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Das neue Zuhause

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Wie er seinen Freunden sein Verhalten erklären sollte, würde er sich später überlegen. Nun war er viel zu aufgeregt wegen des kleinen Regenbogens, mit dem er sich so gerne unterhalten wollte. Hoffentlich hatte ihn inzwischen kein anderer gefunden und mitgenommen!

Atemlos und mit vor Kälte und Anstrengung geröteten Bäckchen kam er wieder zu der Stelle in der Wiese gerannt, an der er den kleinen Regenbogen vor Stunden zurückgelassen hatte. Das Rennen war gar nicht so einfach gewesen, denn es hatte ununterbrochen geschneit, und weil es auch so kalt war, waren die Straße und der Gehweg rutschig. Normalerweise hätte er das sicher genossen und hätte mit seinen Freunden „Schlittschuhfahren“ gespielt und wäre den ganzen Weg nach Hause johlend und kichern gerutscht und geschlittert. Vermutlich wäre er auch das ein oder andere Mal hingefallen, aber das hätte den Spaß bestimmt nicht gestört.

Heute hatte er sich mit solchen Spielchen nicht aufhalten wollen, denn er hatte den gesamten Vormittag an nichts anderes als den kleinen Regenbogen denken können. Warum können Regenbogen reden? Warum können sie vom Himmel fallen? Und warum waren sie so klein und mussten wachsen, genau wie Kinder? Wie war es wohl in dem Land über den Wolken? Gab es dort auch Menschen oder Tiere? Konnte man wirklich auf den Wattewölkchen spazieren gehen? Das alles musste er den Regenbogen unbedingt fragen – falls er ihn sich nicht nur eingebildet hatte!

Unfallfrei war er schließlich wieder an der Wiese angekommen und blickte sich im hohen Schnee suchend um. Er war sich sicher, dass er ihn genau an dieser Stelle zurückgelassen hatte, doch er konnte nichts Funkelndes im mittlerweile hohen Schnee entdecken. War er an der falschen Stelle? Oder war der Regenbogen nicht mehr hier? Zuerst erschrak er, doch dann sah er es hübsch blau hinter einem großen Steinbrocken hervorblitzen und trat rasch an die Stelle, darauf bedacht, nicht auf seinen Freund zu treten.

»Da bist du ja endlich!«, begrüßte ihn der Regenbogen vorwurfsvoll. »Mir war schon ein wenig langweilig und ginge jetzt wirklich gerne an einen wärmeren Platz.«

Vorsichtig nahm Marvin den kleinen Regenbogen in die Hand. Er konnte ihn kaum spüren, denn so ein Regenbogen wiegt ja nicht besonders viel. Vorsichtig schloss er die Hand um ihn, ohne ihn zu zerdrücken und machte sich dann schnell auf den Heimweg. Dabei unterhielt er sich nicht mit seinem Gefährten, denn außer ihm wusste ja niemand, dass dieser da war und die Menschen hätten ihn womöglich für seltsam gehalten, wenn er in Selbstgespräche verwickelt an ihnen vorbeigehastet wäre.

Oder – nicht auszudenken – was wäre gewesen, wenn jemand anderes die Stimme des kleinen Regenbogens vernommen hätte?! Als er niemanden entdecken konnte, zischelte er dem Regenbogen zu: »Hast du eigentlich einen Namen? Ich kann dich ja nicht nur Regenbogen nennen?«

Vorsichtig hielt er die geschlossene Faust höher und tat so, als müsste er auf die Uhr an seinem Handgelenk schauen, obwohl man das üblicherweise auch nicht macht, indem man beide Hände ineinander verschränkt ans Ohr hält. Dumpf kam die Antwort aus der Faust zurück: »Ich heiße Pit. Einfach nur Pit.«

Marvin nickte, obwohl Pit das ja nicht sehen konnte, und sagte dann zu seiner Faust: »Und ich heiße Marvin. Willkommen in deinem neuen Zuhause.«

Er ließ die Faust sinken und rannte nach einem kurzen Blick nach links und rechts rasch über die menschenleere Straße und in die Einfahrt des elterlichen Hauses. Die Reifenspuren, die das Auto seines Vaters heute Morgen in den frischen Schneeflocken hinterlassen hatte, waren nicht mehr zu erkennen. Aber die Mutter hatte wenigstens die Treppe, die zur Haustür führte, mit einem Besen freigemacht, damit niemand ausrutschen konnte.

