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Kapitel 4

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Gmooh war ein Acronym für „Get me out of here“. Der Name war Programm, denn Gmooh vermittelte jährlich Hunderte von Menschen in alle Welt. Wenn man einen Gmoohler fragte, was Gmooh eigentlich tat, sagte er gern mit breitem Grinsen: „Menschenhandel!“ Um dem verdutzten Fragesteller dann zu erklären, dass dieser natürlich auf Freiwilligkeit basiere.

Jeden Morgen schritt ich unter den wachsamen Augen ehrwürdiger Stuckfiguren die mit rotem Teppich ausgelegte Treppe hinauf in den sechsten Stock eines Gründerzeithauses. Dabei hatte ich das Gefühl, vom Berlin meiner Gegenwart durch das 19. Jahrhundert zu einem völlig neuen Ort vorzudringen, der mit meinem Raum- und Zeitverständnis nichts zu tun hatte und wo eine mir unbekannte Mentalität und Kultur herrschte.

Alle Büroräume bei Gmooh trugen die Namen von Kontinenten und Städten und waren in bunten Farben gestrichen: Raum Afrika, Raum Europa, Raum Ozeanien … Es gab zwei große Programme: Au pair und Schüleraustausch. Daneben gab es noch kleine Programme, die in der allgemeinen Wahrnehmung aber nur eine untergeordnete Rolle spielten. Bei Gmooh sprach man nicht von Abteilungen, sondern von Teams: Das Au-pair-Team vermittelte Au pairs und das Schüleraustausch-Team Austauschschüler. Und beide Teams standen miteinander in ständigem Wettkampf.

Claudia war die Teamleiterin des Au-pair-Teams, wobei Duo-Leiterin es wohl besser getroffen hätte. Elisabeth war die Teamleiterin des Schüleraustausch-Teams und für die beiden Kundenberater Emelie und Erik verantwortlich. Sie saß mit ihren zwei Assistenten im Raum Afrika, und während sie mit den Eltern der Austauschschüler telefonierte, drehte sie mit dem Zeigefinger Spiralen in ihre silberfarbenen Locken und lachte ihr tiefes, rauchiges Lachen, das so gar nicht zu ihrer feinen Silhouette und ihrem betont gesunden Lebensstil zu passen schien.

An je einer Zimmerwand hing ein großes Bild, das den betreffenden Kontinent oder die Stadt charakterisierte, und ein Sprichwort, das in irgendeiner Form mit Reisen zu tun hatte: Zwei Wege trennten sich im Wald. Ich wählte den weniger Ausgetretenen. Und das machte den Unterschied.

Die bunten Farben und lockeren Sprüche machten gute Laune. Umso stärker war der Kontrast zu dem Büroraum, in dem ich saß. Er war nüchtern weiß. Er entsprach keinem Kontinent, nicht einmal ein Städtename war für ihn abgefallen. Zwischen all den bunten Räumen um mich herum wirkte er wie eine gähnend leere Wüste. War die Farbe ausgegangen? Hatte es keinen aufmunternden Sinnspruch mehr für uns gegeben? Dabei war unser Raum von allen Räumen mit fünf Mitarbeitern am dichtesten besiedelt.

Hieß es „Die Besprechung findet heute in Europa statt“, musste ich anfangs immer nachfragen, wo das war. Denn neben Europa gab es noch andere Besprechungsräume wie Ozeanien oder das kleine Zimmer Robinson Crusoe. Und jedes Mal kam mir die Frage lächerlich vor, denn außerhalb von Gmooh wusste ich sehr wohl, wo im Universum ich positioniert war. Doch im Mikrokosmos Gmooh konnte man das schon mal vergessen. Da Geografie nicht gerade meine Stärke war, hatte ich in meinem inneren Lexikon eine vergleichbar einfache Dreiteilung gefunden: Ich teilte die Raumzonen gemäß ihrer Mentalitätsunterschiede ein. Der weiße Raum ohne Namen war gleich links von der Eingangshalle, und in meinem inneren Lexikon hieß er Holt-mich-hier-raus-Raum. Die Insassen darin brüteten über der Frage: „Wie schaffe ich es, auf einem Kontinent anzukommen, der außerhalb von Gmooh liegt?“ Das war der Raum, in dem ich nun vierzig Stunden die Woche vegetierte. In gewisser Weise war es ironisch, dass ausgerechnet die Kolleginnen in diesem farb-, namen- und mottolosen Raum das Firmenmotto Get me out of here am meisten verinnerlicht hatten.

