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Kapitel 3
ОглавлениеDie Nacht war noch jung. Ich träumte von zarten, schwebenden Lichtgestalten vor samtblauem Himmel, umhüllt von Herz schmelzendem Gesang. Tiefer Frieden flutete Körper, Geist und Seele. Doch die Wesen begannen zu verblassen, ihre Musik verstummte und schauderhaftes Blut übergoss den Himmel. Mein Blick wurde gebannt, dann unerbittlich mit dem Blutstrom hinabgezogen bis unter die Erde. Diese Vision sah ich:
Der Dämonfürst schaut in seiner Londoner Souterrainlounge mit mäßigem Interesse genussvollen Folterungen der aus Schottland zurückgekehrten Versager zu. In seinen Eingeweiden brennt die neuerliche Schmach. Wiederum hat sich die Reihe seiner Anführer gelichtet. „Tötet die jämmerlichen Stümper nicht, sie werden noch gebraucht.“ Hier hat allein er das Sagen, allerdings schwindet seine Macht mit jeder Niederlage. Wütende Flammen umzüngeln seinen Körper, einige Sklaven weichen geduckt vor ihm zurück. „Die Elbenbrut Joerdis durchschaut jede List“, schnalzt er mit der klebrigen Zunge eines Chamäleons. Und so versinkt der schwarze Fürst auf seinem Thron griesgrämig in eine tiefe, lange Grübelei. Sämtliche Feuer in den Hallen glimmen nun auf Sparflamme. Sein kriecherisches Gefolge trollt sich, um andere Spielgelegenheiten aufzutun.
„Was soll die Vision?“ War sie Wunsch, Wahn, Wirklichkeit oder eine seiner weiteren Finten? Mit hochtourigem Hirn von meinem Bett aus auf das nachtblinde Fenster starrend, sehnte ich die Morgendämmerung herbei.
„Geh in die Kathedrale…“
Alexis warf sich stöhnend im Bett herum, murmelte meinen Namen. Abermals suchte ihn der Albtraum heim, in dem ich zu Elbenfürstin Joerdis mutierte. Sein Arm tastete im Halbschlaf vergeblich nach mir, wovon er erwachte.
„Lil, was tust du?“
„Nachdenken“, antwortete ich vom Fenster her, ohne mich umzudrehen. „Schlaf weiter.“
Kurze Zeit später vernahm ich seine tiefen Atemzüge. Anstatt mich weiter wie durchgeknallt zwischen den Seilschaften von Wahn und Wirklichkeit aufreiben zu lassen, zog ich mein Kleid über, um vor den Pferdestall zu springen.
Die Tiere dösten, schwerer Geruch nach Mist hing in der Luft, als ich durch das Stalltor eintrat.
Leise machte ich Esper auf mich aufmerksam. „Magst du mich begleiten?“
„Ist bereits Sonnenzeit?“, fragte er reichlich erstaunt.
„Noch nicht, dafür ist es jetzt im Freien ausnahmsweise trocken.“
Die Hufe des Hengstes klapperten unheimlich laut auf den Steinen, bevor wir durch das Tor schlüpften.
Nachdem wir das Haupttor passiert hatten, folgte Esper dem Moorweg. Niedrige Nebelbänke bedeckten allerorts die saftigen Weiden und von Binsen umkränzten Moortümpel. Ein paar Schafe blökten nahebei. Im frühmorgendlichen Zwielicht ragten vereinzelt Büsche und Bäume schemenhaft aus dem wabernden Weiß hervor.
Leise, getragen von Schwermut, erklang das Lied „Die Moorsoldaten“ in meinen Gedanken:
Wohin auch das Auge blicket,
Moor und Heide nur ringsum.
Vogelsang uns nicht erquicket,
Erlen stehen kahl und krumm…
Unvorstellbares Leid mussten jene politischen Gefangenen im KZ Börgermoor ertragen, die ihre schindende Zwangsarbeit unter der Nazidiktatur in schlichten Versen verewigten. „Gebrochen sollten sie werden an Körper, Geist und Seele.“ Meine dunklen Gedanken drifteten gen London in die lichtlosen Eingeweide der Stadt. „Geh in die Kathedrale… Nein! Geh! Nein! Jetzt!“
Der keckernde Warnruf eines Eichelhähers riss mich aus dem inneren Irrsinn.
„Denkverbot, basta!“ Tatsächlich schwieg mein Hirn so gründlich, als ob sich dort ebenfalls Nebel breitgemacht hätte. Dafür spürte ich jetzt die wachsende Unruhe des Hengstes umso deutlicher. „Was ist los, Esper?“
Sichtlich besorgt stellte er fest: „Über deinem Licht formiert sich ein großer Schatten.“
Bevor ich nachhaken konnte, was er damit meinte, spitzte der Hengst seine Ohren und blieb stehen.
„Wer folgt uns? Ah, Salice, sie trägt Elin.“
Ausgerechnet Elin zerstörte meine zweite Chance, von dem schwarzmagischen Bombardement des Gruftgespenstes zu erfahren.
Wir warteten kurz auf das heran galoppierende Gespann.
„Du solltest das Castle nie allein verlassen“, tadelte die Elbe, „noch dazu ohne Schwert.“
Ohne darauf einzugehen, übermittelte ich Elin meine Traumbotschaft aus der Kathedrale des Bösen.
Bis wir mit der aufgehenden Sonne wieder am Stall angelangten, fiel dazu kein erhellendes Wort zwischen uns. Vor dem Castle bestätigte Elins unzufriedenes Kopfschütteln zuletzt die Unmöglichkeit, über meinen Traum zu urteilen.
„Lass uns gleich mal die Köpfe zusammen stecken. Ich dusche schnell, dann komme ich auf die Terrasse, Elin.“
Zehn Minuten, flugs saß ich mit tropfnassen Haaren neben der Elbe am Terrassentisch. Prompt wedelte sie meine Locken trocken.
„Einerseits kann ich jede Hilfe gebrauchen“, begann ich unser Küchengespräch vom Vortag fortzusetzen. „Andererseits wirken die unruhigen Geister um mich herum ansteckend, und sie lenken ab. Allerdings weiß ich nicht zu benennen, wovon überhaupt. Verstehst du?“
„Du hältst schlicht zu viele Fäden in der Hand“, log sie. Um mich abzulenken, befahl Elin das Schachbrett aus meinem Zimmer auf den Tisch. „Sieh her, Lilia. Stell die Figuren neu auf, trenn dich von Überflüssigem.“
Stur verweigerte mein Gehirn die Arbeit. Unwillig erhob ich mich und begann, auf der Terrasse hin und her zu tigern. „In die Kathedrale. Allein. Heimlich.“
Heftig beunruhigt verfolgte die Elbe mein Treiben. „Lilia, setz dich.“ Sie drückte mir die Figuren für Lyall und Fingal in die Hände. „Welche Aufgabe?“
Der Funke zündete.
