Читать книгу Das Sprechen der Wände - Dankmar H. Isleib - Страница 5

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II

War das eine Woche!

Manchmal passiert in unserem läppischen Leben monatelang nichts Aufregendes und dann kommt alles auf einmal. Dann gibt es kein Luftholen, kein Nachdenken. Die alltäglichen Dinge tut man unbewusst, automatisch, versucht, seine Probleme zu ordnen, und erlebt nur Chaos in sich.

Silvester. Keine Zeit und zwei Frauen am Straßenrand.

Strahlende Augen die eine. Runde, feste Brüste unter der kurzen Kunstpelzjacke und die geliebten, leicht gewölbten Schenkel mit dem kräftig hervortretenden Dreieck in einer hautengen, braunen Samthose.

Flehende Augen die andere. Elegant wie immer. Ganz in Schwarz, hohe Stiefel, ein Pelzmantel. Eine Silhouette, die auffällt. Ich empfinde Mitleid. Ist Mitleid auch Liebe? Ist Mitleid noch Liebe?

Ich wartete auf die eine, die andere wartete auf mich. Für beide wäre ein klärendes Gespräch notwendig gewesen.

Silvester. Keine Zeit. Zwei Frauen.

Ich bin ein Armleuchter.

Oder bin ich stinknormal? Oder ein geiler Bock? Ich muss Schluss machen. Die flehenden Augen geben mir keine Chance.

Sie liegt neben mir, atmet flach, jedoch ruhig. Sie trägt noch meinen Namen. Meine Gedanken kreisen um uns. Unser merkwürdiges Leben. Die Ereignisse der letzten Tage passieren blitzartig Revue. In Sekunden tun sich Jahre gelebten Lebens auf. Ein anstrengendes Gespräch liegt hinter uns. Sie nimmt Schlafmittel, atmet flach, jedoch ruhig. Ich kann sie verstehen. Für Karin ging gerade eine Welt unter.

Ich bin so entsetzlich ausgelaugt. Möchte auch schlafen. Aber selbst der intensive Gedanke an ihre strahlenden Augen, ihre Wärme, das wunderschöne Dreieck der Begierde können mir keine Ruhe verschaffen. Ich höre ihre helle, glockenklare, gurrende Stimme, fühle ihre feuchten, gierigen Hände, die immer die Sprache der Liebe sprechen, immer in Sorge um mich sind. Hände können mehr, viel mehr als zupacken.

Und dann dieser Morgen.

Eisgrauer, trockener Januartag. Kein Tag in unserem wichtigen, unwichtigen Leben ist wiederholbar. Aber dieser? Wie werde ich ihn jemals wieder los? Wie kann ich die Erinnerung daran aus mir löschen? Kein Blackout. Es gibt kein Blackout. Alles ist klar vor mir. Jede Einzelheit. Immer. Wie lange wird es noch dauern?

Klopfen an meiner Mansardentür. Spinne ich?! Ihr könnt mich alle mal. Bin gerade eingeschlafen und habe die quälenden Gedanken verdrängen können.

Klopfen an meiner Mansardentür. Es frisst sich in meine Ohren, dringt in mein total unfrisches, denkfaules und zugleich sich quälendes, verwirrtes Gehirn. Mechanisch aufstehen. Bademantel überstreifen, Tür öffnen.

Zwei Unbekannte stieren mich an. Komische Sache.

»Sind Sie Herr Isleib, Dankmar Isleib? Ja? Dann ziehen Sie sich an! Sofort!«

Ich blicke in Ausweise, aus denen mich nichtssagende, kalte schwarz-weiße Lichtbilder, hässliche Augen im Halbdunkel anglotzen.

Staatssicherheitsdienst.

Ich verstehe nichts. Gar nichts. Oder doch? Halt! Ein Bekannter, Kollege, wurde vor wenigen Wochen verhaftet. Sollte das, sollte er der Grund für den hässlichen Besuch sein?

Die Herren sind zu viert. Einer im Garten. Einer im Treppenflur, zwei bei mir. Isleib. Musst verdammt wichtig sein!

