Читать книгу Elbenschwur - Daniela Zörner - Страница 5
Kapitel 2
Оглавление„Geh in die Kathedrale, bring es hinter dich.“
Beim Erwachen am darauffolgenden Morgen dachte mein schlafverklebtes Gehirn: „Vielleicht sollte ich wirklich hier abhauen und seine Unterweltgruft im Alleingang stürmen.“ „Blödsinn, du hättest null Chance“, polterte mein Alter Ego. „Wahrscheinlich hast du sogar Recht.“ „Will ich aber auch schwer meinen.“ Dennoch nistete sich der törichte Gedanke klammheimlich wie ein viraler Dauergast in meinem Hinterkopf ein.
Nervös, welche Hiobsbotschaften der neue Tag bringen mochte, ging ich hinunter.
In der Küche hockten Lyall, Fingal und Alexis mit ziemlich blassen Nasenspitzen schweigend am Frühstückstisch beisammen.
Sofort sprang Alexis auf und nahm mich fest in seine Arme. „Bist du okay?“
„Geht schon“, wich ich aus.
Forschend sah er mit hochgezogenen Augenbrauen in meine Augen.
„Ja, nein, alles Bullshit.“
„Na komm, setz dich. Manchmal bewirkt ein gutes Frühstück bei dir wahre Wunder.“ Ohne es zu bemerken, huschte Kummer über Mylords edles Gesicht.
Obwohl die Voraussetzung im „Buch der Seelenschmelze“ eindeutig schien, hatte Alexis vergangene Nacht in einem horrend realistischen Albtraum meine Elbwerdung durchlebt. Darin war seine große Liebe vollkommen und unwiederbringlich in Elbenfürstin Joerdis verschwunden. „Lilia ist Vergangenheit“, hatte Joerdis ihn grob beschieden. „Auch du wirst dieses Opfer bald für meinen Gefährten Belian erbringen.“ Wenn Alexis auch wenig über seine eigene Rolle in unserer verkorksten Geschichte ahnte, eines wusste er mit unumstößlicher Klarheit: Ohne mich würde er Siechtum und Tod erleiden. „Nur mein Herz steht mir zur Seite. Alle anderen, ob weit über oder tief unter der Erde, pokern einzig um Machterhalt und Machtgewinn. Wie stark schlägt dein Herz dagegen, alter Mann?“
In Mylords unverhüllten Augen las ich stille Kämpfe. „Alexis? Alles in Ordnung?“
„Sicher doch“, log er. Und wir beide wussten das. „Iss, Lil.“
Appetitlos griff ich lediglich nach dem starken, schwarzen Tee.
Aber Alexis wusste haargenau, dass ich beim gestrigen Dinner kaum mehr als ein paar Gabeln mit grünem Salat hinuntergewürgt hatte. Deshalb konnte er jetzt kaum an sich halten, mir dick belegten Toast eigenhändig in den Mund zu schieben. Ein einziger Gedanke marterte ihn sofort in Endlosschleife: „Lil, bitte iss. Beweise mir, dass du wirklich nicht schwindest.“
„Was unternehmen wir heute?“ Lyalls laut ausgesprochene Frage platzte so unvermittelt in die Stille, dass wir anderen zusammenfuhren.
Sechs Männeraugen sahen mich an, als hätte ich Weisheit statt Tee geschluckt.
„Was ihr macht, müsst ihr selbst entscheiden. Für mich steht allein Elin auf der Tagesordnung.“
„Magst du uns von Elin erzählen?“, fragte Fingal beinahe schüchtern.
„Ich – nein, vielleicht später“, rang ich mir mit einem kleinen Lächeln ab. Und dachte still: „Wenn die Elbe hoffentlich wieder zur Vernunft gekommen ist.“ „Wie überaus vorteilhaft für den Gruftboss, dass seine paar Gegner ausschließlich mit sich selbst beschäftigt sind“, kübelte mein Alter Ego. „Schnauze halten!“
„Lil, du wolltest frühstücken“, mahnte Alexis matt.
Doch ich stand wortlos auf und ging. Hinter meinem Rücken tauschten Lyall, Alexis und sein Cousin ernste Blicke.
Da Aneel seit seinem Verschwinden am Vorabend unsichtbar blieb, ging ich in die Kapelle und rief nach ihm.
„Bist du zornig auf mich?“, fragte ich ultradirekt.