„Ursprünglich wollte ich, dass unsere Freunde das Kloster St. Ninian wieder herrichten.“
Erstaunt hob die Elbe ihre Augenbrauen und forschte in meinen Augen nach. Sprachlos betrachtete sie meine Vision eines Neuanfangs für die alte Ausbildungsstätte der Halbelben.
„Aber ist das jetzt der richtige Zeitpunkt?“, fragte ich voller Zweifel.
„Gäbe es denn eine andere Aufgabe für die beiden?“
„Nein, momentan sehe ich keine.“
„Also unbrauchbar.“ Elin legte die beiden Figuren neben das Schachbrett. „Wer soll Berlin bewachen?“
„Mein Verstand sagt, du und Alexis, und das schnellstmöglich. Doch mein Herz möchte Mylord an meiner Seite. Noch tiefer in mir warnt eine Stimme.“
„Wovor warnt sie?“
„Das ist es ja gerade, ich bekomme keinen brauchbaren Faden zu fassen in diesem Hirnsalat. Da ist nur Chaos!“
Elin senkte den Kopf, ihre aufkeimende Sorgenlast spürte ich dennoch.
Aus dem Wohnsaal drangen leise Stimmen nach draußen.
Spontan spuckte mein Bauchgefühl, das in Wahrheit fremder Wille war, aus: „Eigentlich will ich nur endlich in die Kathedrale eindringen und die Mordssache hinter mich bringen.“
Ihr Kopf schnellte hoch.
„Bloß, dass die Sternelben es Alexis verboten haben, mich hinunter zu begleiten“, hängte ich mit sauber logikfreiem Trotz hintendran. Nach einer kleinen Pause flüsterte eine innere Stimme, kaum hörbar für die Elbe: „Ich werde allein gehen.“
Elin stellten sich die Nackenhaare auf. Sie und Aneel mussten handeln, irgendwie gegen meinen geballten Wahnsinn ankämpfen. Andernfalls wären die verbliebenen Elben in kürzester Zeit am Ende allen irdischen Seins angelangt.
In der Zwischenzeit war Aneel, auf einen stillen Wink von Alexis hin, aus dem Wohnzimmer hinauf in sein Büro gefolgt.
Kaum hatte Alexis die Tür geschlossen, ging er den Elb hart an. „Wann wollt ihr eigentlich damit beginnen, offen und ehrlich zu sein? Fällt es euch nach allem, was wir durchgestanden haben, noch immer dermaßen schwer, uns ebenbürtig zu behandeln?“
Perplex schaute Aneel ihn an.
„Lilia droht zu schwinden!“
Überrascht, dass Alexis dieses streng gehütete Geheimnis entdeckt hatte, schlug der Elb seine Augen nieder.
„Gib zu, du weißt, was das für uns bedeutet!“, schrie Mylord aufgebracht. „Sie wird zur Elbenfürstin!“ Kaum übermittelt, sackte ihm alles Blut schockartig weg. „Nein!“, keuchte er. „Beim Licht!“ Die bittere, Verzweiflung ungeahnten Ausmaßes gebärende Erkenntnis brüllte sich selbst aus ihm hervor: „Dann kann auch Lilia nie mehr unter die Erde gehen!“
Aneel schaute ohne jede Regung aus dem Bürofenster. Ebenso stocksteif verharrte Alexis mitten im Raum. Weder nach einer Antwort zu brüllen, noch seinen geballten Fäusten ein Ziel anzubieten kostete Mylord ein sattes Bündel an Nerven.
„Wahre Liebe bindet.“ Mit drei verkündeten Worten verschwand der Elb.
Sprachlos sackte Alexis auf seinem Stuhl zusammen, bevor sich hemmungslos Tränen aufgestauter Qualen ergossen. Sollte er erleichtert sein? Wurde irgendetwas einfacher? „Nein“, murmelte er grimmig, „aber du kennst deine Gegnerin. Also kämpfe.“
Die ausgesäte schwarzmagische Zwietracht des Dämonfürsten fand ihre ahnungslosen Opfer.
Ein Mensch würde die vertrackte Lage vielleicht so kommentieren: Ihr wolltet den Teufel mit dem Beelzebub austreiben? Das könnt ihr dann ja getrost knicken. Der Beelzebub war in meinem Fall ausgerechnet der wertvolle Stein von Chara. Einerseits beschützte er mich bei lebensgefährlichen Aktionen. Andererseits leitete er bei jeder Verwendung mit seinen magischen Fähigkeiten still und heimlich meine Elbwerdung ein. Denn es war allein Joerdis, die über Chara gebot.
Bald überschlugen sich jene Ereignisse, die dem finsteren Fürsten in sein magisches Gesäusel spielten. Misstrauen und Wahnsinn, Zorn und Ohnmacht, Unwissenheit und Geheimnisse breiteten sich unter unserer Gemeinschaft als vielarmiger, giftiger Krake aus. Und die Lichtwesen? Sie schauten zitternd, mit verbissenem Schweigen hinab und klammerten sich dabei wie Äffchen an ihre Prophezeiungen. Häufiger noch schauten die Sternelben hinter sich in die Tiefe des Universums. Dort weitete sich die dunkle Schattenmacht pulsierend zu alter, feindlicher Größe aus. Der wispernde Sphärengesang geriet mehr und mehr zu purem Panikgekreische, das jegliche Schönheit fahren ließ.
Aus dem Buch „Inghean“
Lilia darf niemals der dunklen Seite verfallen, so wie es mit ihrer Mutter geschah. Dafür werde ich alles mir Mögliche tun.
Elin stand am offenen Fenster ihres Zimmers. Leichter Wind umspielte ihr in abgeschirmte Gedanken versunkenes Gesicht. Noch verharrte ein rebellischer Funke hartnäckig in ihrem Geist. „Sie haben mir verboten, Lilia über den schwarzmagischen Angriff aufzuklären. Aber sie haben mir nicht untersagt, den Elbenschatz zu benutzen.“ Zum Leidwesen der Elbe hatte Aneel, sternentreu bis unter seine Fußsohlen, ihr dafür weder Mithilfe noch Zustimmung gewährt. Entschlossen drehte sie sich um, durchquerte den kleinen Raum und blieb vor der antiken Eichentruhe stehen. Ein letztes Zaudern, dann öffnete sie den reich mit Blumenmotiven beschnitzten Deckel und holte den Schatz heraus. Als der blaue Saphir der Klarheit auf ihrem Handteller lag, sang sie magische Worte, die seine Wirkung um ein Vielfaches verstärkten. Zufrieden fasste sie den Edelstein in einen silbernen, etwas klobigen Ring.