»Beeilen Sie sich! Wir haben wenig Zeit. Sie müssen mitkommen. Zur Klärung eines Sachverhaltes. Frühstücken können Sie bei uns, los, Tempo!«

Waschen, rasieren, Schweißausbrüche. Zeit schinden. Gedanken ordnen. Mechanisch ziehe ich mich an; mein Verstand scheint im Eimer zu sein. Chaos türmt sich in mir auf.

Freunde warnen. Aber wie?

Wo ist meine Frau?

Der Liebsten eine Nachricht zukommen lassen.

Aber wie?

Die Bücher verschwinden lassen, das Westgeld. Und überhaupt. Ich kann so nicht gehen. Da muss noch so unendlich vieles geregelt werden.

Die Kerle mit den Robotergesichtern verfolgen jede meiner Bewegungen. Ich muss pinkeln. Dringend. Der starrt hin, als hätte er noch nie einen Schwanz gesehen!

»Soll ich einen Mantel mitnehmen?«

Januar. Kalt.

»Ist Ihre Sache.«

Na ja, wir fahren im Wagen, aber was ist, wenn ich zurückkomme ...? Wo ist der blöde Mantel. So, nun noch der Ausweis. Muss man in der Zone immer bei sich haben. Geld, der Krankenschein. Man kann ja nie wissen. Frisches Taschentuch. Hunger habe ich. Nervosität. Wie kann ich bloß eine Nachricht hinterlassen?

Lena, Karin.

Scheiße, verdammte Scheiße! Die lassen keine Sekunde von mir. Vier kalte, dumme, brutale Augen glotzen mich ununterbrochen an. Jeder Handgriff, jede Bewegung wird verfolgt, eingeordnet, abgeschätzt, begutachtet. Die haben Angst!

Treppe runter, Tür auf, abschließen. Die hintere rechte Tür des grauen Wartburgs steht schon offen. Einer links, einer rechts. Ich sitze in der Mitte. Dann der Fahrer und der Letzte. Scheint der Boss zu sein. Kann sicher mindestens seinen Namen fehlerfrei schreiben.

Schweigen.

Ich müsste mich jetzt konzentrieren. Auf die kommenden Verhöre vorbereiten. Geht nicht, denn ich habe keine Ahnung, was die von mir wollen.

Die Straße! Silvester – da standen sie beide. Keine zehn Meter voneinander entfernt. Und nun? Vorbei an den Neubauten. Die werden auch ewig nicht fertig. Läppisch, die bauen schon acht Jahre daran herum. Warmwasser gibt es noch immer nicht. Das kleine schwedische Heizkraftwerk steht nur provisorisch, weil das eigentlich geplante nicht fertig wurde. Geldmangel. Devisenmangel. Aber ein Lebensmittelgeschäft hat aufgemacht. Soll ja keiner verhungern. Nur: Was haben die dort in den Regalen, außer „sozialistische Errungenschaften“, wie Margarine auf chemischer Basis, stinkenden Weißkohl von der Kolchose, verseucht von Chemikalien, die sie zusetzen, damit er größer wird, der weiße Kohl, und pappiges Toastbrot, dem Westen abgekupfert und genauso wertlos wie dort. Ach so, die gammligen Grüne-Bohnen-Konserven nicht zu vergessen. Immer wieder und jeden Tag: Grüne Bohnen gibt es, die scheinen die Genossen Planer besonders zu mögen ...

Ahnungslos schauen die eintönigen Häuserfassaden auf unser Auto herab. Was wissen die schon von mir! Was wissen die Menschen, die hinter den genormten, armseligen Fassaden leben? Enge. Überall Enge. Auch im Kopf. Gerade im Kopf. Wollen sie überhaupt etwas wissen? Sind ihnen das Fressen, Vögeln, auf einen Trabant sparen, die Prämie im Kollektiv, die in Aussicht gestellte Neubauwohnung, alle zehn Jahre ein vierzehntägiger Urlaub mit dem FDGB (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund) nicht wichtiger? Und dazu kommt die Angst.

Alle haben Angst.

Sehen weg, hören weg, wenn es um Wichtiges geht. Hören zu, wenn sie dich verpfeifen können.

Angst.

