Читать книгу Das Sprechen der Wände - Dankmar H. Isleib - Страница 6
ОглавлениеIII
Das erste Verhör ist das Schlimmste. Unerfahrenheit gegen kalte Routine.
Zimmer 16. Das habe ich, flüchtig, lesen können. Aber was nützt es? Ein etwa sieben Meter langer, sehr hoher, schmaler Raum. Durch das vergitterte Fenster fällt mein Blick auf einen kahlen Baum. Er ist so durchsichtig wie der nüchterne, vergammelte Raum mit den Ramschmöbeln. Hat aber den Vorteil, dass er von draußen nach drinnen schauen kann. Wenn er denn will und es seine Psyche nicht zu sehr belastet. Wir wissen es nicht. Der Baum sorgt dafür, dass wir atmen können ... Quer vor dem vergitterten Fenster ein hellbrauner, billiger Schreibtisch. Leer. Davor ein Mann.
Klein, dick. Vielleicht dreißig, oder ein wenig mehr. Grauer Anzug, hellblaues Hemd. Breiter, brauner Wollschlips. Stechende, wasserblaue, unruhige Augen. Zwischen ihm und mir ein langer, glänzender Konferenztisch aus Spanplatte. Hellbraun. Links und rechts von ihm rote Eisenstühle. Sechs. Nackt. Ohne Polster.
Auf der rechten Seite, von mir aus betrachtet, sitzt ein junger Typ. Uninteressiert. Borstige, schwarze, kurz geschnittene Haare, Augen, die einen nicht anschauen können. Ihm gegenüber, auf dem mittleren Eisenstuhl der linken Seite ein Genießer. Genießer seiner unerhörten Macht. Groß, breite Schultern, drahtig. Intelligenter, gefährlicher Gesichtsausdruck. Schmale Lippen, ein Strich. Mehr nicht. Ein gefährlicher Arsch. Jeder Einzelne ein Ebenbild des totalitären Systems. Man sieht es ihnen an, erkennt sie. Ich habe sie schon immer erkannt. Sie sind unverkennbar. Aber deshalb nicht minder gefährlich. Zynische, kalte, taxierende Augen. Verächtlich der Blick. Immer. Sie wissen um ihre Macht.
Unerfahrenheit gegen kalte Routine.
In der äußersten, entgegengesetzten Seite vom Schreibtisch aus betrachtet, steht ein Hocker. Blickrichtung Fenster und, zwangsläufig, in die kleinen, flinken Schweineaugen des Dicken am nackten Holztisch.
»Setzen!«
Eine unmissverständliche Handbewegung weist mir den Hocker als Sitzplatz zu. Welche Ehre. Ich darf mich setzen. Nun mustern mich drei Augenpaare erst einmal minutenlang. Ritual. Routine. Abschätzend. Verängstigen. Methode. Wen haben wir da vor uns? Wollen mich nervös machen. So ein Unsinn! „Das bin ich doch längst“, möchte ich ihnen entgegenschleudern, aber ich sitze einfach nur ganz still auf dem Hocker und schaue auf den Baum, in der Hoffnung, dass er mein Leid verstehen möge und mir Kraft für das Bevorstehende schenkt. Sechs Augen mustern mich nach wie vor eiskalt, verächtlich, ausgiebig, genüsslich, angewidert, erstaunt, befremdet.
»Sie sind Herr Isleib?«
»Was fragen Sie!«
»Antworten Sie gefälligst! Also: Sind Sie Herr Isleib? Dankmar Isleib, geboren am vierundzwanzigsten April Neunzehnhundertvierundvierzig …? Nicht dass uns hier eine Verwechslung vorliegt, Herr Isleib!«
»Ich bin krank. Das wissen Sie. Ich verlange einen Arzt und meine Medikamente. Sie waren in der Jackentasche. Mit meinem Krankenschein. Das muss erst geregelt werden, sonst läuft nichts«, entgegne ich den stumpfen Gesichtern, die mich noch immer anstarren, als käme ich vom Mars.
»Kennen Sie Fritz Mortz?«
»Stellen Sie mich einem Arzt vor. Wenn der bestätigt, dass ich vernehmungsfähig bin, können Sie fragen.«
Geplänkel. Sinnloses Geplänkel. Ich weiß, dass es völlig sinnlos ist, aber es beruhigt mich. Zumindest ein wenig. Wut. Angst bekämpfen.
Das Verhör kann beginnen.
Fritz Mortz ist ein Kollege aus unserem Institut. Wir sitzen, nein, wir saßen uns Schreibtisch an Schreibtisch gegenüber. Vor acht Wochen verschwand er. Zurück blieb sein Trabant auf dem staubigen Parkplatz des Instituts. Nur ein paar Tage. Dann verschwand auch der. Nachts.
Fritz, aha. Das ist ein erster Anhaltspunkt. Ich kann mich einpegeln. Trotzdem: Das ist nicht alles. Worauf wollen sie hinaus? Die kleinen grauen Dinger unter meinen langen Haaren beginnen zu arbeiten. Synapsen verbinden sich.
»Also, was ist?! Wie lange sollen wir noch auf eine Antwort warten!«
Der kleine Dicke wird laut. Der Stumpfsinnige guckt böse, der breite, intelligente Typ wendet sein Haupt in meine Richtung und verschießt mit den Augen tödliche Giftpfeile. Es geht ihnen nicht schnell genug. Und so soll es auch bleiben. Ich will, ich muss den längeren Atem haben. Egal, wie lange die „Vernehmung“ dauern mag. Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre … Reicht meine Kraft dazu? Am liebsten würde ich schon jetzt das Handtuch schmeißen. Aber wohin? Sie haben einfach die bessere Ausgangsposition.