Ihr eigenmächtiges Handeln brachte die Prophezeiung einer zwingend notwendigen Machtergreifung durch Joerdis heftig ins Wanken. Ach Elin!
Die Elbe betrat mein Schlafzimmer. Gerade starrte ich sinnfreie Löcher in den Himmel meines Bettes, obwohl die anderen längst in der Küche beim Frühstück saßen.
„Ich habe ein Geschenk für dich. Bitte trage diesen Ring ab jetzt Tag und Nacht.“
„Das ist doch jener Stein, der in Momenten größter Verwirrung für klare Gedanken sorgt“, wunderte ich mich.
„Du hast ihn wiedererkannt“, stellte Elin zufrieden fest, „steck ihn auf.“
Kaum berührte ich den Ring, zischten zusammenhanglose Gedankenbruchstücke wie Magneten passgenau aneinander.
Dennoch würden die wahnsinnigen Einflüsterungen des Dämonfürsten mit dem getragenen Ring keineswegs verschwinden. Nein, sie formierten sich zum perfekt getarnten Widerpart, genannt Schizophrenie. Umsonst geht vieles schlimmer.
Zuerst überfiel ich die außergewöhnlich stumme Frühstückseinheit unten in der Küche.
„Ich möchte von jedem Einzelnen eine ehrliche Einschätzung zu der überfälligen Londoner Untergrundaktion hören. Nehmt euch Zeit für gründliches Nachdenken. Wir treffen uns um 11 Uhr am Strand. Und Alexis, sorge bitte für trockenes Wetter, es schüttet schon wieder“, fügte ich noch an und ging.
Todernste Gesichter blickten mir nach.
„Sie hat kein Frühstück gegessen“, quälte sich Alexis still.
Auf Krawall gebürstet, betrat ich danach den sternelbischen Lichtkegel in der Kapelle.
„Guten Morgen! Ihr könnt euch meinetwegen auf den Kopf stellen. Wenn, dann steige ich nur gemeinsam mit Alexis in die Fürstengruft hinab.“
Wir zankten uns kurz, aber heftig.
Da die Lichtgestalten keine Alternativen aufzubieten wussten, setzte ich meinen Willen scheinbar durch. Aber natürlich würde ihr Gesäusel bis 11 Uhr versuchen, die Mehrheit von uns Sechs auf ihre Meinungsseite zu ziehen.
Meine schwarzmagisch verseuchte Gehirnhälfte versuchte bei mir dasselbe. Selbstredend für eine Solonummer in der Londoner Unterwelt.
Mylord und myself begegneten einander im oberen Korridor.
„Lil, hast du Zeit?“
„Für dich, mein Schatz, ausnahmsweise.“
Sanft streichelten wir unsere vernachlässigten Körper und begannen hemmungslos zu knutschen.
„Für mehr?“
„Wenn du aufhörst, herumzufaseln.“
Gierig wie Raubkatzen fielen wir im Schlafzimmer übereinander her. Stressabbau per Sex, keine der übelsten Varianten. Schnell und heftig, laut und verschlingend, als fürchteten wir jede einzelne Sekunde, auseinander gerissen zu werden. Nass geschwitzt blieben wir eng umschlungen liegen.
„Zweifle niemals an meiner Liebe, auch wenn ich noch so scheißautoritär à la Joerdis herumkommandiere“, bat ich aus tiefstem Herzen.
Er fühlte sich ertappt. „Manchmal…“
„… bin ich ausschließlich Kriegerin, ich weiß.“
„Und ich bin egoistisch.“
„Ja, Mylord, aber wenn sich die Gelegenheit bietet, ist das gar nicht mal verkehrt.“
Lachend sprinteten wir gemeinsam unter die Dusche. Das führte zu mehr.
Als Pater Raimund in Santa Christiana die Sakristeitür zum Kirchenschiff öffnete, hielt er noch das Schreiben seiner Diözese in der Hand. Darin teilte ihm die Verwaltung lapidar mit, sämtliche verfügbaren Aushilfen seien bereits auf andere Berliner Gemeinden verteilt worden. Auch die ächzten unter einem stetig wachsenden Ansturm von Gläubigen.
Mit seinen vor Schlafmangel geröteten Augen zählte der Pater mechanisch die lange Warteschlange vor dem Beichtstuhl durch. Häusliche Gewalt und ausgerissene Kinder, unerklärliche Unfälle und Selbstmorde, davon bekam er nun täglich zu hören. Alte wie Junge starben vor der Zeit, immer öfter läuteten die Totenglocken. Eltern ließen nicht nur ihre Neugeborenen, sondern sich selbst vorneweg taufen. Aber niemand wollte mehr heiraten. Sicher hätte Lilia ihm den Grund für all das zu sagen vermocht. Doch sie war ebenso verschwunden wie das Licht. Vor kurzem noch nagte die gleißende Erscheinung neben dem Altar wie ein Geschwür an seinem Seelenheil. Jetzt, da sie fort war, fühlte er sich zum ersten Mal in seinem Leben gottverlassen. Mit hängenden Schultern drehte Raimund sich um, als ein Lichtstrahl in der Kirche aufblitzte. Sein Herz tat einen freudigen Hüpfer, aber seine Augen entlarvten das Licht sogleich als simplen Gruß der tiefstehenden Herbstsonne. „Mach dich nicht zum Narren“, brummte sein Verstand. Doch sein Herz fragte: „Ist dieses Haus noch ein Gotteshaus?“ Seine unendliche Traurigkeit passte, so stellte Raimund grimmig fest, zu der Beerdigung, die er am Nachmittag zelebrieren musste. Seine kleine Kirche würde wohl kaum genügend Platz für all die Trauernden bieten, die ihrem Bezirksbürgermeister die letzte Ehre erweisen wollten. „Nur 45 Jahre alt geworden“, murmelte Raimund. „Warum beging er Selbstmord?“ Mit Schaudern dachte er an die makabre Geschichte, die ihm sein Freund von der Kripo erzählt hatte:
Bürgermeister Paulski war morgens um kurz vor 8 Uhr wie immer das sechsstöckige Treppenhaus zu Fuß hinauf gestiegen. Der Pförtner hatte keinen Grund gesehen, sich über die mitgeführte Reisetasche zu wundern. Paulski bog aber nicht in sein Büro im 4. Stock ab, sondern stieg entschlossen bis auf das oberste Treppenpodest hoch oben in der Glaskuppel empor. Dort angelangt, holte er aus seiner Reisetasche ein Bungee-Sprungseil, klinkte das eine Ende an das schmiedeeiserne Geländer, legte das andere um seinen Hals. Leichtfüßig setzte der Bürgermeister über die Brüstung und stürzte sich mit einem leisen Schimmer von Hoffnung hinab, nun auf ewig den dämonischen Geistern in seinem Kopf zu entfliehen. Lange Sekunden federte sein Körper mitten in der Eingangshalle vor den Augen maßlos entsetzter, hilflos gestikulierender oder hysterisch schreiender Mitarbeiter auf und ab. Als sich endlich jemand traute, im entscheidenden Moment beherzt zuzugreifen, tat Paulskis Herz eben seinen letzten Schlag.
