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Der Fund

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»Marvin, du kommst noch zu spät zur Schule, wenn du jetzt nicht endlich aufstehst!«, schimpfte die Mutter laut, nachdem sie zum dritten Mal in Marvins Zimmer gegangen war, um den Langschläfer aus den Federn zu holen.

Lauter als gewöhnlich hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, ja beinahe schon zugeknallt. Sie seufzte. Marvin war ein Träumer und liebte es, lange im Bett zu bleiben und das Aufstehen hinauszuzögern. Besonders am Wochenende konnte er sich kaum dazu entschließen, das Bett zu verlassen. Stattdessen hatte er immer ein Buch auf dem kleinen Nachttisch bereitliegen, in das er sich vertiefte, bis sie ihn zum Mittagessen rief.

Doch in der Woche war es natürlich nicht möglich, ihn einfach im Bett bleiben zu lassen. Die Schule rief. Heute war es für ihn noch viel schwieriger als sonst, aus den Federn zu steigen, denn ausnahmsweise hatte er gestern noch spät einen Film anschauen dürfen und war so müde, dass er kaum die Augen offenhalten konnte. Marvin rekelte sich unwillig und fühlte sich durch seine Mutter gestört, obwohl er natürlich wusste, dass er aufstehen sollte.

Aber er hatte so schön geträumt und noch überhaupt keine Lust, aus dem warmen Bett zu kriechen, in dem es sich so wohlig warm und kuschelig faulenzen ließ. Er rieb sich die Augen und streckte sich noch mal ganz lang und wohlig im Bett aus, spannte alle Muskeln an und wand sich ein wenig, wie er es bei den großen Raubkatzen im Zoo gesehen hatte. Doch er war kein gefährliches Tier, sondern ein kleiner Junge, der gleich mächtigen Ärger mit seiner viel gefährlicheren Mutter bekommen würde, wenn er jetzt nicht zum Frühstück erschien.

Marvin grinste bei dem Gedanken daran, seine Mutter mit einer Raubkatze zu vergleichen. Müde lächelnd, aber dennoch mühsam und unwillig setzte er sich nach dieser dritten Mahnung zumindest auf die Bettkante, wo er sich erst noch einmal reckte und streckte und ausgiebig gähnte. Dann warf er einen Blick zum Fenster, wo die Mutter schon beim ersten Weckruf den Rollladen hochgezogen hatte.

Es war Dezember und so fiel morgens um 7 noch nicht viel Licht in das kleine Schlafzimmer mit den blauen Tapeten und dem Sternenmuster an der Decke. Doch Marvin war trotzdem plötzlich hellwach. Es schneite! Draußen, im trüben grauen Licht des herandämmernden Tages, sah er die kleinen glitzernden Schneeflocken langsam zur Erde heruntertanzen.

Noch waren es wenige, doch bald würde sich ein ganzes Heer von ihnen aus den Wolken herunterstürzen. Wie hatte er sich darauf gefreut, dass es ein weißes Weihnachtsfest geben würde! Und der Schnee hatte so lange auf sich warten lassen. Heute war sein letzter Schultag vor den Weihnachtsferien, und bis er nach Hause kam, würde er bestimmt schon einen Schneemann bauen können – wenigstens einen ganz kleinen.

Fröhlich zog er seine Jeans und einen dicken Pullover an – er mochte den knallroten mit dem Aufdruck eines Rennwagens darauf am liebsten. Und bei dem Wetter draußen entschied er sich für seine dicken, braunen Socken, die ihm die Oma zum letzten Weihnachtsfest gestrickt hatte, und die pelzgefütterten Stiefel. Jetzt konnte er es kaum noch erwarten, aus dem Haus zu kommen und beeilte sich, zu seinen Eltern in die Küche zu rennen, wo noch ein warmer Kakao (zum zweiten Mal aufgewärmt) und ein großes Butterbrot (mit wenig Butter, weil das gesünder ist) auf ihn warteten.

Die Mutter blickte ihn erleichtert an. Er war also doch aufgestanden! Sie hatte natürlich Verständnis für ihren Sohn, denn sie war selbst einmal Schülerin gewesen und war morgens genauso ungerne aufgestanden. Aber das würde sie ihrem Sohn natürlich nicht verraten. Sie war jetzt erwachsen und musste ein gutes Vorbild abgeben. Trotzdem fühlte sie sich in ihre Jugend zurückversetzt, als sie ihn so leicht verschlafen und verstrubbelt zur Tür hereinstürmen sah.