Merde.
»Sie haben dem Mortz im Sommer vergangenen Jahres Ihren Wartburg geliehen.«
Feststellung.
»Wann genau war das?«
Von dieser Ecke weht der Wind. Stimmt, der Fritz hat sich mal meinen Wagen geborgt. Na, wenn das alles ist ...
Mortz fragte: »Kannst du mir mal dein Auto borgen. Heute. Nur für ein paar Stunden. So ab sechs. Ich will ein paar Sachen aus der Wohnung vom Krug holen. Der will am Wochenende weg.«
Vertrauen gegen Vertrauen. Sein Freund wollte abhauen. War in jenen Wochen in unserer Stadt sehr verbreitet. Ein Arzt nach dem anderen. Ingenieure, Facharbeiter, Künstler. Meist junge Familien, aber auch Singles. Abhauen – also von Deutschland nach Deutschland ziehen. Von Halle nach Hamburg. Von Berlin nach Berlin, von Dresden nach Dortmund.
Das ist verboten!
Das ist das größte Verbrechen in unserem „sozialistischen Heimatland“. Das ist Verrat am „Ersten-Arbeiter-und-BauernStaat“.
Abscheuliches Verbrechen!
Ein Kind vergewaltigen. Na gut. Eine Oma bestehlen, ihr die letzte Mark rauben, einen Kaufmann erpressen, na gut! Aber „Unsere Republik“ verraten?! In das absterbende, von Seuchen überzogene, modernde, stinkende, faulende kapitalistische System des Klassenfeindes gehen wollen? Das ist ein Verbrechen. Das größte!
Ausgestoßener, du! Bis ans Lebensende. Verrat am sozialistischen Vaterland. Nie wieder wirst du ein Bein auf die Erde bekommen. Bist gezeichnet, auch ohne Stern am Revers. Deine Nummer ist nicht auf deinem Arm tätowiert, deine Nummer kann jeder von deiner Stirn ablesen. Weil du gebrochen bist. Weil du ein Aussätziger der Gesellschaft bist. Weil du keinen einigermaßen ordentlichen Job mehr bekommst, weil du nur noch ein mieses Stück Dreck im Staub des sozialistischen Vaterlandes bist.
Vielleicht hast du einen Onkel in Köln, einen Bruder in Kassel? Oder du hast, durch Zufall, auf dem Bahnhof in Leipzig, während der Messe, ein tolles Mädchen aus Essen, einen eleganten Herrn aus Wiesbaden kennengelernt. Willst deinen von deiner Mutter geschiedenen Vater am Bodensee besuchen. Willst dich bei VW selbst davon überzeugen, wie sehr die Arbeiter im Kapitalismus ausgebeutet werden.
Verbrecher!
Oder du kannst den Druck nicht mehr ertragen. Die Parolen. Wohin du blickst, Parolen. Etwa: „Unser Sieg über den Kapitalismus stärkt den brüderlichen Kampf der unterdrückten Arbeiterklasse in den Ländern Afrikas!“ oder ähnlicher Schwachsinn.
Oder du hast Angst vor deinem Nachbarn.
»Kollege Isleib, morgen ist der Erste Mai. Sie haben noch keine Fahne draußen. Ich werde Ihnen eine bringen, damit Sie sich nicht schämen müssen. Sie wollen doch nicht den Klassenfeind stärken und unser Wohngebiet verunglimpfen!«
»Kollege Isleib, Sie haben schon wieder einen neuen Schrank gekauft. Können Sie uns sagen, woher Sie eigentlich so viel Geld haben?«, fragt scheinheilig der Abschnittsbevollmächtigte der Volkspolizei, dessen Aufgabe es ist, in seinem Wohngebietsabschnitt alle wichtigen – und so etwas ist äußerst wichtig und staatszersetzend – Dinge und Veränderungen sofort zu überprüfen und an die nächst höhere Dienststelle weiterzuleiten.
»Kollege Isleib, gestern stand wieder ein Westwagen vor Ihrer Tür. Glauben Sie, wir merken das nicht? Glauben Sie, das ist für Ihre Frau gut? Wenn das die Schüler Ihrer Frau sehen! Damit untergraben Sie die Autorität einer Lehrerpersönlichkeit, einer sozialistischen Menschengestalterin, und schaden entschieden dem ideologischen Kampf gegen die Kriegstreiber!«
Ja, Angst. Angst, deinen Kindern deine Gedanken mitzuteilen. Ein Kindermäulchen plappert ja ganz arglos daher. Das könnte ein Lehrer hören. Ein unbedachtes Wort aus Kindermund, ein Witz über Ulbricht oder der Sohn ist nicht in der FDJ (Freie Deutsche Jugend), all das könnte die ganze Familie gefährden, Sanktionen nach sich ziehen. Unweigerlich!
Aber du willst frei sein. Willst dich nicht gängeln lassen. Willst Entscheidungen über dich, dein Leben, deine Familie, deinen Alltag selbst treffen. Aber das geht nicht. Schon die Gedanken an eigene Entscheidungen sind ein Verbrechen am Arbeiter-und-Bauern-Staat. Das Kollektiv denkt und lenkt. Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit. Sagte Marx. Murks! Wessen Notwendigkeit? Die des Staates? Des Individuums?
Hoppla! Was für ein Individuum?