Von hauchenden Dämonen in den Selbstmord getrieben starb eines der wenigen, noch existierenden Mischwesen in Deutschland. Ohne jemals von seiner Bestimmung erfahren zu haben. Das würde Lyall später einmal bei seiner akribischen Ahnenforschung herausfinden.
Der Bentley mit dem Londoner Duo an Bord kam am späten Vormittag auf den letzten Drücker zu unserem verabredeten Treffen an die Klippen gerumpelt.
Dieser Umstand bestärkte mich in dem Willen, Lyall und Fingal tatsächlich ins Kloster St. Ninian zu stecken. Elin, die die umständliche Prozedur ebenfalls beobachtete, kam zu dem gleichen Urteil.
Obwohl landeinwärts hastende Regenwolken brav einen Bogen um den Strand flogen, trieb uns heftiger Wind feinen Sand in die Augen und zwischen die Zähne. Immerhin sorgte die Brise bei mir für eine gute Durchlüftung der funktionierenden Gehirnhälfte. Aneel errichtete ein komfortables Beduinenzelt, ausgelegt mit Teppichen. Elin steuerte einen Samowar bei und Alexis den unverzichtbaren Zitronenkuchen.
Aus mir noch unerklärlichem Grund saß der Klub anschließend ganz entspannt auf dicken Sitzkissen und lauschte dem zischenden Brodeln des Samowars. Dass die Sternelben zwischenzeitig fünf Nieten gezogen hatten, offenbarte sich erst durch Elins schlichte Frage.
„Wer stimmt für die Unterweltexpedition?“
Alle hoben die Hand.
Sogleich verkündete Fingal: „Wir steuern unser Kartenmaterial bei.“
Dann rückte Aneel mit seiner verwegenen Idee heraus. „Vielleicht wirkt der Stein von Chara für euch beide, wenn Alexis dich trägt.“
„Ich bin auf Dauer viel zu schwer, das Tragen würde seine Kräfte ebenfalls aufzehren“, warf ich ein.
„Du wiegst kaum mehr als ein Paket Zucker – sofern du noch länger auf Frühstück verzichtest“, konterte Mylord.
Wir lachten herzhaft.
„Habt ihr eure Untergrundpläne mitgebracht?“, wandte sich Alexis an die Londoner.
„Was immer von Nutzen sein könnte“, bestätigte Fingal. Flugs rief er den dunkelbraunen, mit einem Lederriemen verschlossenen Koffer herbei. Auf dessen abgestoßenem Gestell lasteten mindestens 100 Jahre.
Auf dem Teppich entrollte er zusammen mit Lyall den ersten Plan. Wir Übrigen hockten uns dichtgedrängt hinter ihre Rücken, um alles sehen zu können.
Zunächst erklärte Lyall kurz für die Elben meinen gescheiterten ersten Versuch, einen alarmfreien Weg in die Kathedrale des Dämonfürsten zu finden. Danach fügte ich der Karte meine absolvierte Sternroute, den vermeintlichen Zugang durch eine Kirchentür, meinen Rückweg sowie den entdeckten Ausgang durch die Universität hinzu.
Alexis ergriff das Wort: „Ihr sagtet kürzlich in London, dass ihr mehrere Routen in die Kathedrale entdeckt habt.“
„Ja“, bestätigte sein Cousin. Sogleich entrollte er einen weiteren Plan, versehen mit gelb, grün und braun markierten Strecken.
Bevor Fingal zu langatmigen Erklärungen anheben konnte, intervenierte ich: „Es spricht nichts gegen die Tour durch das Universitätsgebäude, aus dem ich entkam. Mir ist inzwischen klar, dass ein innerer Schutzring die Fürstengruft abschirmt. Stießen wir dennoch auf eine ungesicherte Stelle, dann wäre das vom Fürsten garantiert so beabsichtigt.“
„Aber Lilia, da unten hausen inzwischen wieder hunderte Dämonen. Wenn ihr anklopft, seid ihr so gut wie tot!“, warf Lyall mit wachsender Erregung dazwischen.
Allgemeines Geistmurmeln brach sich Raum.
Wedelnd hob ich die Hand, um fortzufahren. „Uns bleiben zwei Möglichkeiten. Entweder wir finden eine Methode, die Klingel abzuschalten, oder wir scheuchen, locken, wie auch immer, die komplette Meute aus ihrer Unterwelt.“
Kaum geendet, schwoll das Geistgemurmel zu unerträglichem Durcheinander an.
Ich hingegen verließ einfach das Zelt. „Falsch, lediglich eine Möglichkeit bleibt, weil beide Bedingungen erfüllt sein müssen“, stellte ich für mich selbst klar.
Joerdis Seele gab nach langem Schweigen mal wieder ihren Senf dazu, sinngemäß: „Du bist verrückt.“
„Vielen Dank, aber konstruktiv geht anders, meine Liebe.“
Plötzlich das Bild von St. Ninian vor Augen, verduftete ich vom Strand.
Muffiger Holzgeruch stand in dem alten Klostergemäuer. Wenigstens waren die Fledermäuse draußen geblieben.
Zuerst stieß ich sämtliche Fenster des Lesesaals weit auf und ging dann in die geheime Bibliothek. Sie hatte mir früher schon wertvolle Dienste geleistet. Der Haken: Als Vorableistung musste eine präzise Frage gestellt werden. Hilflos stand ich minutenlang vor den groben Holzregalen. Genauso, als würde ich erwarten, dass die Bücher wie von Zauberhand selbst meine Bedürfnisse errieten und sich aufgeschlagen auf dem Lesepult präsentierten. Schließlich machte ich resigniert auf den Fersen kehrt, setzte mich in den Lesesaal und trank Tee. „Traumhaft, diese Stille.“ Winzige Rädchen begannen sich in meinem Gehirn zu drehen. „Die Traumbotschaften!“ Oft hatten sie mir den richtigen Weg gewiesen. Warum nur waren solche Botschaften versiegt? „Weil du zur blinden Nachteule mutiert bist?“, schlug mein Alter Ego vor. „Mag sein – trotzdem nicht wirklich überzeugend.“
Pflichtschuldigst kehrte ich an den Strand und ins Zelt zurück. Die wartende Runde warf mir mehr oder weniger pikierte Blicke zu.