Atemlos sprang er die sechs Stufen hoch, behielt Pit in der linken Hand und klingelte mit der rechten Hand Sturm. Die Mutter öffnete ihm mit einem Lächeln, das aber einem verdutzten Blick wich, denn Marvin hetzte nur mit einem nur flüchtig gemurmelten Gruß an seiner Mutter vorbei in sein Zimmer. Sie schüttelte missbilligend und verwundert den Kopf, Schloss die Tür, um die Kälte draußen zu lassen und ging Marvin hinterher.

Nebenbei fiel ihr auf, dass Marvin die nassen Schuhe nicht ausgezogen hatte, was sie problemlos an den dicken, nassen Spuren auf dem Boden erkennen konnte. Sie war sauer und ging Marvin hinterher.

»Marvin, ist etwas passiert?«, rief sie laut auf dem Weg zu Marvins Zimmer. Und man hörte aus ihrer Stimme dann doch einen leichten Anflug von Unbehagen.

Die Situation kam ihr seltsam vor, wenn sie auch nicht glaubte, dass etwas Schlimmes geschehen war, denn sie hatte gesehen, dass Marvin unverletzt war. Trotzdem. Marvin verhielt sich nicht so, wie er es normalerweise tat, wenn er von der Schule nach Hause kam.

Meist begrüßte er sie überschwänglich und erzählte ihr sofort, was er alles erlebt hatte, während er seine schmutzigen Schuhe auszog und ordentlich auf der dafür vorgesehenen Matte abstellte. Und sogar dann begleitete er sie meist noch in die Küche, um etwas zu trinken oder auch ins Wohnzimmer, wenn sie gerade dort etwas zu tun hatte. Sie überlegte. Vielleicht hatte es ja in der Schule Streit gegeben?

Marvin hörte die sich rasch nähernden Schritte seiner Mutter auf den Steinfliesen im Flur und schrie schnell zurück: »Nein, nein, ich habe mich nur beeilt, weil ich ganz dringend mal aufs Klo muss!«

»Na, dann ist es ja gut«, gab die Mutter erleichtert zurück. Sie hatte keinen Grund, Marvin diese Ausrede nicht abzunehmen. Und aufs Klo würde sie ihm natürlich nicht folgen. Also beschloss sie, später einen Putzlappen zu holen, um die Schweinerei auf dem Boden zu beseitigen. Doch zunächst ging sie statt in Marvins Zimmer in die Küche zurück, um das Mittagessen fertig zu kochen. Sie wollte schließlich nicht, dass das vorbereitete Essen anbrannte.

Die Steinfliesen sahen zwar nicht besonders heimelig aus, würden aber nicht kaputtgehen, wenn sie sie erst später sauber machte. Fröhlich singend drehte sie das Radio lauter und sang »Jingle Bells« mit, während sie vorsichtig den Eintopf umrührte. Sie hatte Glück, er war nicht übergekocht. Und er schmeckte sogar ganz gut, wenn sie sich selbst loben durfte. Ab und zu darf man das, gestand sie sich ein und sang noch etwas beschwingter mit.

Marvin atmete auf. Das war ja gerade noch mal gut gegangen! Er legte Pit auf seinem noch nicht gemachten Bett ab und beschloss, sich erst einmal umzuziehen. Schnell schlüpfte er aus der dicken Jacke und den nassen Schuhen, wobei er dann die Schweinerei bemerkte, die er angerichtet hatte. »Oje! Das wird ganz schön Ärger geben!«, jammerte er sich beim Anblick der nassen Pfütze auf seinem dunklen Teppich.

Schnell griff er die feuchten Stiefel und stellte sie vor seiner Zimmertür auf den Steinboden. Um den Wasserschaden würde er sich gleich kümmern, zuerst wollte er sich etwas Bequemeres und Trockenes anziehen. Er überlegte nicht lange und entschied sich dann dafür, die klamme, feuchte Jeans gegen die Hose seines Trainingsanzuges auszutauschen. Der Anzug lag ohnehin über der Rückenlehne seines Schreibtischstuhles und er hatte heute ja nichts mehr vor, bei dem er gut aussehen musste.