Die immer gleichen Fragen hämmern auf mich ein. Stupide. Stunde um Stunde. Das ist Methode. Der Januartag ist grau, bleibt grau. Düster. Der Baum schaut mich an, reglos.
»Isleib, zum letzten Mal: Wann haben Sie Mortz den Wagen geborgt? Sagen Sie die Wahrheit! Wir wissen sowieso alles. Also Tag, Stunde, Monat. Isleib!« – Das „Herr“ ist im Verlaufe des endlosen Verhörs längst von ihrer Höflichkeitsliste gestrichen. »Seien Sie vernünftig. So, wie Sie sich verhalten, verschlechtern Sie nur Ihre Lage!«
Träume ich oder ist das Wirklichkeit? Ich kann das alles noch nicht glauben, habe irgendwie das Gefühl, ich habe mich in das falsche Kino begeben. Horrorfilme stehen nicht auf meinem Programm.
Der Mensch landet auf dem Mond. Der Mensch baut Computer, Atomkraftwerke und Automaten. Der Mensch verpflanzt Herzen, überträgt Fernsehsendungen, direkt aus Japan. Per Satellit. Der Mensch sucht nach Leben, nach Radioquellen im All.
Der Mensch sperrt Menschen ein. Weil sie von Halle nach Hamburg wollen. Wahnsinnige Wirklichkeit. 1974. Mitten in Europa. Im einstigen Deutschland.
»Ich will einen Anwalt haben. Ohne Anwalt sage ich nichts. Ich bin mir keiner strafbaren Handlung bewusst!«
Gut habe ich das gesagt! Wird die mächtig beeindrucken. Das mache ich nun auch schon seit Stunden. Anwalt sprechen! Als ob es das gäbe.
Ja, da gibt es einen. Nennt sich Rechtsanwalt. Ist aber wohl eher Linksanwalt. Professor Dr. Kaull, Berlin. Der schrieb mal ein Buch über Kriminalfälle in der Weimarer Republik. Ganz amüsant! Kaull bemängelt darin, dass es in der Weimarer Republik vorgekommen sein soll, dass ein Beschuldigter erst nach mehreren Stunden, gar Tagen, einen Anwalt seiner Wahl sprechen durfte. Sauerei, elende! Scheiß bürgerliche Demokratie, vergammelte Weimarer!
Wenn der Staatssicherheitsdienst seine Ermittlungen abgeschlossen hat, kann ich mir einen Anwalt nehmen. Wen, das ist ziemlich egal. Denn: Anwalt wird nur, wer sich für den Arbeiter-und-Bauern-Staat gebührend engagiert. Er vertritt schließlich sozialistisches Recht. Nicht irgendein Recht, menschliches Recht, nein, sozialistisches. Nun ja, wenn es sich bei mir um eine gute, positive sozialistische Menschenpersönlichkeit handeln würde, die sich hat verleiten lassen, die sich auf ihrem Weg zum wahren Sozialismus ein einziges, kleines Mal hat verführen lassen, dann könnte man es ja noch einmal versuchen. Mit Genossen der Partei versuchen, ihn wieder auf den rechten Weg zu bringen. Aber so? Einen gefährlichen Gegner „unserer Republik“?
Meine Antworten kommen automatisch. Sagen nichts aus. Gar nichts. Meine Gedanken sind woanders. Haben sich dem Verhör längst entzogen. Sie analysieren das politische Verhalten des Staates, seine Statthalter, mir in Form der drei Offiziere des MfS gegenübersitzend. Auf monotone Fragen, monotone Antworten.
Was schreiben sie nur dauernd in ihre weißen Blöcke? Ich sage doch gar nichts. Sie wollen damit verunsichern. Noch weiß ich das nicht. Methode. Einer rennt ständig geschäftig aus dem Zimmer, die Tür bleibt dabei halb offen; man hört Flüstern auf dem Flur. Dann kommt er wieder hastig in den Raum gerannt, geht zu den anderen, tuschelt ihnen etwas ins Ohr. Dann schreiben sie wieder. Alle drei. Taktik. Doch ich durchschaue sie bald …
Trotzdem nervt es. Das wissen sie. Ich bin ohnehin geschwächt, denn die Medikamentenvergiftung, von einer läppischen, falsch ausgeführten Zahnbehandlung herrührend, habe ich noch nicht überstanden. Vielleicht hatten sie ja dabei ja auch ihre Finger im Spiel. Wer weiß. Naivität auf meiner Seite. Sie wissen von meiner Schwäche und das freut sie. Auf ihren Gesichtern ist es deutlich abzulesen.
»Was wusste Ihre Frau davon? War sie bei der Übergabe des Autos dabei?«
Was heißt hier „Übergabe“! Ein Kollege leiht sich für ein paar Stunden ein Auto. Na und? Doch nun ist Karin im Spiel. Dann kann ich davon ausgehen, dass sie jetzt nicht Kinder zu sozialistischen Menschenpersönlichkeiten erzieht, sondern auch an diesem Ort irgendwo in einem der nüchternen und kalten Räume verhört wird. Aber ich möchte mir ein kleines Fünkchen Hoffnung bewahren. Auf dass sie es so machen wie in der allmächtigen Sowjetunion. Da holt man meist nur die Männer, lässt die Frauen zu Hause. Nein: Die Deutschen sind gründlicher. In allem viel gründlicher.
»Was ist mit meiner Frau? Warum lassen Sie sie nicht aus dem Spiel?«
»Die Fragen stellen wir!«, brüllt der Wortführer, der kleine Dicke mit den wässerigen Augen und eine rötliche Ader durchzieht quer seine flache Stirn und schwillt merklich an.