Ihre miese Stimmungslage ignorierend, verkündete ich: „Zuvorderst benötige ich Zeit, selbst wenn das eine Woche oder einen Monat beanspruchen sollte.“
„Lilia, keine Alleingänge!“, forderte Alexis sichtlich alarmiert.
„Zwar habe ich nichts dergleichen vor, aber du bekommst kein Versprechen.“
Mylord konnte oder wollte die sein Gesicht verzerrende Ohnmacht kaum verbergen. Am liebsten hätte er uns beide auf der Stelle mit magischen Fußfesseln untrennbar aneinander gekettet.
Ahnungslos holte ich zum nächsten Schlag gegen sein Herz aus, indem ich von Alexis die Erfüllung meines dringendsten Wunsches einforderte. „Katja braucht dich.“
Elin wiederum schien zu ahnen, dass ihre und meine Aufgaben uns alsbald auf getrennte Wege führen würden. „Ich werde in den Nächten ab sofort mit Alexis in Berlin jagen.“
„Elin, nehmt zuvorderst die dämonischen Einpeitscher ins Visier. Rechnet jederzeit mit weiteren Fallen.“ Und nur für sie vernehmbar bat ich: „Bitte beschütze Alexis.“
Die Elbe gab ihr feierliches Versprechen.
Aneel kontaktierte mich. „Welche Aufgabe ist für mich gedacht?“
„Kundschafte möglichst unauffällig die dämonischen Umtriebe in London aus. Berate dich zuvor mit Lyall und Fingal.“
Die Londoner blickten recht missmutig drein. Sämtliche abenteuerlichen Aktivitäten blieben ihnen versagt, nur weil sie keinen Seelensprung beherrschten. Nie zuvor in ihrem ausufernd langen Leben hatten sich die Zwei dermaßen unzulänglich menschlich gefühlt.
Dass sie genau dies auch in meinen Augen waren, machte die Situation heikel. Da polterte mein Alter Ego los: „Lilia van Luzien! Seit wann bemisst sich treue Freundschaft an Schwerthieben?“ Die krachende Ohrfeige für meine eigene Herzlosigkeit trieb mir Schamröte ins Gesicht. Verlegen senkte ich den Blick. Mit mehr Glück als Verstand spuckte mein Hinterkopf in die peinliche Stille hinein eine rettende Idee aus. Echt erleichtert sagte ich nun: „Für euch gibt es einen Leckerbissen. Ihr werdet Ahnenforschung betreiben, genauer gesagt, nach Halbelben fahnden. Knöpft euch vernünftigerweise zuvorderst den Stammbaum unserer werten Lords of Lightninghouse vor.“
Ihre Gesichter erstrahlten. Fingal rieb sich in gespannter Erwartung die Hände.
„Ahnenforschung? Fantastisch!“, rief Lyall enthusiastisch.
Aber Elin übermittelte mir staubtrocken: „Was bist du doch wieder mal ausgebufft.“
„Wie wäre es jetzt mit Lunch?“, fragte ich unschuldig.
Frühmorgens schnarrte sein Wecker Mylord gnadenlos aus den Federn. Mürrisch haute er auf die Austaste und lauschte rasch, ob ich versehentlich mit aufgewacht war. Da er absolut gar kein Geräusch hörte, drehte Alexis sich um – und sah eine unberührte Betthälfte. „Ich sollte Lilia nicht allein zurücklassen“, murmelte er. „Wenn sie nun tatsächlich heimlich nach London springt. Sie ist so seltsam, regelrecht verwirrt in letzter Zeit.“ Frustriert ging er ins Bad. „Ignoriere ich Berlin, geht es Lilia noch schlechter. Erfülle ich ihren Wunsch, drehe ich dort garantiert halb durch vor Sorge.“
Geduscht und mit Koffein vollgepumpt sprang Alexis nach Berlin, ohne eine Lösung für sein Dilemma gefunden zu haben.
Katja Rainer fand die Zusammenarbeit mit Mylord weniger toll, effektiv und unkompliziert. Dennoch tat ihr Herz einen dankbaren Extraschlag, als er kurz vor Beginn der Morgenrunde unverhofft in ihrem Büro auftauchte.
„Alexis! Du bist wieder auf den Beinen. Oh Mann, wir sind ohne dich völlig abgesoffen.“ Die Chefkommissarin umarmte ihn enthusiastisch.
„Entschuldige mein plötzliches Verschwinden, Katja. Jetzt stehe ich euch erst einmal zur Verfügung.“
„Erst einmal?“
„Es tut mir leid, nicht nur in Berlin überschlagen sich die Ereignisse.“
Katja registrierte, wie sich sein sonst so beherrschtes Gesicht schmerzhaft verzog. „Geht es Lil gut?“, fragte sie alarmiert.
Alexis schüttelte resigniert den Kopf, straffte sich schnell und lenkte ab: „Dann wollen wir in deiner Stadt mal aufräumen.“
Im Konferenzraum hoben sich müde Köpfe, als Katja mit Alexis im Gefolge eintrat. Manch einer der Kommissare kam kaum mehr zum Schlafen heim. Ein kleines, leer stehendes Büro, das in besseren Zeiten für Personalzuwachs eingeplant worden war, beherbergte neuerdings eine Pritsche für Notschlaf.
Die Leute waren am Ende ihrer Kräfte, das spürte Alexis überdeutlich. Darum überredete er Katja vor allem anderen, sie paarweise zwei Tage zu beurlauben. Allein diese Ankündigung genügte, allerletzte Energietropfen zu mobilisieren.
„Das hätte Lilia kaum besser hingekriegt“, raunte Björn zu John hinüber.
Die dramatischste Veränderung für das Team war, dass sich die Gewalt selbst veränderte. In den vergangenen Jahren bestand ihre Aufgabe weitestgehend darin, die von den Sternelben angekündigten Verbrechen und Verbrecher zu bekämpfen. Nun jedoch regierte meist die spontane Gewalt über Berlin, zerschlug brutal den Frieden der Stadtbewohner. Das frühere Ruhmesblatt des Morddezernats war mit Totenasche eingeschwärzt.
