Читать книгу Das Sprechen der Wände - Dankmar H. Isleib - Страница 7

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IV

Es war ein Wagnis. Für beide. Wir trafen uns auf einer Autobahn, auf der sogenannten Transitstrecke durch das Gebiet der DDR.

Die Westdeutschen erkannten am Geräusch, wenn sie auf den alten, im Tausendjährigen Reich gebauten Teilstücken im Osten Deutschlands angekommen waren. Es ratterte und rumpelte; Flickarbeiten, Schlaglöcher über Schlaglöcher, Rinnen, Wellen, Krater, durch marode Bauschilder notdürftig gekennzeichnet, taten sich im gar nicht so uralten Belag auf, das Tausendjährige hatte ja nur zwölf Jahre gedauert und uralt war die DDR auch noch nicht. Die Geschwindigkeitsbegrenzung von 100 km/h erschien in Anbetracht der Qualität der Autobahn und der sie überwiegend befahrenden Fahrzeuge der Marken Trabant, Wartburg, Moskwitsch, Lada und Skoda mehr als sinnvoll.

Tiefer Nebel hüllte die Straße ein. Schlecht für mich, denn ich musste den Treffpunkt pünktlich erreichen. Alles war minutiös geplant. Oder war Rolf erst gar nicht losgefahren? Lag Hamburg auch im Nebel? Aber Nebel ist gut. Er schützt uns. Punkt neun Uhr. Erster Parkplatz nach der Abfahrt Burg. Richtung Berlin. Wenn andere Fahrzeuge dort stehen, nichts wie Gas geben und den nächsten Parkplatz ansteuern. Wenn nicht dort, dann zum übernächsten. Nur nicht auffallen. Ein Parkplatz wird doch leer sein! Um diese Zeit. Bei dem Wetter ...

Keine fünf Meter Sicht. Wie soll ich da nur pünktlich sein! Mist. Hätte früher losfahren sollen. Aber wer kann das ahnen. Nebel wie eine Wand. Zu früh da sein und lange rumstehen fällt auf. Und Rolf fällt noch mehr auf als ich. Westwagen fallen immer auf. Gib Gas, los, gib Gas, fahr schneller, Angsthase. Rolf kann nicht warten. Verdammt, wenn ich nur die Landstraße irgendwie erkennen könnte! Auf der Autobahn geht es besser. Na endlich, die Auffahrt! Vorsicht, Bullen. Jede Auffahrt und jede Abfahrt wird bewacht. Immer. Wegen der Westler. So, jetzt Vollgas. Ich muss es schaffen. Allmählich wird es ein wenig heller, die Leitplanken in der Mitte sind schwach erkennbar.

Zehn vor neun. Geschafft. Die Ausfahrt Burg nähert sich. Noch zwei Kilometer. Dann drehen und den ersten Parkplatz anpeilen. Ruhig bleiben, ganz ruhig bleiben, auch wenn das Herz bis zum Hals schlägt. Ein Auge hängt nur noch im Rückspiegel, versucht, seinen roten Mercedes auszumachen. Rolf ist ein Pfundskerl. Was er alles riskiert! Solschenizyn. Doch nicht nur ein Roman ohne Bezug. Hat Familie, der Rolf. Für ihn ist die Sache gefährlicher als für mich. Nein, nein, sie erwischen uns nicht. Sie haben uns noch nie erwischt! Idioten. Heute schon gar nicht. Der Nebel schützt unser Vorhaben.

Perfekter Nebel, danke!

Der Parkplatz liegt auf einer kleinen Anhöhe, die Fahrbahnen kann man in beide Richtungen gut einsehen. Aber auch wir können gesehen werden. Feldstecher. Infrarotgeräte? Der Nebel. Unser Verbündeter. Ein paar kleine Büsche, dünner Wald schließt sich an. Der Ort ist eine Pinkelpause wert. Für Ost und West. Sieht ganz harmlos aus. Glück für uns. Der Parkplatz ist leer. Anhalten, aussteigen, ein paar Schritte gehen, Spannung lösen. Die Motorhaube auf, Werkzeug raus. Im Osten nichts Ungewöhnliches. Die Klapperkisten gehen alle Nase lang kaputt. Realistischer Sozialismus. Theorie und Praxis. Marx & Murks. Und die Kisten sind Schrott. Reparieren fällt nicht auf. Oder soll ich mich doch schlafend stellen? Im Auto sitzen bleiben, die Augen schließen und so tun, als ob ich übermüdet bin und Ruhe brauche? Nachher kommt noch jemand auf den dummen Gedanken und will mir beim Reparieren helfen ...

Rolf kommt. Auf die Minute pünktlich. Ich könnte dich küssen, Junge! Verdammt, Isleib, bleib ruhig. Rolf steigt aus. Mit strahlendem Lächeln, braungebrannt, die getönte Hornbrille mit einer forschen Bewegung zurechtrückend. Ihm steht der große, dunkelrote Mercedes. Ein Coupé, lang, lässig, rotes Lederdach. Ein schickes Auto. Fünf, sechs Meter liegen zwischen unseren so unterschiedlichen Blechkisten.