Direkt neben unserem Büro lag der Raum des Schüleraustausch-Teams. Ich nannte ihn innerlich We are the Champions. Obwohl die Schüleraustausch-Programme im Vergleich zum Au-pair-Programm teuer waren, war die Nachfrage groß. Entweder wollten die Jugendlichen weg von ihren Alten oder die Eltern brauchten dringend eine Erholungspause von ihrem aufmüpfigen Nachwuchs. Auch in den Austauschländern wurden die Austauschschüler mit offenen Armen empfangen. Wieso man sich freiwillig einen pubertierenden Teenager aus dem Ausland ins Haus holte, blieb mir ein Rätsel, und ich bewunderte die Eltern für ihren Großmut und ihren Idealismus. Das Programm boomte und die Erträge ebenso. Diese Tatsache pumpte enormes Selbstbewusstsein in die Venen des Schüleraustausch-Teams, und ständig herrschte dort eine euphorische Stimmung wie nach einem gewonnenen Fußballspiel. Wir anderen Teams dagegen fühlten uns als Ersatzteams, die nur selten aufs Spielfeld gelassen wurden.

Von diesen beiden Räumen gelangte man über das sogenannte Berliner Zimmer durch einen langen Flur, von mir der Kanal genannt, in den hinteren, nördlichen Teil des Büros. Wann immer ich den Kanal passierte, hatte ich das Gefühl, an seinem Ende in eine andere Dimension einzutreten. Die Menschen, die hier arbeiteten, erkannte man an ihren entspannten Gesichtszügen und an ihrer Lässigkeit – Merkmale, die am südlichen Ende gänzlich fehlten.

Hatte man den Kanal durchquert, kam man nach Asien. Hier lag aus der Sicht der meisten das Schlaraffenland, nämlich die Räume des Marketings und von unserem Chef. Betrat man das Marketingzimmer, hatte man das Gefühl, eine Gartenoase zu betreten: Die Wände waren lindgrün gestrichen, Palmen und Orchideen standen auf den Schreibtischen, und ein Mobile aus bunten Papierpapageien hing von der Decke. Öffnete man die Tür, wurden die Vögel durch den Windstoß kurz aufgeschreckt und kreisten aufgeregt über den Schreibtischen der beiden Marketingdamen. Vor ihren Bildschirmen hingen Postkarten mit Sprüchen wie Am Ende ist alles gut, und wenn es noch nicht gut ist, ist es nicht das Ende oder Alles wird gut. Das war auch der Ausspruch, der von beiden am Ende jeder Besprechung als Abschlussfloskel benutzt wurde. In diesem Zimmer gab es keine Probleme, sondern nur Herausforderungen, denen entschlossen und positiv denkend begegnet wurde.

Das Büro unseres Chefs lag in einer abgelegenen Ecke ganz hinten. Matthias war ein Bär mit dunklen Knopfaugen, der vergnügt in seinem Büro saß und von den Mentalitätsunterschieden und Kulturkämpfen, die in der Welt von Gmooh herrschten, anscheinend nichts mitbekam. Stattdessen beschäftigte er sich mit dem Kulturaustausch auf abstrakter Ebene sowie mit dem Kulturaustausch zwischen unserem Berliner Büro und der New Yorker Mutterorganisation.

Es gab noch eine Tür, die immer verschlossen war, und hinter ihr lebte der einzige IT-ler. Er hieß Kai, und man hatte mir geraten, ihn zu meiden. Das war leichter, als ich gedacht hatte. Die seltenen Momente, in denen man Kai außerhalb seines Raumes sah, waren vor der Kaffeemaschine in der Küche. Er erwiderte keinen Gruß, und auch sonst schien er seine Kollegen nicht wahrzunehmen. Er hatte sich innerhalb des Mikrokosmos´ von Gmooh seinen eigenen Mikrokosmos aufgebaut. Sein Zimmer war geräumig, und er saß dort ganz allein. Man fragte sich, was er den ganzen Tag hinter der verschlossenen Tür tat.

Daneben bevölkerte eine wechselnde Schar von Praktikanten die Gmooh-Räume. Sofort nach ihrer Ankunft wurden sie von den Champions aus dem Raum Afrika in Beschlag genommen und dann nur noch zu den Mittagszeiten gesehen. Da saßen sie dann in der Küche, hörten Musik über Kopfhörer und blinzelten sich durch ihre Nerdbrillen zu.

Meinen ersten Kontakt mit dem Schüleraustauschteam hatte ich mit Emelie. Sie war mir schon im Vorstellungsgespräch aufgefallen, da sie mit ihren blonden Zöpfen und ihrer Kombination aus Bluse, Pullunder, Minirock und Kniestrümpfen wie eine gealterte Erstklässlerin aussah. In meiner dritten Woche stellte sie sich neben meinen Schreibtisch und schaute mir wie eine Lehrerin über die Schulter. Während ich einen unserer Standardbriefe unterschrieb, schnappte sie nach Luft.

„Julika, deine Unterschrift ist viel zu groß im Vergleich zum Text!“

„Ich habe eine große Schrift und daher auch eine große Unterschrift“, antwortete ich verblüfft.