Die Dämonenhorden schwärmten Nacht für Nacht wahllos aus. „Tötet! Schafft Chaos!“, lautete der machtvolle Befehl des dunklen Fürsten an seine Sklaventreiber. Die heimtückische List ging in der von Elben unbewachten Stadt mühelos auf, sämtliche Krematorien glühten.
„Alexis. Alexis?“ Irritiert schaute Katja in seine völlig abwesenden Augen.
Die ellenlange, von den Sternelben übermittelte düstere Bilanz der letzten Nächte verblasste. Gleichzeitig versuchte weiterer Sphärengesang zu Alexis durchzudringen.
„Noch einen Moment, bitte.“
Die nun folgenden, scharfsinnigen Vermutungen der Sternelben verursachten Alexis schwer zu unterdrückende Übelkeit. Etliche Dämonen mussten sich demnach in den lichtlosen Kellern von Krankenhäusern eingenistet haben. Anders ließ sich das nächtliche Mordgeschehen auf den Krankenstationen kaum erklären.
Er schluckte mühsam und klärte seinen Blick. „Streicht sämtliche Krankenhaus-Fälle von eurer Liste. Ich werde mich sofort darum kümmern.“
„Wer soll dich begleiten?“
„Keiner. Ihr könntet da nichts ausrichten, Katja.“
Ohnmächtiges Gemurmel brach sich Bahn, denn sie wussten um unsere Magie und fühlten sich beim kleinsten Gedanken daran noch hilfloser.
Thomas spie laut aus, was fast jedem im Konferenzraum immer öfter durch den Kopf schoss: „Ich schmeiß den ganzen Scheiß hin.“
Der riesige Fahrstuhl glitt in den Untergrund des Westend-Krankenhauses. Verkleidet als Arzt, verbarg Alexis sein Elbenschwert unter einem langen weißen Kittel. Wenigstens musste er nicht in Begleitung einer Leiche zu den Bestien hinab. Deren Gestank mischte sich eindeutig unter den scharfen Geruch nach Desinfektionsmitteln.
Die Fahrstuhl-Souffleuse verkündete mit leisem Pling: „Drittes Untergeschoss.“
Alexis atmete aus und betrat den öden Korridor.
Dumpfe Stimmen aus einem Seitengang verrieten, dass auch Menschen hier unten waren.
„… weiß nicht mehr wohin mit den ganzen Leichen. Die Bestatter wälzen das Problem auf uns ab. Wenn die Angehörigen dahinter kommen, dass jedes Fach mit zwei Leichen…“
„Der Direktor ist informiert“, schnitt ihm eine zweite männliche Stimme das Wort ab.
„Das höre ich jetzt schon zum x-ten Mal, aber drei Leichen passen…“
„Halten Sie um Himmels Willen den Mund! Wir …“
Der surrende Mechanismus einer automatischen Tür schnitt Alexis von dem makabren Gespräch ab.
Wo sollte er nach Dämonen suchen? „Bestimmt nicht in den Kühlräumen, die Biester stehen auf Wärme. Vielleicht bei der Heizungsanlage?“ Alexis blickte sich um und entdeckte dabei die penibel beschrifteten Wegweiser. Leise folgte er ihnen. Der Gestank nahm zu, das Schwert wanderte in seine Hand. Vor der mit roten Warnhinweisen vollgeklebten Brandschutztür formte er eine Lichtbombe für die noch freie Hand. Dann trat sein rechter Fuß gegen den Öffner. Die schwere Tür schwang nach außen und wälzte komprimierten Dämondunst in den klinisch reinen Flur.
Alexis sprintete einen schmalen, grün ausgeleuchteten Gang entlang, fegte unvorsichtig um die Ecke – und krachte hart mit der ersten Bestie zusammen. Dabei flog ihm seine Lichtbombe aus der Hand. Sie explodierte nutzlos. „Shit!“ Ihm blieb keine Zeit für eine weitere Bombe. Noch während Alexis der sich ausbreitenden Lache des erstochenen Angreifers auswich, brüllte und trampelte eine ganze Dämonenhorde hinter seinem Rücken heran. „Klingt ganz so, als würden die Biester vor Kraft strotzen.“
Blitzsalven durchsiebten seine Gegner, mit Schwerthieben suchte Alexis sie zurück zu drängen. Allerdings kannten sich die Furien hier unten bestens aus und lockten ihn immer weiter in das Gangsystem hinein. Endlich kam es Mylord in den Sinn, zwischen zwei Schwertstreichen kurz seine nähere Umgebung mit ihren Nischen, dunklen Räumen und vielerlei Verstecken hinter großen Apparaturen zu taxieren. Sofort setzte das Déjà-vu aus dem Bunkermuseum und damit sein Fluchtinstinkt ein. Um die eigene Achse wirbelnd tanzte Alexis schleunigst dem Zugang entgegen. Die restlichen Dämonen schleuderten ihm sämtliche verfügbaren Waffen hinterher, bis sich die Brandschutztür selbst verriegelte.
Auf dem Flur gestand Mylord sich ein, höchstens halbe Arbeit geleistet zu haben.
Zurück im Fahrstuhl dachte er verärgert: „Gemeinsam mit Lil wäre solch ein Desaster niemals passiert.“ Und er ertappte sich bei dem zornigen Wunsch, die beiden Elben mal in solche Drecklöcher zu stecken. Im polierten Blech der Liftwand spiegelte sich sein blutjunges Gesicht mit Augen darin, die nicht mehr seine waren. Belian. Abrupt disziplinierte Alexis seine Gedanken. Das Westend-Krankenhaus war schließlich nur eines von einem halben Dutzend verseuchter Kliniken. Beim Lichtbad in der Kapelle würde er sich eine stichhaltige Strategie einfallen lassen müssen, um hier und anderswo gründlich auszukehren.