„Zornig? Auf dich? Nein, keinesfalls.“
„Sondern?“
„Maßlos verwirrt über das Geschehene“, gab er einen Bruchteil zu.
„Oh, daran wirst du dich gewöhnen, das ist hier Alltag“, bemerkte ich ironisch. Schob jedoch ernsthaft nach: „Wie geht es Elin jetzt?“
„Sie ist… mir fehlt das passende Wort.“ Ratlosigkeit flutete seine Augen, schlug um in blankes Flehen.
„Schon gut, vielleicht kann ich etwas bei ihr ausrichten.“
„Danke.“
Per Amulett rief ich meine frühere Freundin. „Hier Lilia. Magst du mit an den Strand kommen?“
Auf dem Weg nach draußen meldeten sich die Lichtwesen.
„Guten Morgen, Lilia“, zwitscherten sie.
Oben stand etwas an, klar.
„Also?“
„Elin verweigert sich uns.“
„Nun lasst mich doch erst einmal in Ruhe mit ihr reden“, versetzte ich schroff. „Danach sehen wir klarer, hoffe ich mal. Oder?“
„Wie du wünschst.“
Der nächste Wimpernschlag katapultierte mich an das windumtoste Meer. Trotz Ebbe rollten einzelne Wellen weit den Sandstrand hinauf. Elin wartete bereits. Sie warf mir einen kurzen, unsicheren Seitenblick zu.
„Ein ordentlicher Herbststurm zieht auf.“
Die Elbe nickte stumm, begann ihre Hände zu kneten.
Aneels Worte über ihre Zerrissenheit geisterten noch in meinem Kopf. Kurzerhand beschloss ich, der Elbe eine weitere Chance zu geben.
„Ich wollte dir diese Zerrissenheit nicht antun, Elin. Aber ich dachte, wenn wir alle gemeinsam lernen, dann würden wir einander mit der Zeit besser verstehen. Du, Joerdis, ich und die Lichtwesen. Nur war in dem ganzen Chaos nie genug Zeit vorhanden.“
Entgeistert rief sie: „Niemand darf dir eine Mitschuld anhängen!“
„Das tun sie dennoch, Punkt. Jeder von uns hat etliche Fehler begangen. Wie auch nicht?!“
Überrumpelt sagte die Elbe nur: „Ja, so ist es.“
„Elin, wenn wir uns jetzt selbstsüchtig entzweien, strecken wir bereits vor der Höllenschlacht unsere wenigen Waffen.“
„Ich weiß, mein Handeln war dumm und egoistisch“, gestand sie betreten ein.
Eine Weile schauten wir den Wellen zu.
„Für mich bist du niemals eine Dienerin gewesen, sondern meine Lehrerin, später Gefährtin. Und die benötige ich auch weiterhin.“ Grinsend fügte ich hinzu: „Allein schon, um mit dem Männerverein im Castle fertig zu werden.“
„Aber was soll ich jetzt tun?“, begehrte sie kläglich zu wissen.
„Sei wachsam, Elin, suche deinen eigenen Schicksalsweg. Kehre vor allem auf deinen Platz in unserer Gemeinschaft zurück. Schaffst du das?“
Langsam drehte sie mir ihr Gesicht zu, mit Augen voller Zweifel und Verzagen. „Werden sie mich aufnehmen nach allem, was ich getan habe?“
„Selbstverständlich!“ In dieses eine Wort legte ich volle hundert Prozent an ehrlicher Überzeugung. Dafür würde ich umgehend Sorge tragen.
Meine naiv simple Gleichung über Harmonielehre, anzuwenden unter Dickköpfen, würde scheitern. Die intergalaktischen Gesangsscharen dachten nicht in Lichtjahren daran, die Geschichte mit Elins eigenmächtigem Kamikazetrip auf den nächstbesten Sternenhaufen zu kippen. Sie wollten bedingungslos Gehorsam, Disziplin, blablabla. Also die perfekte Dienerin zurück, die Elin jahrhundertelang gewesen war. In naher Zukunft würden sie, ohne dass irgendjemand davon erfuhr, die Elbe bis zur demütigen Gefügigkeit malträtieren.