»Isleib, Sie wollten doch mit ihr abhauen! Wie der Krug!«
Die ersten Worte des jungen Schnösels mit dem fahrigen Blick und den stoppeligen Haaren. Das war eine Riesendummheit. Dem Dicken steht es förmlich ins Gesicht geschrieben, wie sehr er sich über den falschen Fahrplan seines jüngeren Kollegen ärgert. Soweit war man doch noch gar nicht. Ach wie schrecklich! Wir wollten die kapitalistisch denkende Drecksau doch erst aufweichen, fertigmachen.
Nun ist die Katze aus dem Sack.
Sie wollen mir „Republikflucht“ anhängen.
Was Dümmeres konnte ihnen nicht einfallen. Glauben die im Ernst, dass ich mich in meiner derzeitigen privaten Situation auf solche Sache einlassen würde?
Aber sie können anscheinend nur in diesen Kategorien denken. Für sie will jeder, der gegen ihren Staat ist, auch automatisch abhauen. Da lassen sie sich auf gar keine Diskussionen ein. Du bist gegen uns, also willst du auch weg. Das ist ihre Logik. Basta. Und deshalb haben wir die Mauer gebaut. Ach nein – die Kapitalisten wollten uns ausbeuten. Das konnten „wir“ nicht zulassen. Ich bringe da etwas durcheinander.
Ihr Angstsyndrom. Und ich kann sie verstehen.
Der kleine Dicke merkt, dass ich durch seine Frage Oberwasser bekomme. Ich sitze aufrechter auf meinem Hocker, die eingefallenen Schultern haben sich gehoben. Doch mein Selbstbewusstsein will er gar nicht erst aufkommen lassen und sagt mit seiner fiesen, mich immer mehr anekelnden, hellen, dünnen Stimme:
»Ihre Freundin, Herr Isleib, die Lena – ist sie doch, nicht? –, die können wir gleich mit dazu holen. Sie sehen ganz so aus, als ob Sie das möchten. Wir können das! Also sagen Sie uns endlich die Wahrheit. Machen Sie ihrem Herzen Luft. Ich sehe doch, wie Sie kaum noch an sich halten können. Oder deute ich das falsch und Sie wollen nur unter unserer Aufsicht einen flotten Dreier machen, Sie Perversling? Das können wir auch organisieren!«
Diese Schweine. Ihre Drohung ist ernst. Ich weiß, dass sie auch Lena hierher zerren können. Unsagbare Schmerzen durchdringen meine Brust. Sie müssen sehen, wie mein Herz schlägt. Genügt ihnen denn nicht meine Frau? Müssen sie mich zusätzlich noch damit quälen? Reißt mir einen Arm aus, schneidet mir ein Bein ab. Schlagt mich! Um alles in der Welt: Lasst Lena aus dem Spiel.
Da ist er. Der abgeklärte Schmerz einer langen Partnerschaft, Ehe genannt, gegen den unbeschreiblichen Schmerz einer blutjungen, frisch erblühenden Liebe.
Was zählt mehr?
Wir sind nun schon zwei Tage in Berlin. Wir geben Konzerte. Die Band ist gut drauf, gelöste Stimmung wie lange nicht mehr. Ein Gefühl von Ferien umgibt uns; dass macht die Sonne und das junge Frühlingsgrün. Ich telegrafiere Lena: »Bitte komm! Ich habe Sehnsucht.«
Ihre strahlenden Kulleraugen leuchten mir entgegen. Sie lacht mit uns. Irgendwie ist es diesmal anders. Irgendwie haben wir in diesen Tagen das Gefühl, das uns nichts und niemand mehr trennen kann. Wir schweigen und schmieden in unseren Gedanken Pläne. Liebe heißt das Wundermittel für unsere Seelen. Was zählen in glückseligen Momenten die vielen schlechten Menschen, die uns von Zeit zu Zeit umgeben. Was zählen da Politik, Stress, die Angst um die Zukunft. Selbst die so nahe und immer und überall in Berlin gegenwärtige Mauer wird zur bloßen Wand. Es gibt uns. Punkt. Wir haben Freunde. Punkt. Wir genießen den Moment. Wir lachen mit unseren Freunden, sind glücklich. Wir sitzen auf alten Parkbänken, liegen auf frischen Wiesen, atmen den Duft wunderschöner Blumen ein, lästern uns die Zungen wund, verarschen vorbeikommende Fußgänger. Wir essen tonnenweise Eis, heiße Würstchen und unser Gitarrist erzählt am laufenden Band schweinische Witze. Und Hans, unsere Intelligenzbestie, kommentiert sie. Er macht, so ganz nebenbei, seine Doktorarbeit über Verhaltensweisen von Kindern. Bei Verhaltensweisen und Psyche ist Freud nicht weit und der passt nun wirklich gut zu schweinischen Witzen und Sex. Finden wir.
Wir lieben uns täglich bis zur Erschöpfung. Morgens, mittags, nachts. Wo sich gerade eine Möglichkeit ergibt. Wir wohnen bei einem Freund; der kommt aus dem Wegschauen, Weghören gar nicht mehr raus. Es stört uns nicht.
Pläne. Lena wird bald ihr Studium aufnehmen. Hat das Glück, so wie Hans auch, aus einem Arbeiterhaushalt zu stammen. Die dürfen. Lena und Kunstgeschichte. Sie wird in die Tiefen der Leda, auch ohne Schwan, eindringen, die Formen der Nofretete erforschen, das Lächeln der Mona Lisa ergründen.