Wer jetzt meint, mir wäre die simpelste Aufgabe von allen zugefallen, da ich ja nur schlafend auf Traumbotschaften warten musste, dem sei gesagt: Ich konnte partout nicht richtig schlafen! Meine grauen Zellen wechselten unter den schwarzmagischen Flüchen wie eine Achterbahn zwischen den Leuchtzeichen „Turbobetrieb“ und „außer Betrieb“, und zwar Tag und Nacht. Kribbelig wuselte ich nutzlos herum, hing im nächsten Moment lethargisch in einer Ecke. Sprang nervös auf, um danach über dem langweiligsten aller verfügbaren Bücher in Halbschlaf zu fallen. Sogar mein Alter Ego war bei diesem Übermaß an Durchgeknalltheit neuerdings mit Stummheit geschlagen. Gegen den gnadenlosen Zweikampf meiner Gehirnhälften waren Gladiatoren bloß Milchbubis. Immer wieder wisperten die Monsterstimmen der einen Hälfte: „Geh in die Kathedrale, bring es endlich hinter dich!“ Die andere Hirnhälfte seufzte bühnenreif hinterher: „Dann bist du zwar tot, dafür hat der Psychoterror ein Ende.“ Elins klobiger Ring schaffte echt klare Verhältnisse…
Je mehr solcher konfusen Tage verstrichen, desto häufiger die irren Attacken und umso tollwütiger meine Grundstimmung. Tauchte ein Mitglied unserer Gemeinschaft auf, ergriff ich die Flucht. Erstens, um nicht grundlos Gift zu versprühen, und zweitens, um unerwünschten Fragen nach meinen geträumten Fortschritten zu entkommen. Alexis fehlte mir unendlich, seit er in Berlin jagte. Mein sich aufschaukelnder Herzschmerz darüber schien in der Chaoswolke das einzig Greifbare zu sein.
„Geh in die Kathedrale, geh in die Kathedrale, geh …“
Am siebten Tag, ultraknapp vor meinem endgültigen Nervenkollaps, erlag ich stattdessen dem Schrei meines Herzens. Ich rannte plötzlich wie eine ferngesteuerte Marionette vom Obstgarten hinter dem Castle bis hinauf in mein Zimmer. In jenem klaren Moment schnappte ich rasch das Amulett und den Stein von Chara, hängte sie um meinen Hals und sprang nach Berlin in mein Gartenhaus.
Dort plumpste ich auf meinen Stammplatz in der Küche. Der selbstbestimmte Augenblick war verronnen. „Was will ich hier? Alleiner als allein sein?“ Eine neue Welle der Müdigkeit schwappte heran. Sie bereitete bloß den Boden für die nächste Litanei des Finsterlings. Ohne dies bewusst wahrzunehmen, tastete ich nach dem lange ignorierten Leinensäckchen und zog die bernsteinfarbene Kugel des Elbensteins daraus hervor. Die Wirkung war frappierend! Während ich aus meiner Chaoswolke stürzte, wirbelten Klarheit und Gelassenheit den gesamten dämonischen Dreck weg. Für die vergangenen Tage blieb nur ein ratlos verwundertes Kopfschütteln übrig. Was in aller Welt war mit mir geschehen? Warum hatte mir niemand geholfen? Wie konnte ich in solch einen Wahnsinn getrieben werden? Noch dazu im sicheren Castle! Sollte etwa der Dämonfürst zu neuer, unvorstellbarer Macht gelangt sein? Allein die sich aneinander reihenden Fragen besaßen eine Sprengkraft, dass mir vor den Antworten, vor ihrer zu erwartenden brutalen Wahrheit grauste. Dennoch. Ich atmete tief durch und hob meine Augen.
„Sagt mir“, sandte ich gebieterisch in die Sphäre, „besitzt der Dämonfürst solch immense Macht, mich selbst in Lightninghouse zu manipulieren?“
„Auch du könntest diese Macht gegen ihn besitzen, Lilia“, intonierten sie so freundlich wie hinterhältig.
Geschockt starrte ich minutenlang sprachlos an die Küchendecke. Von allen denkbaren Antworten war ihre die falscheste. Die mich nebenbei aus der eben erst wiedererlangten Denkspur haute. Anhäufungen übergewichtiger Fragen krepierten im Wortsalat. Demgemäß klang das Resultat ungefähr so: „Wie – aber – Wahnsinn – das – warum – kann – gewarnt …?“ Erst mit der physischen Nachhilfe geballter Fäuste gelang eine vernünftige, scheinbar nachrangige Frage: „Kann ich seinen schwarzmagischen Einfluss abwehren?“
„Dafür trägst du den Stein von Chara.“
Ihre über die Maßen arrogante, selbstgefällige Ohrfeige traf mich, da ich um diese Wirkung des Elbensteins gar nicht wissen konnte, keulenmäßig. Doch manchmal schwingen Keulen treffsicher zurück. Mein Zorn wallte auf. Das also war die neueste List des Unterweltzombies. „Von wegen tiefsinnige Grübelei im dunklen Kämmerchen!“ Nein, er bombardierte mittels höchster Konzentration und schwarzmagischer Power gezielt meinen Geist. „Gab Elin dir deshalb den hässlichen Ring?“, zischelte mein Alter Ego dazwischen. Offensichtlich gelangte es schneller zu seiner ätzenden Wundenschürferei zurück, als mein Logikzentrum auf volle Leistung. Und es legte rasiermesserscharf eins drauf: „Erstklassige Auswahl! Entweder denkblockierte Dienerin von Joerdis oder irres Opfer des Dämonfürsten.“ Der Satz war dermaßen explosiv, dass ich ihn einfach sphärenwärts schob.
„Wärst du deiner Fürstin gefolgt, wie wir es wünschen, hättest du keinerlei Geistesqualen erlitten“, tadelte ihr Chor streng.
„Ihr habt seine Folter zugelassen, nur um mich vor Joerdis in die Knie zu zwingen?“ Tausend Flüche fluteten meine Hirnwindungen, ohne abgesandt zu werden. Das war sowieso sinnlos. Zutiefst verstört warf ich die Sternelben aus meinem Kopf und orderte Tee mit Leyas Spezialkuchen. Ich biss in ein dickes Kuchenstück und gedachte dabei der einzigen Elbe, die es je verdiente, geliebt zu werden. Leya hatte mich damals, während unserer allzu kurzen gemeinsamen Zeit gewarnt, ihren Sternschwestern einfach blind zu vertrauen. Leise seufzte ich: „Ach Leya, könnte doch deine Seele zurückkehren. Ich vermisse und brauche dich.“
Ein zweites Kuchenstück, betropft mit Tränen, füllte meinen hungergeschrumpften Magen. Minutenlang erlag ich dem schwächlichen Gefühl, ein hilfloses, missbrauchtes Rädchen im Allgetriebe zu sein. Bis es meinem Alter Ego langte. „Braucht Barbie neuerdings Windeln?“ „Dich hat niemand gefragt.“ „Pah, und wenn schon. Die allgegenwärtigen Chorscharen basteln eine tumbe Marionette aus dir.“ „Das wollen wir erstmal sehen!“ „Das wollte ich hören. Und?“ „Kurze Tüftelpause.“
Unter einer extra heißen Dusche fand ich meinen Zorn wieder. Er reichte für zwei Gegner. Aus dem Bad ging ich zu meinem Kleiderschrank. Nachdem der Inhalt mehrerer Schubladen auf den Boden geflogen war, fand ich zu unterst das Gesuchte. In schwarzer Jeans und roter Tunika lief ich die Treppe hinunter und setzte mich nochmals an den Küchentisch.