In seinem Londoner Unterweltdomizil vergaß der Dämonfürst alles um sich herum. Er verschmähte sogar die von Sklaven dargebotene frische Seelenbeute. Sein Geist war eins mit der machtvollen, schwarzen Magie. Der tiefrot lodernde Feuerkreis um den Thron herum schwoll rhythmisch auf und ab. Sein Kopf pendelte hypnotisch. Mit jeder neuen Beschwörung der Wahnsinnsflut gegen Joerdis und mich sank er tiefer in Trance.
Heulend jagten Sturmböen um das Castle, rüttelten an den Fensterläden, pfiffen durch kleinste Ritzen.
„Geh in die Kathedrale, bring es hinter dich.“
„Wird das jetzt der Standardsatz fürs Aufwachen?“ Der Wecker zeigte kurz vor Dinner an.
Nach dem langen Strandgespräch mit Elin hatte ich umgehend das Männertrio instruiert, die Elbe in Ruhe zu lassen. Sie sollten nach Möglichkeit so tun, als wäre alles beim Alten. Und ich hoffte inständig, dies würde wahrhaftig schnellstens wieder der Fall sein. Als Zückerchen beantwortete ich meinen Freunden mit wahrer Engelsgeduld ihre kompletten 199 Fragen zu meiner Expedition durch die legendären römischen Katakomben. Danach verpasste ich den Nachmittag als schlafender Stein im Bett.
Gerade erst halb erwacht, suppte bereits die Kathedrale des Bösen durch meine Gedanken. „Wie sein Höllenloch wohl aussieht? Könnte ich dort vielleicht nochmal ein bisschen herumschnüffeln? Beim letzten Besuch ging das immerhin ohne größere Zwischenfälle.“ „Da warst du gar nicht hineingelangt“, brummte mein Alter Ego schroff. „Hmmh, trotzdem....“
Die Zimmertür ging auf.
„Lil, kommst du zum Dinner hinunter?“, wollte Alexis wissen.
„Gib mir eine Minute.“
Die Tür schloss sich.
„Warum soll es so schwer sein, unbemerkt in die Fürstengruft einzudringen? Wer behauptet das eigentlich? Die Höhlen von Amhuinn habe ich schließlich auch geknackt. Ob ich heute Nacht einfach mal hinspringe?“ Ungebetener Kommentar: „Und dabei einfach mal draufgehen?“
Die Zimmertür ging erneut auf.
„Lil, wo bleibst du?“ Verblüfft guckte er zum Bett. „Du bist ja noch gar nicht aufgestanden.“
„Ja, ja. Fangt schon mal ohne mich an.“
„Los, raus aus den Federn! Sogar Elin und Aneel leisten uns Gesellschaft.“
„Oh! Warte eine Sekunde.“
Die Unterhaltung unserer Tischgesellschaft plätscherte bemüht locker dahin. So kreisten meine Gedanken rastlos und wild um des Oberdämons unbekannte Stätte.
Nach dem scheinbar endlosen Dinner, dessen Speisen mich wenig lockten, setzte sich unsere Gemeinschaft wie üblich vor das wärmende Kaminfeuer. Draußen legte der Sturm noch eine Schippe drauf. Leder knarzte, Eiswürfel klirrten in geschwenkten Gläsern, behagliches Schweigen erfasste das Halbrund – bis auf mich. Meine Gehirnwindungen kollabierten schier unter zusammenhanglosen Querschüssen. Die übermittelte ich, vielleicht ein manipulierter Hilferuf von Seelenschwester Joerdis, unsortiert den Elben:
„Die Londoner sind für den Dämonfürsten allzu leichte Beute. Elin, überprüfe bitte nochmals die Clans. Wie gelange ich in die Kathedrale? Wir müssen den Schutz um das Castle verstärken.“ Und so fort.
Aneels Stimme flutete mit elbischer Macht meinen Geist. „Lilia, halte inne.“
Verwirrt schaute ich auf. „Womit?“
Und so erhielten die beiden Elben einen ersten Vorgeschmack auf die Wahnsinnsattacke des schwarzen Fürsten.
Am fortgeschrittenen Vormittag des folgenden Tages fand Alexis mich, noch immer tief schlafend, in meinem Bett vor. Er setzte sich einen Moment auf die Bettkante und betrachtete mein schmales Gesicht mit seinen unerklärlich dunklen Augenringen. Zärtlich streichelte er meine verknautschte Wange, bis ich mich regte.
„Geh in die Kathedrale, bring es hinter dich“, murmelte ich schlaftrunken.
„Was sagst du da?“, hakte Alexis nach, derweil er glaubte, sich verhört zu haben.