„Das sehe ich, aber das ist doch viel zu groß!“

„Soll ich etwa in zehn Punkt unterschreiben? Ich gehöre nicht zu den Leuten, die eine Mäuseschrift haben“, verteidigte ich mich.

Sie zog beleidigt ab. Als ich ihre Briefe einmal zu Gesicht bekam, sah ich, dass sie sie mit akkurater Schulmädchenschrift proportional zur Standardschriftgröße unterschrieb. Wie lange musste man wohl bei Gmooh arbeiten, um zu solcher Perfektion zu gelangen? Ich blieb bei meiner großzügigen Schrift, schlussfolgerte aber, dass ich nicht wirklich hierher passte und schmiedete heimlich Fluchtpläne.

Etwa zur selben Zeit schrieb mir meine Freundin Tina. Sie hatte sich nach dem Studium entschlossen, für drei Jahre nach Frankreich in ein buddhistisches Meditationsretreat zu gehen. Ihre große und geschwungene Handschrift grüßte mich vertraut. Offenbar gab es im Retreat niemanden, der von ihr verlangte, ihre Handschrift zu verkleinern.

„Jeden Tag durchlebe ich denselben Ablauf aus Essen, Schlafen, Meditieren, Unterweisungen, Hausarbeit. Ich fühle mich wie der Typ in dem Film Und täglich grüßt das Murmeltier, und ich kann dir sagen: Es ist ganz schön hart, auch mit den anderen. Langsam, aber sicher kommen doch allerlei Macken zum Vorschein. Ich meine, nicht nur die Macken der anderen, sondern auch meine eigenen. Doch ich bin sehr froh und auch dankbar, dass ich hier sein kann.“

Dieses Geständnis erstaunte mich, denn so beschwerlich hatte ich mir das Retreat nicht vorgestellt. In meiner Vorstellung war man dort mit Menschen zusammen, deren höchste Maxime die Achtsamkeit war und die versuchten, einander in Liebe und Mitgefühl zu begegnen. Dass es auch an einem so spirituellen Ort zu Unstimmigkeiten kommen konnte, irritierte und beruhigte mich zugleich. Ich versuchte nun jeden Tag, Tinas dankbare Haltung im Büro einzunehmen, doch kaum hatte ich unseren Raum betreten, kaum hatte ich Claudia erblickt, lösten sich meine Dankbarkeit und meine guten Vorsätze in Luft auf.

„Wer hat diese Briefmarke hier aufgeklebt?“

Ich schaute verdutzt vom Bildschirm auf. Eva-Maria, die Buchhalterin, lugte über ihre Brille, die ihr etwas von der Nase gerutscht war, und wandte sich an Claudia.

„Also, ich nicht. Das ist ja unmöglich!“

Ich sah eine 1,45-EUR-Briefmarke auf einem DIN-A4-Umschlag. Nichts Ungewöhnliches.

„Das war doch bestimmt wieder Lea!“, vermutete Claudia.

Lea war unsere studentische Hilfskraft, die uns an drei Nachmittagen die Woche unterstützte.

„Bestimmt“, gab ihr Eva-Maria recht.

„Ich kann ja verstehen, dass es langweilig wird, wenn sie Hunderte von Briefmarken aufkleben muss, aber es ist doch so wichtig, dass sie gerade sind!“, sagte Claudia und setzte gekonnt ihre hohe Jammerstimme ein.

Eva-Maria wiegte ihren Kopf mit Bedauern hin und her.

„Aber das ist doch nicht so schlimm, wenn die Briefmarken ein bisschen schief kleben“, sagte ich, während ich an die arme Lea dachte, die oft stundenlang Umschläge bekleben musste.

„Das glaubst du!“ Claudia drehte sich abrupt um und kam auf mich zu. Sie stellte sich neben mich und bohrte mit ihrem Zeigefinger ein Loch in die Luft.

„Wie eine Briefmarke aufgeklebt wird, das sagt sehr viel über die Firma aus!“

„Aha? Wie das?“

„Kunden, vor allem die Eltern unserer Teilnehmer, achten darauf! Natürlich unbewusst, doch eine schiefe Briefmarke zeugt von einer verlotterten Firma, das ist ganz klar.“

„Also, ich achte da nie darauf. Hauptsache ist doch, der Brief ist ausreichend frankiert und kommt an“, sagte ich.

Claudia ließ die Arme sinken, warf Eva-Maria einen verschwörerischen Blick zu und ließ sich resigniert auf ihren Stuhl sinken.

„Wohin soll das noch alles führen, wenn hier jeder macht, was er will?“, fragte Eva-Maria halblaut und starrte auf ihren Bildschirm, als könnte sie die Antwort dort ablesen.

Mit Buddha im Büro

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