Bin ich auf meinem Hocker eingenickt? Wie lange habe ich in dieser Stellung geschlafen? Es können nur Sekunden gewesen sein. Mir kommen sie jedoch wie Stunden vor. Der Tag ist inzwischen zur Nacht geworden. Habe ich meine Erinnerungen geträumt, oder waren sie einst Wirklichkeit? Gespenstisch der Baum vor den Gittern. Er ist durch die grellen Neonleuchten des stickigen Raumes angestrahlt und wirkt unwirklich weiß und kalt. Doch der Baum ist frei. Stört er sich an der Ostzone, der Stasi, der sowjetischen Besatzungszone, die sich seit Jahrzehnten DDR nennt? Mein Gott, wie schnell schränkt sich der Begriff Freiheit ein, wenn man Gitter vor und hinter sich hat. Wenn man in Maschinenpistolen blickt, in kalte Roboteraugen.
Sie haben eine Pause gemacht. Das Verhör scheint sie mehr anzustrengen als mich. Etwa zwanzig Stunden sind nun schon vergangen und sie wissen noch immer nichts über mich. Nur das, was sie sich zusammenreimen. Die ersten Vernehmungsprotokolle sind abgetippt. Die sind von meiner Frau. Sagt der mit den Schweinsaugen. Es kann aber auch ein Bluff sein. Doch wozu bluffen? Haben die das nötig? Ich entscheide mich für JA. Die haben es nötig. Bitternötig, denn es gibt nichts, was wir verbrochen haben.
»Isleib, wie Sie sehen, war Ihre Frau weitaus vernünftiger als Sie. Jetzt sagen Sie uns mal die ganze Wahrheit über das Verleihen von dem Wartburg und Ihre Fluchtvorbereitungen, und dann können Sie dementsprechend wieder gehen. Meinen Sie, es macht uns Spaß, Sie hierzubehalten? Ihre Frau ist längst wieder Zuhause. Die wartet auf Sie. Vielleicht können Sie es mit ihrer Ehe ja noch mal versuchen.«
Ein Stein fällt mir vom Herzen. Aber nur für Sekundenbruchteile. Karin wieder zu Hause. Nein, das geht nicht. Die können sie nicht wieder ziehen lassen. Das macht keinen Sinn. Karin würde unsere Freunde benachrichtigen. Ja, das würde sie sicher tun. Sie warnen.
Du glaubst, was du glauben willst.
Die ekelhafte dünne Stimme zitiert aus dem angeblichen Protokoll meiner Frau. Ausschnitte aus Gesprächen, die tatsächlich stattgefunden haben. Es ist ihre Sprache, es ist meine Sprache. Ja, so reden wir. Sie verstehen ihr Handwerk. Haben sie durch ihre Psychologen erst mal erkannt, wie der Einzelne auf gewisse Anschuldigungen reagiert, wie und in welcher Art er antwortet, dann empfinden sie solche Protokolle ziemlich genau nach. Rekonstruieren aus dem Wortschatz, der Art des Denkens des „Verbrechers“ und den meist geringen, in Details nicht stimmigen Informationen über ihre eigenen Recherchen und die Berichte der Zuträger ein Bild, das den gesuchten Vorgängen oft verdammt genau entspricht. Millimetergenau liegen sie neben der Wahrheit. Damit verunsichern sie. Auch mich.
Mortz und seine Freunde, die schon seit acht Wochen vermutlich im gleichen Stasiknast sitzen und in Zellen hausen müssen, von denen ich noch keine Vorstellungen habe, entledigten sich aller inneren Konflikte und haben voll ausgepackt. Denn sie glaubten, was man ihnen sagte: »Wenn Sie uns alles sagen, können Sie wieder gehen. Wir sind doch keine Unmenschen …«
Durch das Belasten anderer Personen sich selbst freikaufen. Die Seelen entlasten. So funktioniert das aber nicht. Das geht nicht gut!
Und mit der bröckchenweisen Story, die sich zu einem „Geständnis“ formte, wuchs die Gefahr für mich, für Karin. Durch Mortz und dessen Freunde wissen die, dass ich weiß, dass mein von mir verliehener Wartburg direkte „Beihilfe zur Republikflucht“ leistete. Ich habe somit ebenfalls Beihilfe zur Republikflucht begangen, nicht nur mein Auto, das sie sicher gleich mit verhaftet haben.
Das ist nicht viel, aber es reicht, um mich festzuhalten, um mich für mindestens zwei Jahre einzusperren. Und niemand schert sich um den Isleib. Nein, das stimmt nicht. Es gibt Menschen, die es berühren wird, sollte es denn so sein müssen. Aber was können sie dagegen unternehmen? Wie helfen? Wer kann mich hören? Wie soll ich protestieren, wie mich zur Wehr setzen?
Einen Haftbefehl bekomme ich nicht zu sehen. Wozu auch, ich kann mit ihm nichts anfangen. Vorzeigen kann ich ihn ebenfalls nicht und in den Westen wird er nie gelangen. Die Machthaber dieses sogenannten Rechtsstaates haben von ihren Vorgängern im Dritten Reich gelernt gründlich zu sein.
