade zum Schlag ausgeholt hatte, hielt mitten in der Bewegung inne und starrte seinen Vater aus zornfunkelnden Augen an.
„Derek, geh in dein Zimmer“, befahl sein Vater, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen.
„Hallo, Vater! Ja, mein Abend war toll! Danke der Nachfrage! Ja, auch sonst geht es mir gut“, leierte Derek und zog sich dabei die Stiefel aus.
„Lass den Blödsinn und tu, was ich dir gesagt habe!“, erwiderte Alarik und schaute seinem Sohn nun doch ins Gesicht. Mit einem ausdruckslosen Blick wartete er darauf, dass Derek sich in Bewegung setzte, um seinem Befehl nachzukommen, was dieser auch mit einem Kopfschütteln tat.
„Gute Nacht, Mama“, murmelte er noch, bevor er sich an seinem Vater vorbeischob und die Stiegen nach oben trampelte.
„Gute Nacht, mein Schatz!“, verabschiedete ihn seine Mutter und blickte Derek nach, bis er außer Sicht war.
„So, und nun zu dir, junger Mann!“, begann Alarik die übliche Predigt. „Du weißt, du hast gewisse Privilegien, die ich dir sofort wieder entziehe, wenn du die von mir auferlegten Grenzen auch nur gedenkst zu überschreiten! Keine Mädchen!“, donnerte Alarik und die Augäpfel traten ihm dabei leicht aus den Höhlen.
„Privilegien? Das ist ein schlechter Scherz!“, bluffte Vincent, doch brachte er nicht den Mumm auf, seinen Vater dabei anzusehen. „Gerade, dass ich kein Gefangener in meinem Zuhause bin! Ich darf ausgehen, aber ich darf keinen Spaß haben! Was soll das dann bringen? Frische Luft schnappen?“ Er blinzelte nach oben, um die Reaktion seines Vaters abzuschätzen, und was er sah, stimmte ihn nicht sehr optimistisch. Alarik war hochrot im Gesicht und presste die Lippen fest aufeinander, als müsse er die Worte zurückhalten, die ihm auf der Zunge brannten.
Silvia setzte gerade zu einer Verteidigung ihres Sohnes an, als sie schroff von ihrem Mann abgewürgt wurde: „Vincent, ich habe mit dir zu sprechen! Du willst dich mit Weibern vergnügen? Du wirst bald die Gelegenheit bekommen, deinen Trieben freien Lauf zu lassen!“ Ein erwartungsvolles Funkeln hatte sich in seine Augen gestohlen und auch die Röte seiner Haut ließ bei seinen Worten sichtlich nach.
Silvia atmete erschrocken ein. „Soll das bedeuten, ihr habt eine gefunden? Eine Frau mit einer gegengleichen Anomalie?“, keuchte sie und schüttelte benommen den Kopf.
Ein breites Grinsen formte sich auf Alariks Mund. „Ja, mein Goldstück, genau das heißt es. Unser Sohn wird bald seiner Pflicht nachkommen und unser Blut wird es sein, das die Prophezeiung erfüllt!“
Vincent schluckte schwer. Er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Seit seiner Geburt, besser gesagt, seit er als Baby dem Auraleser gezeigt wurde und feststand, dass er in sich die Elemente Feuer und Erde vereinte, war sein Leben festgelegt worden. Er wurde nur zu dem einen Zweck aufgezogen: Einmal, sollte sich ein passendes Gegenstück finden, die Blutlinie seiner Familie weiterzugeben.
Er konnte es nicht fassen, dass dieser Tag nun wirklich gekommen war. Sein Vater tat zwar immer so, als würde es jederzeit passieren, aber er wusste und auch seine Mutter betonte immer wieder, wie unwahrscheinlich es war, dass zwei passende Anomalien zur selben Zeit auftraten. Bisher war es jedenfalls noch nie vorgekommen. Er hatte sich darauf eingestellt, seine Tage unter dem Drill seines Vaters zu fristen, und träumte davon, ihm irgendwann die Stirn zu bieten und sich davonzumachen, um sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Doch nun war diese Möglichkeit undenkbar geworden. Nun musste er, wie sein Vater schon gesagt hatte, seine Pflicht erfüllen und darauf vertrauen, dass sich sein Leben dann vielleicht ändern würde. Das Leben aller Menschen. Er hoffte nur, dass sie nicht alt und hässlich war, diese andere Anomalie.