„Die Kathedrale, ich muss hinein.“
„Ja. Aber weder jetzt, noch ohne Plan und schon gar nicht allein“, erwiderte er streng.
Ich setzte mich auf und sah ihn irritiert an. „Wovon redest du?“
„Lil, also wirklich! Geh unter die kalte Dusche.“
„Brrrrh!“
„Das könnte eine Nebenwirkung sein. Hauptsache, du wirst klar im Kopf.“
Damit ging Alexis hinaus.
Hatte er ‚Plan‘ gesagt? „Wozu?“
Die nächsten Stunden verrannen, ohne dass ich mich erinnern könnte, womit.
Irgendwann erwischte Elin mich, allein in der Küche auf und ab gehend.
„Ich möchte mich bei dir bedanken.“
„Wofür?“
Verwundert schüttelte sie den Kopf. „Niemand außer dir vermochte es zu vollbringen, mich auf meinen Schicksalspfad zurück zu führen. Und die Gemeinschaft…“
Ohne ihr überhaupt zugehört zu haben, unterbrach ich die Elbe. „Wer wacht über Berlin? Gehe ich besser bei Tag oder Nacht in seine Kathedrale?“
„Lilia, komm mit.“
Elin nahm meine Hand und zog mich energischen Schritts hinaus zum Pferdestall.
Mit Esper und der Stute Salice starteten wir kurz darauf in den dämmrigen Nadelwald. Das sanfte Schaukeln des warmen Pferderückens beim Anstieg zum Plateau auf dem Hausberg entwirrte allmählich den gordischen Gedankenknoten in meinem Kopf. Tief sog ich den würzigen Duft der alten Bäume ein.
„Elin, der Dämonfürst hat zu viele Möglichkeiten, ich hingegen zu viele verwundbare Stellen.“ Erklärte dies auch die Hyperaktivität in meinem Kopf? „Zu viele, zu viele, zu viele!“, echote es stumpfsinnig in meinen Gehirnwindungen.
Die Elbe blieb stumm, bis wir auf dem kahlen Bergrücken oberhalb des Castle ankamen.
Kaum saßen wir ab, begann ich abermals. „Er befiehlt über Massen an Sklaven. Warum dürfen wir die verstreuten Elben nicht ebenfalls zusammenrufen?“
„Immerhin haben die Sternschwestern dir Aneel zugestanden“, erinnerte Elin.
„Vier gegen die geballte Unterwelt“, versetzte ich abschätzig.
„Du würdest die Aufgabe notfalls alleine schaffen“, erwiderte sie trocken.
„Wie kannst du so etwas Absurdes behaupten?“
„Bislang bist du an keiner noch so tollkühnen Herausforderung gescheitert.“
„Aber sicher, an seinem Tod“, warf ich dazwischen.
Elin sah mich scharf an. „Nimm deine eigene Macht endlich zur Kenntnis, der Rest findet sich.“ Gleichzeitig schrumpfte ihr vor Sorge die Seele angesichts des sich formierenden Schattens über meinem Haupt.
Aus dem Buch „Inghean“
Schwarze Magie verpestet Lightninghouse Castle. Gerichtet gegen Lilia und meine Fürstin, werden wir doch alle geprüft.
Die Lichtwesen mussten Aneel und Elin noch am gleichen Tag die diabolische Finte des Dämonfürsten offenbaren. Unabhängig voneinander hatten die Elben sie mit ihren Beobachtungen und Schlussfolgerungen in die Enge getrieben. Der Preis, den ihnen die Sternguckerinnen für die Offenbarung abverlangten, war heftig: das strenge Verbot elbischer Einmischung in diesen Zweikampf. Ja, genau, ein Kampf, von dem ich keinen vernunftgeborenen Gedankenfetzen ahnte.
Elin, eben noch vermeintlich an meine Seite zurückgekehrt, verriet mich in blindem Gehorsam. Der Sphäre gefügig, verschwieg sie mir die fürstliche Wahnsinnsattacke. Ich hatte ihr unbedingt eine zweite Chance geben wollen, obwohl ich inzwischen mehr Weisheit hätte besitzen müssen. Oder, um das sich anbahnende giftige Psychogebräu mit Charles Baudelaire auszudrücken:
Engel voll Güte, kennst du das lautlose Hassen,
Fäuste im Dunkeln geballt und die Tränen der Wut,
Wenn Rachsucht und Wildheit den Weckruf erschallen lassen,
Zu Herren sich machen über den Geist und das Blut?