»Wie geht‘s?«

»Danke, gut. Und dir? Was machen die Kinder, wie geht es Helga?«

»Prima. Sie sind noch in Griechenland. Wie ist die Lage, Alter? Packen wir's?«

»Hm, sieht ganz gut aus.«

In dem Moment rollt ein Fernlaster auf unseren Parkplatz. Bleibt direkt hinter Rolfs Wagen stehen. Scheiße. Was machen? Sollen wir weiterfahren? Na, ein paar Minuten können wir schon noch warten. So tun, als wären wir gerade selbst erst angekommen. Auch in den dünnen Wald gehen und pinkeln. West gegen Ost. Wer kann besser. Ganz cool. Geht doch prima. Nun ist aber genug, du Sachse. Schwing dich in deinen Sattel und reite vom Hof! Halt uns nicht auf. Denkste. Der kommt schräg durch den Wald. Direkt auf Rolf zu. Weiß der was? Blödsinn. Niemand kann etwas wissen. Alles Zufall. Oder ist er ein Stasimann? Kann auch nicht sein, unsere Absprachen liefen nur mündlich, lange vorbereitet, nicht übers Telefon, nicht per Brief.

Ein Autonarr. Will sich den neuen Mercedes ansehen.

»Wie viel PS?«

»Zweihundert.«

»Doppelt so viel wie mein Brummi. Is schnell, nich?«

»Ja, über zweihundert.«

»Möcht ich auch mal fahr'n. Schneller als hundert dürfen wir ja nich.«

Ich gehe auf die beiden zu. Noch ein Neugieriger kann nicht schaden. Vielleicht verschwindet der nun endlich. Der druckst rum, sieht mich in einer Mischung aus unwirsch und ängstlich an. Kein Stasi, beschließe ich, selbst ziemlich nervös. Ich verstehe. Der will was von Rolf. Gut, gehe ich eben wieder zu meinem Auto.

Die beiden verhandeln kurz. Der Sachse schreibt was auf, Papier wechselt die Hände, unauffällig. Ein kurzer Gruß und dann steigt er in seinen IFA-Laster.

Das kostet Nerven!

»Der hat mir seine Adresse gegeben. Ich möchte seiner Frau, bitte, ein paar Strumpfhosen schenken. Wo ich einen fetten Mercedes fahre, kann ich mir das doch bestimmt leisten. Im Osten gibt es keine, sagt er, und seine Frau freue sich doch so. Dann wollte er mir noch zwanzig Mark Ost in die Hand drücken. Für die Strümpfe. Mensch, ich würde die Welt nicht mehr verstehen, wenn ich dich nicht kennen würde ...«

Auch ich habe Rolf etwas mitgebracht. Ist immer schwer. Was soll man Westlern schenken. Noch dazu reichen! Drüben gibt es doch viel bessere und weitaus schönere Sachen. Diesmal habe ich ihm eine Heilige Schrift mitgebracht. Erstausgabe 1723. Tonnen schwer, Übergröße und in herrlichem, altem, vergilbtem braunen Leder gebunden. Wird sich freuen, der Rolf.

Einer passt immer auf. Ich lege das Paket vor seinen Wagen. Dann gehe ich schnell zurück. Nun ist er dran. Jetzt wache ich über den unfreundlichen Morgen. Mit Argusaugen. Und Herzklopfen. Gelbe Punkte zerschneiden den Nebel, werden größer, zischen vorbei. Guter Nebel. Feiner Nebel. Bleib noch ein bisschen!

Der erste große Karton von ihm. Los! Gut. Hab ich. Ist schwer. Los! Stopp. Zurück. Komm! Gut. Stopp. Okay! Los! Man müsste hundert Augen haben, zwanzig Ohren. Aber wir sind allein. Schnell muss es gehen. Unauffällig. Gott sei Dank ist nicht viel los auf der Ostautobahn. Eine dritte, eine vierte Kiste. Geschafft. Herrlich! Nun können sie uns mal. Ein schönes Gefühl.

»Was hast du denn wieder alles angeschleppt?! Ich muss mit dir schimpfen. Es sollten doch nur die Bücher sein!«

»Wirst schon sehen. Ich wollte dir eine kleine Freude machen. Pack aber erst Zuhause aus. Ist alles dabei. Ich habe nichts vergessen.«

»Danke!«

»Sei nicht sauer, Dankmar, ich muss gleich weiter. Sie stoppen seit Neuestem die Zeit. Haben da irgendeinen Trick im Stempel. Die wissen genau, wenn ich zu schnell unterwegs war, oder zu langsam. Dann löchern sie einen mit Fragen, die Ärsche! Außerdem will ich noch heute zurück nach Hannover zu meinem Bruder. Habe morgen einen Termin in Amsterdam.«

So ist das oft. Rolf steckt in Arbeit. Immer. Aber er ist zuverlässig. Total zuverlässig. Ein Freund eben. Noch knappe zehn Minuten fliegen Wortfetzen von Auto zu Auto. Zehn Meter liegen zwischen uns, eine unsichtbare Grenze hält uns auf unserer Linie. Gezogen von sogenannten Kommunisten. Zwei Deutsche, die sich trotzdem verstehen.