Karin scheint bestätigt zu haben, dass wir von der Fluchtvorbereitung des Ingenieurs Krug gewusst haben. Durch Mortz. Klar, das kann fingiert sein, kombiniert sein, aber es steht jedenfalls auf dem Papier, das sie mir vorlegen und es ist von ihr unterschrieben. So genau kenne ich ihre Unterschrift. Andererseits: Papier ist geduldig, Unterschriften kann man fälschen. Gut fälschen. Wir sind die Stasi, hoppla!
Hat Karin aufgegeben? Ist sie den Versprechungen der Stasi erlegen? Was hat sie noch ausgeplaudert? Ich könnte es verstehen. Was kann ihr im Moment das Leben noch bedeuten. Die Ehe kaputt. Der geliebte, noch immer geliebte Mann hat eine Andere …
… und durch ihn sitze ich im Gefängnis, in Stasi-Haft? Hat er mir nicht schon genug angetan, dieses Schwein. Er ist schuld! Er hat mich in diese Situation gebracht. Ich habe doch das Auto nicht verliehen! Das war er. Nur er! Warum soll ich jetzt büßen, für Dinge leiden, die mich im Grunde genommen nichts angehen? Außerdem hatte er während der Zeit schon seine Neue. Was wird aus mir? Wie komme ich hier wieder raus? Was wird aus meinem Beruf; darf ich ihn noch ausüben? Wie kann ich den Schmerz bewältigen? Ach Mist, ich liebe ihn doch noch immer ...
Übelkeit.
Ganz langsam steigt sie den Hals hoch, würgt mich. Die Gedanken an Karin zerfressen mich. Ich habe Schmerzen, die immer unerträglicher werden, bin müde, todmüde. Die notwendigen Medikamente fehlen, gegessen habe ich nichts. Sie gaben mir nichts. Ein Liter Wasser wäre gut! Mein Rücken schmerzt; seit über zwanzig Stunden sitze ich auf dem kleinen, verdammt harten Hocker und kann mich nicht eine Sekunde entspannen. Ich möchte kotzen, ihnen die Bude vollkotzen.
Der Dicke und seine beiden Mitarbeiter rauchen eine Zigarette nach der anderen. Es stinkt. Kaffeeduft, mieser Ostkaffee, zieht an meiner Nase vorbei. Sie schlürfen ihn genießerisch in ihre Mäuler, aus denen in den mir endlos lang erscheinenden Stunden nur dummes Geschwätz kam. Ihre Visagen drücken eine gewisse Zufriedenheit aus. Wir haben Macht. Wir sind die Bosse. So ein Verhör, oh, Pardon, Genosse: So eine Vernehmung kann doch der schönste Orgasmus sein. Wir haben die Macht. Wir, die Speerspitzen der Partei. Und der sitzt wie ein Häufchen Elend da, der langhaarige, verstockte, widerliche Klassenfeind!
Sie brüllen, sie locken, sie schmeicheln. Und zwischendurch fressen sie laut schmatzend belegte Brötchen. Arbeit strengt an.
»Mensch, Isleib, wollen Sie nicht endlich einsehen, dass wir keine Unmenschen sind«, lockt der Dicke, während er sich mit dem Handrücken Fettkrümel aus dem Mundwinkel wischt. »Sie sind doch ein intelligenter Typ. Geben Sie Ihren Fehler zu. Sagen Sie uns einfach die Wahrheit, dass Sie abhauen wollten. Über alles andere können wir doch dann reden. Wir sind doch dementsprechend keine Unmenschen. Denken Sie doch mal an Ihre Frau. Auch wenn Sie sie ständig betrogen haben. Geben Sie sich einen Ruck und befreien Sie sich von der Last ihres Verbrechens. Wir kommen sowieso dahinter!«
Sie sprechen ohne Pause, fragen, bekommen keine Antworten, fragen wieder, versuchen in Details zu gehen, die sie sich ausspinnen, lenken ab und fragen, fragen, fragen. Und mir geht es einfach nur noch beschissen.
Wie schön, endlich mal was Anderes:
»Haben Sie nicht vor drei Tagen in Weißenfels gespielt?«, fragt der junge Typ, der mit den fahrigen Augen.
Und dann erzählt er begeistert von dem Abend. Ja, er wäre auch da gewesen und die Stimmung sei so toll gewesen, und das Publikum wäre ganz schön wild gewesen und überhaupt – ein starkes Konzert wäre es gewesen! Alle Achtung!
Meine müden Augen beginnen zu leuchten. Ich richte mich auf. Genieße für Bruchteile von Sekunden unseren Erfolg.
Da ist sie.
Die Falle.
Und ich bin mitten hineingelaufen. Blind. Noch hänge ich mit meinen Erinnerungen an diesem schönen Abend, dem vorerst für längere – lange? – Zeit letzten Konzert? Da knallen schon ihre Fragen auf mich herein:
»Seit wann wollten Sie die DDR ungesetzlich verlassen?«
»Ach, kann man da denn legal raus?«
»Halten Sie die Fresse, Sie unverschämtes Schwein. Sie antworten, wenn ICH es Ihnen sage! Also: Wann wollten Sie weg, Sie kleines, dummes Musiker-Arschloch! Sprechen Sie! Wir können auch anders! Seit wann!?«
»Seit es die Mauer gibt!«
Erstaunen.
Ungläubiges Erstaunen machte sich auf ihren Gesichtern breit. Alle drei Offiziere starren mich an, als sei ich ein Weltwunder. Was ist denn nun los? Der lügt ja nicht mehr. Haben wir gewonnen, ist er endlich zerbrochen? Gewonnen!