Aus purer Gewohnheit versammelten wir Sechs uns allabendlich am Kamin.
Knisternd vertilgten Flammen das aufgestapelte Holz. Der Wind heulte mit neuer Macht um das Castle, als wären die herbstlichen Sturmgewalten ein Zwilling des Gewaltorkans gegen meinen Geist.
Heftige Unruhe keimte in mir auf. Diesmal zielte sie ausnahmsweise nicht auf die Londoner Unterwelt. „Lightninghouse in Flammen.“ Warum tauchte meine alte Vision gerade jetzt wieder auf? Ein noch unbestimmtes Gefühl von Bedrohung versetzte meinen Körper in Anspannung. Umgehend suchte ich unverhüllten Augenkontakt zu Elin.
Die Elbe verschwand.
„Hört auf zu trinken“, fuhr ich die Männer nervös an.
Sie zuckten zusammen und starrten herüber.
Aneel verschwand.
Draußen zeigte die hereinbrechende Nacht ihr grauschwarzes Antlitz. Ich orderte starken Kaffee und Tee.
„Lilia, was geht hier ...“
Mit abwehrender Hand gebot ich Alexis zu schweigen. „Seid ihr kampfbereit?“, fragte ich herrisch.
Lyall, Fingal und Alexis nickten beunruhigt.
Die Zeit schlich dahin.
„Knapp zwei Meilen entfernt befinden sich ungefähr hundert Menschen auf dem Weg durch die Moore hierher“, überbrachte Elin die Hiobsbotschaft, kaum dass beide Elben gelandet waren.
„Sie tragen Fackeln und Gewehre“, ergänzte Aneel.
Der Dämonfürst holte zum zweiten Schlag aus. Wie konnte es ihm gelingen, die Menschen ohne ihre vernichteten Blutsteine aufzustacheln? Von der Sphärenriege kam überhaupt keine Ansage zu dem anrückenden Himmelfahrtskommando. Die mondlosen Highlands bescherten ihnen totale Nachtblindheit.
Alle waren sich ohne große Diskussion einig, sofort aufzubrechen, um den Mob von Lightninghouse fern zu halten.
„Wir sollten mit Dämonen rechnen“, warnte ich.
Alexis sah mich voller Mitleid an. Für ihn war meine Gabe des Sehens ein Fluch. Punkt.
„Kesseln wir die Menschen ein“, schlug Elin vor.
Das Bild eines überdimensionierten Käfigs machte die Runde. Jemand lachte grimmig.
Während die Elben vorsprangen, spurteten wir Übrigen wegen Lyall und Fingal schnell zu Fuß los.
In Sichtweite des Mobs verteilten wir uns. Je zwei zogen an den Längsseiten, die Elben an Stirn- und Rückseite des Fackelmarsches auf. Rasch errichteten Elin und Aneel als erste ihre Zäune vor und hinter den Kerlen. Noch bevor die begriffen, wie ihnen geschah, wuchsen links und rechts ebenfalls vier Meter hohe Gitterwände empor. Die Eingekesselten antworteten mit sinnloser Ballerei. Vorsichtshalber fügte Lyall noch ein solides Dach gegen Kletterkünstler obenauf.
„Wir sollten Wachen aufstellen“, regte ich an.
„Willst du nicht die Polizei verständigen?“, fragte Lyall neben mir.
„Das werden die tumben Teufelsknechte schon selbst tun, wenn sie hier lange genug geschmort haben.“
Aneels wachrüttelnder Warnruf kam für Lyall zu spät. Er hatte trotz der gefährlichen Gewehrsalven vergessen, seinen Lichtschutz zu aktivieren. Wie vorausgeahnt, tauchten jetzt etliche Dämonenführer zur Verstärkung auf. Wirbelnd gingen sie zum Angriff über. Eine stachelbewehrte Peitsche krachte mit hässlichem Knacken gegen Lyalls ungeschützten Schwertarm. Aufschreiend sackte er zu Boden. Das Monster erlitt durch meinen Pfeil, der sich glühend in sein Herz bohrte – oder was auch immer ein Dämon an dieser Stelle haben mochte – den Todesstich. Weil ich den wehrlosen Lyall beschützen musste, witterten einige Dämonen ihre Chance und kreisten uns ein. Ich rotierte als Blitzschleuder, bis Elin mit elbischer Wucht dazwischen fuhr. Die Bestien versuchten Abstand zu unserem todbringenden Licht zu gewinnen. Mit doppelten Salven trieben wir unsere turboschnell springenden Feinde auf die andere Seite des Käfigs. Dort hatten Alexis, Fingal und Aneel kaum weniger Arbeit.