»Da bist du ja endlich«, murmelte der Vater hinter der Zeitung hervor und warf einen hastigen Blick auf die Uhr. »Ich habe es heute wahnsinnig eilig, ich sollte eigentlich schon lange weg sein.«

Marvin wohnte nicht sehr weit von der Schule entfernt und war mit seinen 7 Jahren schon alt genug, um den Weg auch allein zu gehen – aber natürlich war es viel schöner, wenn der Vater ihn in seinem warmen Auto genau bis vor den Eingang der Schule fuhr. Normalerweise war Marvin ziemlich faul und hätte keine Gelegenheit ausgelassen, in die Schule gebracht zu werden. Heute, beim ersten Schneefall in diesem Jahr, war das etwas anderes. Die Verlockung, den trudelnden Flocken zuzusehen und mit offenem Mund in den Himmel zu starren, um die kleinen weißen Flocken mit der Zunge aufzufangen, war einfach zu groß.

»Das macht gar nichts, Papa«, meinte Marvin und mampfte sein Butterbrot, das er zusätzlich noch dick mit Erdbeermarmelade bestrichen hatte. »Ich kann den Weg auch ganz allein gehen, du kannst ruhig schon losfahren. Es macht mir gar nichts aus. Wirklich nicht!« Bittend blickte Marvin mit klebrig rot verschmiertem Mund zu seinem Vater hoch, der ihm seinerseits einen skeptischen Blick zurückwarf. Er legte die Zeitung weg.

»Und darf man fragen, was meinen faulen Sohn dazu veranlasst, ausgerechnet den Weg bei kaltem Matschwetter freiwillig zu Fuß zu gehen? «, fragte er mit gerunzelter Stirn und beugte sich sehr chefmäßig zu seinem Sohn nach vorn über den Tisch. Marvin schluckte schnell den nächsten Bissen hinunter und wischte sich mit dem Handrücken den klebrigen Mund ab, bevor er antworten konnte.

»Aber das ist es ja gerade. Das ist der erste Schnee! Das muss ich unbedingt ausnützen!« Die Eltern blickten sich kurz an, und die Mutter zuckte mit den Schultern.

»Also, von mir aus kann er ruhig auch zu Fuß gehen. Es ist ja nicht weit und er kennt den Weg.«

Zufrieden lächelnd biss Marvin nochmals von dem immer kleiner werdenden Brot ab und kaute schnell weiter. Mit der freien Hand winkte er dem Vater nach, als dieser die Küche verließ und sich auf den Weg zur Arbeit machte. Marvin brauchte nicht lange, um seinen Kakao auszutrinken, der mittlerweile nur noch lauwarm war, und seinen Schulranzen zu schnappen.

Er war jetzt wirklich aufgeregt und wollte unbedingt in den Schnee hinaus. Die Mutter brachte ihn noch an die Tür und fuhr ihm über das strubbelige blonde Haar. Marvin wehrte die Hand ab, er mochte sein Haar so unordentlich wie es war, denn das war gerade besonders »in«. Dann gab sie ihm noch viele Ratschläge mit – ganz wie Mütter es so an sich haben.

»Und bleib auf dem Gehweg, es ist noch dunkel. Die Autofahrer könnten dich übersehen. Nicht auszudenken, was da passieren könnte!«

»Aber Mama, ich bin doch kein Baby mehr, ich kenne den Weg«, murrte Marvin und schulterte den Ranzen.

»Also, ich muss jetzt wirklich los! Machs gut«, beeilte er sich, der mütterlichen Fürsorge zu entkommen und sprang die matschigen Treppenstufen hinunter in die Einfahrt, die bereits schön weiß vor ihm lag.

Bis auf die Reifenspuren und Fußabdrücke, die sein Vater kurz vorher hinterlassen hatte. Gut gelaunt drehte er sich einige Schritte weiter nochmals um und winkte der Mutter ein letztes Mal zu, bevor er sich dann ganz auf den Schnee konzentrierte. Er bewunderte die vielen unterschiedlichen Formen der Flocken und ihren Tanz, wenn sie vom Himmel heruntertrudelten und sich langsam auf Gräser, Erde und Blumen legten.