Mein menschliches Outfit führte im All kurzzeitig zu kollektiver Stimmbandlähmung.
Ohne Einleitung eröffnete ich die erste Kampfarena. „Wird der Dämonfürst bemerken, dass seine Magie nun ihr Ziel verfehlt?“
„Zunächst wohl nicht, Lilia.“
„Dann sollte ich mir diesen Umstand schnellstens zunutze machen.“
In ihren zögerlichen Chor mischte sich Konfusion, bevor der Gesang erneut verstummte. Vielleicht dämmerte einigen Sternelben langsam, dass sich ihre gnadenlose Keule soeben auf den Rückweg begeben hatte.
Wie konnte ich dem Fürsten seine Heimtücke doppelt so hart heimzahlen? Rasch entwarf ich den Rachefeldzug. Damit jedoch würde seine Kathedrale zum neunundneunzigsten Mal ins Abseits geraten. „Mir egal!“
Mit dem letzten, ausgesandten Gedanken krachte meine Keule mitten unter die geheimniskrämerischen Gesangsschwestern.
Dem folgte eine Ansage, die keinen Widerspruch duldete: „Heute Nacht werden wir all seine hiesigen Anführer vernichten. Schickt am Abend die Elben zu mir ins Gartenhaus. Und zwar kampfbereit.“
Ihr kopfloses Protestgeheul ignorierend, forderte ich: „Zeigt mir, wo die Sklavenhorden in den Nächten nach oben kriechen.“
Während ich dazu ins Wohnzimmer wechselte, schwankten die Sternelben zwischen wimmern und brausen.
Wenige Sekunden später stand ich auf dem Parkett und herrschte sie an: „Legt los.“
Der Mädelchor erhielt eine kakophonische Note.
„Klärt euren internen Kram sonst wann. Ich will Ergebnisse sehen.“ Mit ausgestrecktem Zeigefinger wies ich auf den großen Stadtplan, der vor meinen Füßen bereit lag. „Also?“
Irgendwer in ihren Reihen musste eingeknickt sein. Nadeln sausten zu altbekannten, bei Dämonen angesagten Orten:
Die Stadtmitte, wo egomanische Reiche mit kalten Herzen logierten. Hohenschönhausen, wo jugendliche Neonazis ihre Nachbarn terrorisierten. Wedding, wo Arbeitslosigkeit und Verwahrlosung ihre zerstörerischen Kräfte entfalteten. Wilmersdorf, wo vergreiste Straßenzüge einzig noch Lebensüberdruss ausatmeten.
„Was tut sich in der Spandauer Zitadelle?“
„Die Anführer meiden diesen Ort.“
Grinsend zählte ich die Nadeln. „Bis auf 17 Anführer sind alle erlegt? Die dürften mit etwas Glück tatsächlich in einer Nacht zu schaffen sein.“
„Riskiere dafür nicht dein Leben, Lilia.“
„Erspart mir eure geheuchelte Fürsorge. Wie schirme ich den Stein von Chara vor Alexis ab?“
„Bitte Elin, den Elbenstein zeitweilig für seine Augen unsichtbar zu machen.“
Als erster erreichte Alexis am späten Nachmittag mein Gartenhaus. Verblüfft begaffte er im Hausflur mein ungewöhnliches Outfit, als ich ihm entgegen lief.
„Donnerwetter! Erwachsen geworden?“
„Kleider sind was für liebe kleine Mädchen. Zornige große Mädels tragen schwarze Jeans.“
„Da klingt gewaltiger Ärger durch.“
Überglücklich, mit ihm allein zu sein, blieb ich die Antwort schuldig und schmiegte mich lange in seine Arme.
Erst danach berichtete ich Mylord am Küchentisch meine brandneue Geschichte um den Stein von Chara. Allerdings nur eine bereinigte Kurzversion. Insofern blieb ihm die ungeheuerliche Tragweite verborgen.
Hinterher donnerte Alexis wutschnaubend in die Sphäre: „Wollt ihr Lilia umbringen? Gebt euch verdammt nochmal mehr Mühe!“
Zur Beruhigung verordnete ich seinen Blut unterlaufenen, von schwarzen Ringen untermalten Augen eine kurze Bettruhe.
„Kommst du mit?“
„Du sollst schlafen“, vertrieb ich standhaft seine verlockenden Hintergedanken.
Gähnend schlurfte Mylord davon. Da ich mich nach der krassen Aufregung kaum fitter fühlte, plumpste ich im Wohnzimmer auf die Couch. Meine Augenlider wurden bleischwer.
Am Abend trafen die bestellten Elben ein. Sie fanden mich tief und traumlos im Sitzen schlafend vor. Mit einer sanften Berührung meines Kopfes weckte Aneel mich.
Elins scharfe Augen erfassten sofort den unverhüllten Elbenstein wie auch meine Kleidung. „Was soll das werden?“
„Menschenkleidung“, wunderte sich Aneel.
„Gleich. Geht schon mal in die Küche.“
„Was hat das zu bedeuten?“, verlangte Elin jedoch mit auf und ab wedelnder Hand auf der Stelle zu erfahren.
„Tag des Zorns“, verkündete ich mit gefährlich aufblitzenden Augen.
Gegen 21 Uhr waren unsere nächtlichen Jagddetails besprochen. Die Elben hatten nach ihrem hastigen Sphärenkontakt keinen einzigen Widerspruch gewagt.
Ich ging hinauf ins Schlafzimmer und streichelte Alexis zärtlich wach.
„Fit zum Köpfe abschlagen?“
„Lil, bitte, wie ekelhaft.“
„Na, das geht halt einfacher und schneller als erstechen.“
„Du bist ja krass drauf.“
„Jagdfieber, Süßer.“
„Ich lasse dir gerne den Vortritt.“
Sein Bizeps bekam einen Knuff.
„Au! Deine Knöchel sind waffenscheinpflichtig.“
„Das gilt für meinen ganzen Körper.“
„Also, ich wüsste da eine Stelle, obwohl, wenn ich es mir recht überlege…“
Herumalbernd betraten wir die Küche. Prompt bekam Aneel wieder seinen Ich-bin-im-Irrenhaus-Blick. Da er mitten in diese Geschichte hineingeraten war, überforderte es sein Vorstellungsvermögen, wie Menschenkinder normalerweise tickten – wenn sie mal durften.