Am Ende bedrängt aus allen Richtungen, gewahrten die übriggebliebenen Dämonen ihre aussichtslose Lage und ergriffen die Flucht. Unsere Gefangenen saßen inzwischen dicht zusammengekauert, mit eingezogenen Köpfen auf dem Boden. Kurz fragte ich mich, was von all dem sie gesehen oder gespürt haben mochten. Alexis orderte für Lyalls behutsamen Transport ein Auto, dann übernahm er gemeinsam mit seinem Cousin die kurze Wache am Käfig.
Bereits eine dreiviertel Stunde später näherten sich Polizeisirenen.
In meine frühmorgendliche Schlafenszeit platzte eine Traumbotschaft:
Tiefe Nacht liegt über Bloomsbury, dem berüchtigten Londoner Stadtteil. Die Rasenfläche oberhalb seiner Kathedrale ist mit glitzerndem Reif überzogen. „Das hier ist der falsche Eingang“, sagt eine Stimme in meinem Kopf. „Geh zur Universität.“ Als ich mich daraufhin umdrehe, ragt vor mir im kaltweißen Licht des Vollmonds das bleiche Universitätshochhaus empor. Es sieht so ehrfurchtgebietend aus wie die Monumente in Fritz Langs legendärem Stummfilm „Metropolis“. Hastig marschiere ich um zwei Straßenecken in die Malet Street. „Natürlich!“ Aus dieser gläsernen Eingangshalle war ich neulich geflohen. Nun halte ich erwartungsvoll darauf zu. Zuerst schalte ich magisch die Alarmanlage ab. Kurz darauf durchschreite ich die verlassene Halle. Erbarmungslose Stille hämmert mir in den Ohren, als mein langer Abstieg in das fürstliche Reich beginnt.
„Ah, da bist du endlich, Joerdis.“ Mit unverhohlener Gier leckt sich der Dämonfürst über seine schmalen Lippen. „Möchtest du eine kleine Führung, bevor…“
„…ich dich töte?“
„Hahaha! Du bist zu Scherzen aufgelegt, Elbenweib.“ Donnernd brüllt er Unverständliches in einen der Gänge.
Daraufhin naht ein undefinierbares Geräusch aus Trampeln, Schleifen und Knirschen. Ich blicke mich um. Wohl fünfzig Anführer erscheinen entlang der Saalmauern. Fertig aufgereiht stehen sie reglos da wie eingerußte Ritterrüstungen, umhüllt von Trauerumhängen. Doch in sämtlichen Durchgängen funkeln die hochgereckten schwarzen Schwerter unzähliger Dämonen auf.
„Eine Falle!“, schrie ich gellend.
Alexis schreckte aus dem Schlaf hoch.
„Nein! Helft mir!“
„Lil, Lil! Wach auf!“ Unsanft schüttelte er mich.
„Eine Falle!“
„Ruhig, Lil, ich bin bei dir. Alles ist gut. Komm her.“ Seine starken Arme zogen meinen zitternden Leib an sich. „Schschh, du bist im Castle, hab keine Angst.“
„Der Dämonfürst wollte mich töten“, wimmerte ich.
„Die Chance bekommt er niemals, solange ich lebe.“
„Du erscheinst gerade recht zum Lunch“, kommentierte Alexis meinen entrichteten Morgengruß beim Betreten der Küche.
Lyall, zwar etwas wacklig auf den Beinen mit seinem geflickten Arm in der Schlinge, versuchte eine unbeholfene Umarmung. „Inghean, ich schulde dir tausendfachen Dank.“
„Hauptsache, du bist wohlauf.“
Der einsetzende Smalltalk täuschte kaum über die allgemeine Nervosität hinweg. Merkwürdigerweise hegte jeder der fünf anwesenden Vertrauten den dringenden Wunsch, mich unter vier Augen zu sprechen. Unverzüglich untermauerten die Lichtwesen ihre Vorrangstellung.