Die Tannenbäume in Nachbars Garten waren schon von einer feinen Schicht überzogen und sahen aus, als hätte jemand eine große Portion Puderzucker über sie geschüttet. Wirklich eilig hatte Marvin es natürlich nicht, in die Schule zu kommen, er sah sich viel zu genau um und betrachtete die Flocken, als ob er sie studieren wollte. Nur deshalb bemerkte er auch etwas Seltsames, das er nie zuvor gesehen hatte.

Nun ja, gesehen hatte er es wohl schon einmal, aber noch niemals auf dem Boden. Zuerst bemerkte er etwas bunt Glänzendes, das überhaupt nicht nach weißen Schneeflocken aussah und sich deutlich von der immer stärker wachsenden weißen Masse abhob. Vorsichtig ging er in die Hocke, um sich das Objekt näher anzuschauen.

Es war nicht besonders groß und irgendwie länglich und gebogen und es schillerte. Vor allem aber – und das konnte er kaum glauben – bewegte es sich auch noch. Marvin machte immer noch in der Hocke einen watschelnden Schritt nach vorn und saß nun ganz nahe an dem kleinen bunten Ding, das ihn irgendwie an einen Bumerang erinnerte, aber es war nicht braun und aus Holz, sondern er war bunt. Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau, Indigo, Violett.

Oh Mann, dachte er sich. Das sieht aus wie ein kleiner Regenbogen. Da er nichts Gefährliches hatte beobachten können, griff er nun beherzt zu und nahm den kleinen bunten Gegenstand an sich. Er ließ ihn aber auch gleich darauf wieder fallen, denn er hätte nicht damit gerechnet, dass das bunte Ding mit ihm reden würde!

»He, lass mich liegen. Was machst du denn mit mir!«, rief der kleine bunte Gegenstand empört und bewegte sich hektisch hin und her, um sich dem Griff des Jungen zu entwinden. Erschrocken ließ Marvin den kleinen Schreihals los, sprang aus der Hocke auf und machte einen Schritt zurück. Er beobachtete, wie der kleine Regenbogen zu Boden fiel und sich dann wieder, immer noch schimpfend, im Schnee vor Kälte zusammenkrümmte.

Marvin war einige Sekunden lang unschlüssig und starrte einfach nur auf den kleinen Regenbogen, während der Schnee unentwegt auf ihn niederfiel, und sein blondes Haar weiß werden ließ, denn natürlich hatte er keine Mütze aufgesetzt. Er war sich inzwischen sicher, dass es sich tatsächlich um einen Regenbogen handelte, wenn ihm auch nicht klar war, wie es einen so kleinen überhaupt geben konnte, wie er hierherkam und warum er sprechen konnte.

Doch bevor er eingeschneit sein würde, kniete er sich beherzt erneut nieder, um den kleinen Kameraden aus der Nähe zu begutachten. Der Regenbogen hatte sich mittlerweile in eine kleine, schneefreie Kuhle zurückgezogen, die er in die harte Erde geritzt hatte, und blickte von dort aus vorwurfsvoll zu Marvin auf.

»Was machst du denn hier auf der Erde?«, fragte Marvin, der sich jetzt wieder gefangen hatte. »Gehören Regenbogen nicht normalerweise in den Himmel?«

Der Regenbogen überlegte einen Moment, ob er sich von dem Jungen in ein Gespräch verwickeln lassen wollte, entschied dann aber nach einem weiteren ausgiebigen Blick in dessen offenes, freundliches Gesicht, dass ihm von diesem wohl keine Gefahr drohen würde. Also seufzte er tief und begann dann leise zu erzählen.

»Ja, eigentlich leben wir Regenbogen über den Wolken und wir können uns erst über den Himmel spannen, wenn wir schön groß und bunt sind. Ich war etwas zu voreilig und habe versucht, einen kleinen Bogen zu schlagen und da war es schon geschehen. Plumps! Bin ich auf die Erde heruntergefallen und muss jetzt warten, bis ich gewachsen bin, sodass ich wieder bis hoch hinaufreiche. So lange muss ich es hier irgendwie aushalten. Wenn es nur nicht gerade im Winter passiert wäre! Hier ist alles so weiß und kalt und ich liebe doch die Sonne so sehr.«

Ganz kleinlaut ringelte sich der kleine Regenbogen zusammen und schaute aus traurigen Augen zu Marvin empor.