»Also: Sie wollten in den Westen.«
»Ja.«
»Dann wollten Sie also abhauen.«
»Nein. Das sind zwei verschiedene Paar Schuhe; in den Westen wollen und „abhauen“, wie Sie es nennen. Ich habe keine Schritte dazu unternommen.«
»Sie lügen.«
»Ich habe mir hier mein Leben aufgebaut. Habe mich abgefunden.«
»Abgefunden, womit?«
»Dass ich ohne Gewalt anzuwenden diesen Teil Deutschlands nicht verlassen kann. Ich verabscheue Gewalt. Und Minen und Stacheldrahtzäune und Maschinenpistolen und Mauern sind Gewalt. Gewalt gegen mich. Meine Freiheit. Ich bin ein Mensch!«
»Das ist nicht die Wahrheit! Sie können weg, ganz legal. Sie haben es nur nicht probiert. Jeder kann gehen!«
»Es gibt kein Entrinnen. Das wissen Sie ganz genau.«
»Sie wollten abhauen und wollen nichts unternommen haben, um die ungesetzliche Handlung zu vollziehen? Das ist ein Widerspruch! Erklären Sie uns den mal.«
Plötzlich laufen Tränen aus meinen Augen. Ich kann nichts machen, sie laufen einfach. Wie ein kleiner Sturzbach. Zum wahnsinnig werden. Schwäche zeigen, ausgerechnet denen. Aber das Weinen befreit mich. Krämpfe schütteln meinen Körper. Anspannung löst sich, Ratlosigkeit macht sich in meiner Seele breit. Soll ich den Robotern mein Leben vorblättern? Ein Leben, das sie nie begreifen werden? Ein Leben, das so gänzlich anders verlaufen ist als das der „normalen“, der angepassten Bürger. Die sich abgefunden haben, dass sich eine total verschmutzte, Herz, Geist und Seele mit seinen Giften zerfressende Glocke über einen ziemlich großen Flecken Land gesenkt hat, in dem rund siebzehn Millionen Menschen dahinvegetieren. Und von denen die meisten nicht einmal wissen, dass sie nur vegetieren. Eingesperrt, eingepfercht in eine rundum verlaufende Grenze, die jegliche Luft zum Atmen nimmt. Und damit meine ich nicht nur die Grenzen des Unrechtsstaates zu seinen Nachbarn, nein, ebenso die Grenzen des Individuums. Die Glocke des pseudokommunistischen Miefs hat sich auf die Menschen gestülpt und hat die Seelen und Herzen verkümmern lassen.
Ich will den Mistkerlen auf keinen Fall zeigen, dass ich schwach bin. Scheiße! Lao Tse kommt mir in den Sinn: Biegsamkeit und Schwäche sind blühendes Sein, Stärke und Kraft bedeuten Alter und Tod. Was zählt jetzt? Bin ich stark, wenn ich schwach bin, bin ich kraftlos, wenn ich biegsam bin?
Die sagen, ich sei ein Verbrecher. Was habe ich denn verbrochen? Worin liegt das Verwerfliche meiner Gedanken? Ist Freiheit ein Verbrechen? Mit welchem Recht sperren mich die armseligen Marionetten des Systems ein! Warum umgeben sie ein Stück Deutschlands, meines Heimatlandes, mit Stacheldraht, Minen, Selbstschussanlagen und Mauern? Bin ich so schwach? Wie konnte das geschehen. Sind die anderen auch so schwach? Oder wollen die das genau so? Wollen sie wie die Karnickel in einer verminten Box namens DDR leben? Ohne geistigen Auslauf? Ohne die Freiheit, kreuz und quer über ein Feld zu jagen, wenn es Freude macht, auch mal Haken zu schlagen, auf des Nachbarn Terrain zu schauen, ob die Mohrrüben dort größer sind, das Gras saftiger? Warum dürfen die mich so beherrschen? Kommen einfach, nehmen mich mit, obwohl ich nichts, auch rein gar nichts Unrechtes getan habe und sperren mich ein?! Wo ist Gott? Warum lässt er das zu? Oder gibt es ihn nicht, wie die Bosse des Systems behaupten? Sind wir wirklich nur chemische Verbindung? Dann ist auch die eine Fehlkonstruktion, denn ich habe Schmerzen. Und ich kann meine Seele fühlen, mein wild schlagendes Herz spüren, habe Gedanken, unzählige Gedanken. Und meine Seele schmerzt unglaublich; nicht erst seit dem unvergesslich werdenden Tag, von dem ich noch nicht weiß, ob und wie ich ihn überstehen, überleben werde.
Wenn ich doch nur tot wäre.
Erschießt mich doch einfach! Ja, los, zieht eure Knarren und drückt ab, ihr Feiglinge!
Wenn ich doch tot wäre.
Ich bin ein Feigling. Ein riesiger Feigling. Sitze einfach da und unternehme nichts. Hocke apathisch auf dem Hocker und lasse zu, dass die widerlichen, primitiven Typen mich blöd anstarren, dass sie unsinnige, total überflüssige, ekelhafte Fragen stellen. Lasse zu, dass sie sich peu à peu in mein Ich fressen, meine Seele annagen. Das darf nicht geschehen! Ich glaube, mein Weinkrampf ist Ohnmacht und Wut zugleich. Ihnen jetzt die Fressen einschlagen! Einem nach dem anderen. Oh ja, wie würde mich das erleichtern!