Hatten viele im Tausendjährigen, die Alten. Und nun gewöhnen sich die Jungen daran. Ist bequemer so.

„Sagte Vater auch immer …“

Ministerium für Staatssicherheit der DDR. Was verbirgt sich dahinter? Schließlich hat doch jeder Staat seine Sicherheitsdienste. CIA, KGB, BND, MI5, MI6, Mossad, NSA, MfS. Wo ist der Unterschied.

Nein. Ich habe keine Angst. Ich habe kein schlechtes Gewissen. Warum sollte ich?!

Oh, wie einfach das klingt!

Verdammt, ich habe Angst! Angst vor dem Ungewissen. Angst um die Freunde, die Geliebte.

Und Karin.

Natürlich habe ich Angst um die Freunde um mich herum. Haben sie Karin auch geholt? Daran würde sie zerbrechen. Der Gedanke lässt mich nicht mehr los. Wenn sie sie nun ebenso geholt haben, wie jetzt mich? Schon vor mir? Sie muss früher raus. Schule. Ist es der Lada vor uns? Vier Stasitypen und eine heulende, zitternde, verängstigte, junge Frau? Nicht genug, dass ich ihr fortlief. Und wenn sie die anderen – Freunde, Bekannte – schon ebenso in ihren Fängen haben?

Karin … Noch ist sie meine Frau. Wenn auch nur auf dem Papier. Aber da ist ein gemeinsam gelebtes Leben. Da sind zehn Jahre Glück, Gleichklang, Unterdrückung, Kämpfe, Verstehen, Auseinanderbröckeln, Anekeln, Trauer und wiederum Verstehen. Vorgestern haben wir die Fronten geklärt. Nein, es wurde nicht mehr gebrüllt, es gab nicht einmal mehr Tränen. Geblieben sind kalte, nüchterne Absprachen über den Rest des gemeinsamen Lebens und dem Danach.

Und nun das: „Klärung eines Sachverhaltes!“ Klingt harmlos. Oder? Ein paar freundliche Fragen und man kann wieder gehen ...

Das hat Karin nicht verdient, das nicht. Niemand! Aber gerade Karin. Ich weiß, wie so etwas abläuft. Zumindest einigermaßen, denke ich. Sie ist jedoch nicht vorbereitet. Weiß von nichts. Rein gar nichts! Ist zu schwach, diesen Bestien zu widerstehen. Wird es genügen, dass sie von meiner Arbeit gegen den Staat nichts Genaues wusste? Wird man ihr glauben, der Lehrerin, der „sozialistischen Menschengestalterin“?

Ja, ich hatte mal Illusionen: Wissen wertfrei vermitteln. So hatte ich mir das früher vorgestellt. Der Traum von Gleichberechtigung, Leben ohne Zwänge. Alle Menschen sind gleich. Gerade in diesem Staat müsste das doch möglich sein. Dann sah ich die Lehrbücher, die eher Leerbücher hätten heißen müssen. Sah, wie der Unterricht abläuft. War das eigentlich bei mir, gleich nach dem Krieg, auch schon so hundsmiserabel gewesen? Wo finde ich meine Erinnerung? Waren die Lehrenden damals schon so grottenschlecht, so tendenziös, primitiv wie heute?

Die haben sie vor mir geholt. Ich weiß es. Wollen einen Vorsprung erarbeiten. Vorsprung wovon? Frauen sind leichter zu überlisten. Noch dazu in einer derart schwierigen Situation.

Schweiß bricht am ganzen Körper aus, Tropfen laufen über meine Stirn, über die Augen, die Nase, fallen auf meine Handrücken. Es ist verdammt heiß in dem Wagen. Links und rechts stumpfe Robotergesichter. Erfüllungsgehilfen des Systems. Nun kann ich mich nicht mehr an ihnen vorbeimogeln. Ohne sie läuft in diesem Staat nichts. Überhaupt nichts! Und es gibt sie überall. Ständig sind sie präsent. Ist das eigentlich nur in der Ostzone so? Sind die im Westen genauso? Sind die Typen um mich herum nur mir so unsympathisch, oder geht es allen anderen Menschen hier im Osten auch so wie mir? Ich weiß es nicht. Oh, wie ich sie hasse!