„Darf ich eventuell erst einmal in Ruhe frühstücken?“
Betretene Gesichter am Tisch, gefolgt von überraschender Stille in der Sphäre.
„Und was möchte ich heute?“ „Mal wieder Gruft?“, schlug mein Alter Ego in lupenreiner Fiesheit vor. „Ruhe!“ „Abhauen?“ „Ruhe, verdammt!“ „Zu Befehl, her Mistress of Disaster.“
Mit wachsender Fassungslosigkeit, doch zur allergrößten Freude von Alexis, verfolgte die Tischgesellschaft mein gigantisches Frühstücksprogramm: Croissant mit Kirschkonfitüre, Orangensaft, Vollkornbrötchen mit Butterkäse, gefülltes Crêpe, Obstsalat mit Mango-Joghurt und Unmengen schwarzer Tee. Garantiert noch kalorienbombiger, als es sich liest.
Irgendwer kippelte derweil unter dem Tisch nervös mit seinem Fuß.
In scheinbarer Gemütsruhe goss ich mir den restlichen halben Becher aus der Teekanne ein, bevor ich in die eckige Runde blickte. „Die Sternelben erwarten mich. Danach reden wir, bis alle Fragen gestellt sind.“ Absichtlich vermied ich die Formulierung ‚bis sämtliche Antworten gefallen sind‘. War ich etwa die Göttin Athene oder das Orakel von Delphi? Eben!
Ohne Begeisterung setzte ich mich auf meinen Stammplatz in der Kapelle.
„Lilia, willkommen!“
„Sie schmeicheln? Schlecht.“
Entschiedener Protest gegen meine Bauchnote blieb aus.
„Seid ihr ratlos?“
Dasselbe Ergebnis.
„Könnten wir die Sache abkürzen?“
„Der Dämonfürst lauert in seiner Unterwelt“, sangen sie klagend.
„Ja, und? Wo bleibt die News?“
„Er wird eine Armee um sich scharen.“
„Und weiter?“
Sie gerieten aus dem Gesangskonzept. „Wenn dies geschieht, wird dein Weg hinein versperrt.“
„Was erzählen denn eure Prophezeiungen so dazu?“
Echt dramatischer Sound untermalte ihre hohle Offenbarung: „In deiner Chance liegt seine Chance.“
Falls das irgendwem bekannt vorkommt, keine Sorge, denn mir ging es damals ähnlich.
Meine angesäuerte Antwort stuckdeckenwärts lautete: „Seid ihr im falschen Film? Hier spricht nicht Harry Potter. Entweder ihr liefert Konstruktives oder wir brechen ab.“
Ihr Chor verflüchtigte sich.
„Äh, könnten wir noch mal von vorne beginnen?“, rief ich ihnen mit meinem allerletzten Hoffnungsfunken hintendrein. Aber der erlosch wie ein sterbendes Glühwürmchen.
Verärgert, jedoch vor allem durch wieder erstarkende irrwitzige Gehirnergüsse abgelenkt, unterließ ich es, gründlich über ihre komische Prophezeiung zu grübeln. Damit vergab ich eine erste, wenn auch winzige Chance schnell der schwarzfürstlichen Magieschlacht gegen mich auf ihre Stinkspur zu kommen.
In der Folgezeit fabrizierte ihre Lichtschar täglich Dissonanzen von einer Schrägheit, die ungefähr an das Entleerungsgeräusch von Glascontainern im Walzertakt erinnerten. Einfach, weil die Sternelben noch immer Prophezeiungen mehr Beachtung schenkten als realen Ereignissen erdwärts. In der Konsequenz lieferten sie mich dem Teufelsbraten lieber ans Hirnchirurgenmesser, anstatt mir solch ein Ding in der Ausführung extrascharf für seine Kehle zu geben. Ach ja. Meine prophezeite Chance sollte nach allsichtiger Vorstellung mittels Selbstauflösung auf die Erdbühne gerettet werden. Sprich: Ich schalte mein Herz auf „Klappe halten“ und unterwerfe mein Hirn komplett Joerdis, damit sie das Psychoduell gegen den Herrn der Furien austrägt. Tja.
Mit meinem Gedankenchaos im Gepäck steuerte ich nach der Kapelle wieder die Küche an.
Machte es irgendeinen Sinn, gemeinsam Pläne zu schmieden? Oder war das von vornherein vergeudete Zeit? „Letztlich ziehe ich sowieso immer alleine los.“
Meine Füße stoppten vor dem unverändert besetzten Küchentisch. Wenigstens von dem sternelbischen Orakelquatsch musste ich den anderen erzählen.