Rolf steigt in seinen Luxusschlitten, Typ Westdeutschland, Mercedes Coupé, 3,5 Liter, dunkelrot metallic, nachdem er die Zigarette hastig und ein wenig nervös mit dem Fuß ausgedrückt hat. Ich steige in meinen grauen Luxusschlitten, Typ Ostdeutschland, einen ziemlich betagten Wartburg 311, Baujahr 64, altweiß, um es vornehm auszudrücken. Und wir fahren noch ein Stück gemeinsam. Auf einer Straße, die schlechte Geschichte gemacht hat. Hitlers Autobahn. Gebaut für Panzer. Heute befahren von zwei Deutschen unterschiedlicher Gesellschaftssysteme, die, beschaut man die beiden Fahrzeuge genauer, auch eine unterschiedliche Auffassung von Luxus haben. Faschistischer Beton. Bindeglied zwischen Ost und West. Trennung zwischen Ost und West. Demarkationslinien. Keiner darf sie überschreiten. Es wird sofort geschossen. Und nicht nur das. Unsere Hupen weinen, drücken die Wehmut aus, die uns bei der nächsten Abfahrt, die ich nehmen muss, anfällt. Jeder weiß, dass der andere an ihn denkt. Und was er denkt. Wehmut, aber auch Freude. Denn mit unserem Mut haben wir sie wieder ein kleines bisschen angeschmiert. Sie, die Machthaber der Zone, die sich DDR nennt.

Rolf brachte uns wieder einmal unschätzbare Güter: Grass, Böll, Dürrenmatt. Lenz und Solschenizyn, Andreij Sacharov. Rolf brachte mir und Freunden stets ein Stück Freiheit. Verbotene Freiheit. Lesen macht frei. Und ist gefährlich. Denn: Solschenizyns „Krebsstation“ einem Freund zu leihen, ist, nach ostzonalem Gesetz, Staatsfeindliche Hetze (§§ 104, 105, 106 DDR-StGB) und kann bis zu fünf Jahre Zuchthaus einbringen. Sacharows „Wie ich mir unsere Zukunft vorstelle“ ebenfalls. Das Verbreiten staatsfeindlicher Literatur zählt in dem Unrechtsstaat zu den größten Verbrechen. In einem Staat, der von sich stets und ständig beteuert, dass die Menschen in ihm frei seien wie nirgendwo anders auf der Welt. Mit Ausnahme der Sowjetunion, versteht sich. Frei von der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Lächerlich. Gehört die Freiheit des Geistes nicht zur Freiheit? Ist es eine Ausbeutung, wenn man sie dem Menschen zu nehmen versucht? Darf man wirklich nicht lesen, was den Herrschenden nicht genehm ist?

Danke Rolf! Du bist so mutig. Würden nur mehr deiner Mitbürger, Deutsche, dich besser verstehen, so denken und handeln wie du. Leider denken die meisten nur an Apfelsinen und Kaviar.

Mit den Büchern im Gepäck bin ich der Größte. Der King! Meine Freunde beneiden mich um meinen Freund aus dem Westen. Sie fiebern nach den Schätzen, die ich jedes Mal mitbringe. Schätze, die nicht mit Geld aufzuwiegen sind. Heute sind es mehr als vierzig wichtige, sehr wichtige, interessante, aufschlussreiche Bücher gewesen, die die Grenze nicht ganz legal passierten. Denn Wissen ist Macht. Zu den Wenigen gehören, die mitreden können. Sich aus der Masse lösen können, um der Masse zu helfen. Die Bücher machen in einem straff geplanten Zyklus eine riesige Runde. Quer durch die ganze Ostzone, von Greifswald nach Dresden, Berlin, Leipzig, Magdeburg, Jena, Halle – groß ist sie ja nicht, die „sozialistische A-und-B-Republik“, aber die Zeit rennt. Quasi von Freund zu Freund. Still und machtvoll. Dank Rolf! Wochen und Monate wird nun diskutiert, an einem eigenen Lebensbild gebastelt. An einem Lebensbild, das, mit jedem aufgesaugten Buch, immer genauere Formen annimmt. Den Horizont erweitert. Befreit aus den Klammern des Nichtwissens, des Vorenthaltens.

Gespräche.

Klammern, die unser Leid lindern.

Wenigstens einige Menschen haben, mit denen man reden kann!

Das Sprechen der Wände

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