Es war jetzt nur wichtig, dass er sich rasch mit seinem neuen Freund beschäftigte. Und mit den Schuhen, die vor seiner Zimmertüre auf Reinigung warteten. Er öffnete probeweise die Tür und lauschte auf die Geräusche, die ihm bestätigten, dass seine Mutter in der Küche war. So konnte er rasch die Stiefel schnappen und sie in den Flur zurücktragen und auf die Matte stellen.

».... jingle all the way ...« sang seine Mutter und wirbelte durch die Küche. Marvin grinste. Seine Mutter sang zwar laut aber nicht gut. Schnell lief er zurück in sein Zimmer, die Schweinerei würde er lieber später beseitigen, das Wasser war von seiner Mutter sicher schon gesehen worden und sie vermutete schließlich, dass er sich gerade dringend im Badezimmer aufhielt. Es wäre doch verdächtig, wenn er stattdessen den Flur putzen würde, oder? Natürlich war er ohnehin zu faul dafür, aber es ging doch nichts darüber, vor sich selbst eine gute Ausrede zu finden.

Marvin grinste und schlich rasch in sein Zimmer zurück, wo er leise die Tür schloss und erst einmal tief durchatmete. Er stellte sich vor Marvin, der noch immer auf der Bettdecke des ungemachten Bettes saß – oder lag? Kann ein Regenbogen sitzen? – und versuchte, die neuen Eindrücke in sich aufzunehmen. Pit beobachtete Marvin aufmerksam bei seinen für einen Regenbogen selten anzuschauenden Verrichtungen und blickte sich natürlich auch im Zimmer um. Als Regenbogen hatte man nicht oft die Gelegenheit, das Zimmer eines kleinen Jungen von innen kennenzulernen.

In stummem Erstaunen betrachtete er die Poster von Zeichentrickhelden, Fußballstars und Rennautos sowie das volle Bücherregal und die Spielsachen, die unordentlich auf dem Boden herumlagen. »Ich wusste nicht, dass Menschen so viele Dinge zum Leben brauchen!«, sagte er dann.

»Naja, brauchen würde ich das nicht direkt nennen«, antwortete Marvin verlegen. »Man hat einfach gewisse Dinge ...«, die man aber einem Regenbogen nicht erklären kann, beendete er seinen Satz im Geiste und zuckte mit den Schultern, anstatt den Satz zu vollenden.

»Und wo wird mein Platz sein?«, fragte Pit, ohne noch einmal auf die Gebrauchsgegenstände eines Siebenjährigen zurückzukommen.

»Tja«, gab Marvin zurück und blickte sich suchend in seinem Zimmer um. Nachdenklich kratzte er sich am Kopf und registrierte dabei, dass seine Haare klatschnass waren, weil der Schnee auf seinen Haaren geschmolzen war. Doch er beachtete es nicht weiter. Er grübelte über schwerwiegendere Probleme nach.

Welcher Platz war wohl angemessen für einen kleinen Regenbogen im Wachstum? Er hatte bisher noch nie vor dieser wichtigen Frage gestanden und fühlte sich leicht überfordert. Schließlich fiel sein Blick auf den Fenstersims, auf dem er einige kleine Kakteen stehen hatte, die ab und zu blühten. Er hielt nicht viel von Blumen oder Pflanzen im Zimmer, die fand er zu uncool, aber die Kakteen faszinierten ihn. Kurzerhand schlich er sich aus dem Zimmer ins Wohnzimmer hinaus und ließ Pit kommentarlos auf seinem Nachttisch zurück, wohin dieser mittlerweile gewandert war.

Schnell huschte Marvin zum großen Eichenschrank und nahm eine kleine flache Glasschale heraus, in der seine Mutter normalerweise Erdnüsse anbot, wenn Gäste da waren. Seine Mutter klapperte in der Küche mit Tellern und Besteck und sang die Weihnachtslieder mit. »Last Christmas, I gave you my heart ...«, trällerte sie gerade. Marvin war froh, dass sie sang, denn so konnte er besser hören, wo sie sich aufhielt.

Mit klopfendem Herzen, als hätte er etwas Verbotenes getan, rannte er auf Socken vom Wohnzimmer ins Badezimmer, füllte einige Tropfen Wasser in die Schale, tapste so schnell er konnte in sein Zimmer zurück und schloss die Tür. Er kam sich vor wie ein Geheimagent und war mächtig stolz, dass er diese gefährliche Mission allein bewältigt hatte. Wenn auch nicht ganz perfekt, denn er hatte einige verdächtige Spuren zwischen Badezimmer und Kinderzimmer hinterlassen.