„So lautet ihre Prophezeiung?“, schnaufte Fingal bärbeißig, als machte der schlechteste Witz aller Zeiten die Runde.
Entgeistertes Kopfschütteln bemächtigte sich Elben und Mischpartien gleichermaßen.
Beschwichtigend erklärte ich: „Deswegen muss keine Panik ausbrechen. In der Konsequenz bedeutet es lediglich, dass alle wichtigen Entscheidungen ohne die Sternelben stattfinden.“
Allgemeines Geistmurmelgewirr setzte ein.
„Geh allein zu ihm“, mäanderte in unserer eben begonnen Lagebesprechung der lauernde Wahnsinn durch meine Gedanken. „Was nützen dir die anderen in der Unterwelt? Nichts!“
„Lilia. Lilia!“ Elin versuchte mit elbischer Macht, meine Hirngespinste zu durchbrechen.
„Elin? Was ist?“, fragte ich zerstreut.
„Konzentriere dich. Richte deine Gedanken auf uns.“
Einen kurzen Moment war mein Kopf leergefegt. Das mit meinem Alleingang hatte ich hoffentlich gerade nur für mich gedacht!? „Sieht schlecht dafür aus“, kommentierte mein Alter Ego. Um die peinliche Sache zu übertünchen – als ob das ginge! – schlug ich vor: „Da wir nur hier in Sicherheit sind, sollten wir fortan das Castle als eine Art Basislager für alles Weitere nutzen.“ Flüchtig streiften meine Augen währenddessen das versteinerte Gesicht von Alexis.
Fingal ging meinem plumpen Ablenkungsmanöver glatt auf den Leim. „Aber unser Laden in Clerkenwell“, insistierte er.
Prompt bekam er von Alexis eingeschenkt: „Ihr wärt dort nach wie vor willkommene Opfer.“
Lyall zuckte mit Schmerz verzerrtem Gesicht zusammen und ergab sich auf der Stelle. Sein Kumpel schwankte grummelnd zwischen „Old Mystery“-Sehnsucht und Abenteuerkinderei. Schließlich hob Fingal als Zeichen seiner Kapitulation beide Hände.
In der Zwischenzeit siegte mal kurz meine klare Einsicht. Wegen der Unmöglichkeit eigener Dreiteilung sollte ich besser meine Verbündeten als Helfer einspannen. Besonders das unbewachte Berlin lastete schwer auf meinem Herzen. Da jedoch Fingal und Lyall nur mit größtem Zeitaufwand aus Schottland wegkamen, schieden sie für Aktionen in Berlin grundsätzlich aus. Dieses Kapitel unseres langen Dämonenkampfes stellte wiederum für Aneel die große Unbekannte dar.
Daher bat ich Elin, nachdem ich die dringende Notwendigkeit unterstrichen hatte, meiner Heimatstadt zu helfen: „Tausche mit Aneel alle wichtigen Informationen über Berlin aus.“
Sie zeigte sich einverstanden.
„An dem Punkt stehen wir bereits mitten in unserem bodenlosen Fass“, fuhr ich gereizt fort. „Einerseits London, andererseits Berlin, zum Dritten die netten Einfälle des Dämonfürsten hierzulande. Wovon die gestrige Nacht wahrscheinlich nur einen unbedeutenden Vorgeschmack gab.“
Meine geballten Allgemeinplätze mündeten geradewegs in jenes Fragenchaos, das ich eigentlich hatte vermeiden wollen.
Aufkochender Zorn und maßlose Müdigkeit nutzten meine Überforderung, in all das Gerede eine scharfe Sortierkante zu schlagen. „Abschalten!“ Der uralte Slogan von Atomkraftgegnern sauste durch meinen Kopf.
Alle hörten ihn.
„Ich habe weder einen Plan noch Antworten“, schockierte ich ohne jegliche Rücksichtnahme meine Mitstreiter. „Nur eines ist, falls man über den nötigen Sarkasmus verfügt, derzeit gewiss: Egal, wie diese verquaste Höllengeschichte enden mag, die Sonne wird auch ohne uns aufgehen.“
„Du irrst!“, widersprachen Aneel und Elin wie aus einem Geist.
Mir! Fiel! Die! Kinnlade! Runter!