Nein. Nur das nicht. Hass macht blind, sagt man. Und Blindheit kann ich nicht brauchen. Ich darf mich jetzt nicht gehen lassen, darf keine Fehler machen. Dankmar, konzentriere dich! Ruhe! Schalte ab, bleib ganz cool!

Wenn ich nur abschalten könnte! In meinem beschissenen Hirn kreuzt sich momentan alles. Die Gedanken eskalieren, spielen verrückt. Energieströme laufen völlig konfus, zerschlagen die Ordnung, die uns meist gegeben ist, um Dinge in richtiger Weise voranzutreiben. Ich kann keinen Gedanken festhalten. Nichts ordnen, sortieren, zu Ende denken.

Eisgrauer Morgen.

Die Fahrt führt durch Dörfer, die ich kenne, führt über Straßen, die, grottenschlecht, ein Stück Heimat sind, streifen Plätze, die ich mag. Trotz des äußerlichen Verfalls. Der bucklige Asphalt rattert unter mir dahin; könnte ich mich nur an ihm festhalten. Schemenhaft nehme ich die kahlen Bäume wahr. Ich fühle mich so unendlich einsam und verloren. Ich möchte heulen, aber es sind keine Tränen da.

Ja hier, hier war es! Wie oft haben wir nachts auf dem Feldweg angehalten. Er führte in weite Kornfelder, war von der Landstraße aus schon nach wenigen hundert Metern nicht mehr einzusehen. Ganz still saß sie neben mir. Nur ihre feuchten Hände sprachen. Fast schon mechanisch lenkte ich den Wagen meist in den einsamen Weg. Einmal sind wir stecken geblieben. Schwerer, gefurchter, nasser Boden hatte den Wagen aufsetzen lassen. Er bewegte sich keinen Meter mehr. Panik. Wie sollen wir da unbemerkt wieder rauskommen? Ich muss nach Hause. Ich bin ein Schwein. Fremdgeher. Nein, stimmt nicht ganz. Karin weiß es schon lange. Aber es schmerzt sie jedes Mal mehr. Das weiß ich und tue es trotzdem. Immer wieder.

Lena, Geliebte ...

Wir erreichen die Bezirkshauptstadt. Werde ich sie heute wieder verlassen können?

Der Wartburg fährt langsamer, biegt in eine Seitengasse, hält mit „taa taa, ta taaa“ vor einem großen Holztor. Etwas Unlesbares steht in ehemals weißen Lettern an dem dunkelbraunen Tor. Soll ich nun lachen? Bin ich eine Mohrrübe oder ein Kohlrabi, eine Tomate oder nur ein dummer Kohlkopf? Hydraulisch öffnet sich das Tor. Uniformen, mit Maschinenpistolen im Anschlag, werden sichtbar. Eine hohe weiße Mauer, ein zweites Tor. Diesmal aus Eisen. Wieder Maschinenpistolen. Eine schmale Einfahrt, gerade breit genug für einen PKW, Stacheldraht, Elektrozäune. Ein Portal, silberne Mützen und Schulterstücke. Mehrere Männer in Zivil.

Das Empfangskomitee für einen Musiker.

Aussteigen, fünf breite Stufen, eine schwere dunkle Tür, ein noch dunklerer Gang. Wieder Uniformen, Maschinenpistolen, ein Glashäuschen. Summton. Die Tür rollt zur Seite, drei Stufen runtergehen. Halt! Schlüsselgeklapper. Ein leerer Raum. Kein Fenster, muffige Luft. Ein Tisch, drei Stühle, Uniformen, Maschinenpistolen und Männer in grauen Anzügen. Taschen ausleeren.

Ausziehen. Ganz! Schnell! Schneller!

Mit welchem Recht?

Das wusste ich alles. Theoretisch. Von Freunden, die überlebten. Dem Grauen entkamen. Das ist jetzt die Praxis. Schwerer, viel schwerer zu ertragen, als ich es mir hatte vorstellen können.

Zehn Hände vergewaltigen meine Sachen.

»Anziehen, mitkommen!«

Ich muss pinkeln. Die Angst.

Das Sprechen der Wände

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