Aber dank der Sauerei, die er ohnehin schon mit den nassen Schuhen veranstaltet hatte, käme niemand auf die Idee, dass Marvin für einen Regenbogen etwas Wasser geholt hatte. Die Schale stellte er auf den Fenstersims hinter zwei Kakteen, die er extra zusammenrückte, sodass man die Schale nicht sofort sehen konnte. Man würde durch den Vorhang hindurch sowieso nicht auf die Schale achten, aber er wollte vorsichtig sein.

Seine Mutter hatte manchmal ein erstaunlich gutes Gespür für Dinge, die er gerne vor ihr geheim halten wollte. So wie die vielen Schokoriegel, die er immer wieder in seinem Zimmer hortete und die sie zielsicher fand, egal wo er sie aufbewahrte. Dabei sollte er doch nicht so viel essen, er wollte doch kein dickes Kind werden!

Endlich hatte er den Platz genau ausgezirkelt, an dem die Schale stehen sollte. Probeweise trat er einige Schritte zurück und versuchte sich vorzustellen, dass er seine Mutter war. Sähe er die Schale? Zufrieden entschied er sich für ein eindeutiges Nein.

Nachdem diese notwendigen Vorarbeiten erfolgreich abgeschlossen waren, konnte Pit sein neues Zuhause beziehen. Marvin holte Pit von seinem Platz auf dem Nachttisch, wo er auf einem Karl-May-Roman gelegen und neugierig ein leeres Schokoriegelpapier betrachtet hatte und trug ihn vorsichtig zum Fenster, wo er ihn behutsam in die Wasserschale legte.

Zufrieden trat er zurück und betrachtete sein Werk. Pit blickte sich noch etwas skeptisch um, denn er hatte noch nie in einer Glasschale voll Wasser hinter amerikanischen Kakteen gesessen. Aber es war nicht unangenehm. Und die Wassertemperatur war auch wesentlich besser, als die des Schnees, in dem er den ganzen Vormittag zugebracht hatte. Nachdem Pit noch einen Blick aus dem Fenster geworfen und nach der Sonne Ausschau gehalten hatte, war er vollends überzeugt.

Sein neues Domizil war warm, sonnig und feucht, ganz nach seinem Geschmack. Wohlig wälzte er sich ein wenig im lauwarmen Wasser und bestaunte die stacheligen Kakteen, denen er sich höflich vorstellte. Die Kakteen schienen nicht zu antworten, zumindest konnte Marvin nichts hören, doch Pit nickte zufrieden und lehnte sich in seinem neuen Wasserbett zurück.

Marvin wunderte sich nicht darüber, dass hier ein Regenbogen saß, der sich mit seinen Kakteen unterhielt, denn er war sicher, dass er noch mehr erstaunliche Sachen sehen oder hören würde. Damit hatte er sogar mehr als recht, aber das war ihm im Moment natürlich nicht bewusst.

»Essen ist fertig!«, rief es in diesem Augenblick und Marvin und Pit erschraken beinahe zu Tode. Dann blickten sie gegenseitig in ihre erschrockenen Gesichter und mussten herzlich lachen.

»Also, ich gehe dann mal zum Mittagessen«, meinte Marvin, als er sich wieder beruhigt hatte. »Willst du auch etwas haben?«

Pit schüttelte sich. »Nein, danke. Regenbogen essen nichts. Aber lass es dir nur schmecken.« Und genau das tat Marvin dann auch.

»Warum hast du denn so gute Laune?«, wollte der Vater beim Essen wissen.

»Ich habe doch jetzt Ferien!«, strahlte Marvin über das ganze Gesicht. Die Eltern warfen sich einen Blick zu, sagten aber nichts. Es war schließlich normal, wenn sich ein Schulkind über die Weihnachtsferien freute. So bohrten sie nicht weiter nach, sondern freuten sich einfach mit Marvin mit und ließen sich von seiner guten Laune anstecken. Es war schließlich bald Weihnachten, das Fest der Freude! Und der Radio spielte zur Mahlzeit weitere Weihnachtslieder, die während des Essens aber nicht mitgesungen wurden. Versteht sich.


Marvin und die Wibbels

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