»Ich würde dir ja wirklich sehr gerne helfen«, beteuerte Marvin, »aber ich kann dich nicht in den Himmel bringen und ich kenne kein Mittel, das Regenbogen schneller wachsen lässt. Was könnte ich denn für dich tun?«

Der Regenbogen überlegte.

»Es wäre schön, wenn du einen warmen Platz für mich hättest, an dem es auch Wasser gibt. Das Wasser brauche ich, damit ich schöne Farben entwickeln kann. Und ich will die Sonne sehen. Dann kann ich richtig gut funkeln und werde schnell groß!«

Marvin war ein wenig ratlos. Wie sollte er jetzt vor der Schule den Regenbogen an einen warmen, aber nassen und sonnigen Platz evakuieren? Hoffnungsvoll wartete der kleine Regenbogen ab und blinkte ein wenig in hellem Rot.

»Ich muss leider zur Schule gehen«, sagte Marvin bedauernd. »Heute ist der letzte Schultag und da darf ich nicht fehlen. Kannst du dich noch eine Weile hier verstecken, bis ich wiederkomme? Dann nehme ich dich mit zu mir nach Hause. Was wird das für ein Spaß werden!«

Marvin war ganz begeistert von seiner Idee und auch der kleine Regenbogen schien zufrieden zu sein, wenn er auch ungeduldig war. Was wäre nur, wenn jemand anders ihn hier entdeckte? Er kannte ja jetzt Marvin und war fest entschlossen, nur mit diesem seinem neuen Freund mitzugehen. Aber im Moment hatte er wohl keine andere Wahl als zu warten. Also sagte er ganz tapfer zu Marvin:

»Mach dir keine Sorgen, ich werde hier auf dich warten und mich ein wenig mit den Schneeflocken unterhalten. So kann ich wenigstens erfahren, wie es über den Wolken zugeht und ob man mich vermisst.«

Marvin war gerade dabei gewesen, aufzustehen, als er mitten in der Bewegung innehielt. »Die Schneeflocken können reden?«, fragte er völlig verdutzt.

»Aber natürlich!«, antwortete der Regenbogen beleidigt. »Warum sollten sie das denn nicht können?«

Marvin konnte darauf nichts Sinnvolles erwidern. Es stimmte ja, wenn schon die Regenbogen reden konnten, warum sollten dann nicht auch die Schneeflocken reden können? Also beendete er seine Bewegung, stand auf, klopfte sich den Schnee von der Hose und der Jacke und machte sich schnell auf den Schulweg. Oje, er würde viel zu spät kommen. Was sollte er nur der Lehrerin sagen?

Am besten, er bliebe bei der Wahrheit. Er hatte sich über den Schnee gefreut und hier und da die Natur beobachtet, wie sie sich langsam ein weißes Kleid anzog und wie der hübsch glitzernde Schnee sich auf die Dächer, Straßen und Wiesen legte. Dabei hatte er dann getrödelt und war leider zu spät. Seinen neuen Freund würde er natürlich nicht erwähnen. Dieser gehörte nur ihm ganz allein!

Solchermaßen vorbereitet rannte er die letzten Meter bis zur Schule und kam gerade noch beim Läuten in das Klassenzimmer gestürmt. So hatte er Glück und brauchte seine Ausrede nicht einmal zu benutzen. Bis zum Ende des Unterrichtes war er jedoch ganz schön zappelig und hörte kaum, was die Lehrerin vorn an der Tafel erzählte.

Aber das wurde am letzten Schultag nicht so eng gesehen, denn die Lehrer waren selbst schon aufgeregt vor den Ferien. Auch sie hatten noch Geschenke zu besorgen und den Baum zu schmücken und allerlei andere Dinge zu erledigen. So sahen sie darüber hinweg, wenn die Kinder ab und zu verträumt aus dem Fenster schauten und den spielenden Schneeflöckchen bei ihrem Tanz zusahen.

Zum Glück wurde Marvin also nicht aufgerufen und konnte sich deshalb ganz seinen Tagträumen hingeben, die sich allesamt um seinen neuen Freund drehten. Viel zu langsam verging die Zeit, bis endlich das erlösende letzte Läuten der letzten Stunde ertönte und er rasch seine Tasche packen und hinausstürmen konnte. Er verabschiedete sich kaum von seinen Mitschülern und seine Freunde blickten ihm kopfschüttelnd hinterher.

Marvin und die Wibbels

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