Aber was mache ich? Ich bleibe gehorsam auf meinem Hocker sitzen. Lasse mich von denen anstarren, erniedrigen, vergewaltigen. Warum eigentlich? Ich könnte aufstehen, die Tür öffnen und weggehen. Einfach gehen. Los! Angsthase. Wovor habe ich eigentlich Angst? Vor ihren Fäusten? Gehorsamer Deutscher. Einfach sitzen bleiben. Dankmar, mehr Courage. Hast wohl Angst vor dir selbst. Los, Dankmar, aufstehen, Türklinke runterdrücken. Geh raus und verschwinde! Die können dich mal!
Automatisch befolgt mein Körper, was ich eben gedacht habe. Er schwankt mehr, als er geht, denn der Kreislauf ist beschissen schlecht. Erste Tür auf, die zweite Tür auf, dann zuschlagen. Draußen. Ich bin auf dem Flur. Das ging alles in Sekundenschnelle, überraschte die Roboter mehr noch als mich selbst. Wohin gehe ich nun? Da vorne, am Ende des Flures, sehe ich schon wieder eine Uniform. Sie reißt die MP von der Schulter, geht in Anschlag. Die Doppeltüren werden aufgerissen und ich sinke zu Boden. Ein Fuß traf meine Niere, ein anderer meinen Magen. Luft. Wie soll ich Luft bekommen!
Sie zerren mich hoch, ich blicke in den Lauf einer Maschinenpistole, sie schleppen mich, links und rechts unter den Armen packend, wieder in den nüchternen, total verqualmten, stinkenden Raum ohne Sauerstoff, knallen mich auf den Hocker.
Das hätte ich nicht tun sollen. Was bringt das schon, außer einer momentanen, kurzzeitigen Befriedigung und starken Schmerzen! Im Raum sechzehn besteht akute Fluchtgefahr. Ab sofort steht vor der Doppeltür immer eine Uniform, den Finger am Abzug seiner Kalaschnikow.
Das macht mich stark. Wenn sie vor mir solche Angst haben, Schutz vor sich selbst benötigen, dann bin ich der Bessere, der schwache Stärkere. Weil ich biegsamer bin, weil ich noch lebe!
Diktatur des Proletariats, hat Lenin gesagt, der Syphilitiker. Mir präsentiert sie sich jetzt in Reinkultur. Ohne Glaceehandschuhe. Nackter und unverhüllter Sozialismus. Das totalitäre System, das Andersdenkende nicht respektiert. Nicht zulässt. Man verliert die letzten Illusionen, Träume lösen sich in Nichts auf. Kommunismus. Alle sind gleich, nur die Herrschenden sind gleicher. Die höchste Stufe des Niederen. Soll das das Ende der Träume in einer besseren Zukunft sein? Zukunft gleich Kommunismus, Freiheit gleich Kapitalismus? Ist es so einfach? Nein! Zukunft des Individuums und Kommunismus sprechen nicht die gleiche Sprache. In diesem absurden Staatsgebilde heißt Kommunismus Sieg des Niederen über das Höhere. Oder ist das zu arrogant? Sollte es heißen: Das Böse siegt über das Gute. Das Schlechtere über das Bessere. Ist das immer so? Verlieren immer die Guten? Warum hat Gewalt mehr Einfluss auf menschliches Leben als Sanftheit? Der Mensch hat beides in sich, Gut und Böse. Das wissen wir. Aber was bringt biedere Vertreter der Spezies Mensch zu der Unmenschlichkeit, wie sie sich in der DDR – und anderen totalitären Systemen – täglich widerspiegelt? Dummheit, oder einfach nur Unwissenheit? Gier, Machthunger, Geltungsbedürfnis? Wie kann sich eine, wie ich meine, ganz offensichtlich falsche und unmenschliche Ideologie verbreiten? So stark werden, dass die überwiegende Mehrheit eines Volkes sich der Ideologie und deren Machthabern dermaßen widerstandslos hingibt. Ohne zu reflektieren. Tumb und träge in ein Regime hinein trottet, das zutiefst verbrecherisch mit dem Individuum Mensch umgeht.
Was ist Recht? Wessen Recht? Was ist Ethik? Wessen Ethik? Kann man auch Ethik mit verschiedenem Maß messen? Freiheit – wie darf man sie auffassen? Dachdecker und Anstreicher, Tischler und Schwafler, die beiden Maden des Volkes, die das Land regieren, reden von Freiheit und meinen Zwänge. Sie nennen sich Kommunisten und sperren ein ganzes Volk – sich inklusive, wenn auch mit selbstgeschaffenen Privilegien – in ein riesiges Gefangenenlager. Umgeben von Minen, Stacheldraht, Mauern, Selbstschussanlagen. Jedes sich ihnen nähernde Lebewesen zerfleischen Hundestaffeln. Wachposten mit Maschinenpistolen, die auf alles schießen, was annähernd wie ein Mensch aussieht – noch einmal, wieder und immer wieder sei es gesagt, weil es so unvorstellbar und doch wahr ist.
Wozu die Maschinenpistolen rund um mich herum? Ist der, der Angst hat, und vor dem SIE Angst haben, frei? Ja, ja, ja: Ich will weg! Weg aus dem Staat des größenwahnsinnigen Dachdeckers aus dem Saarland. Erst ein österreichischer Gefreiter, dann ein tischlernder Zuhälter, jetzt der debile Dachdecker. Und das alles in weniger als vierzig Jahren. Was kann er mir schon bieten, der um internationale Anerkennung buhlende Klippschüler. Ich muss raus, muss weg aus dem spießigen, kleinbürgerlichen Mief, aus der Gefangenschaft der Körper und Seelen, dem Konzentrationslager, das unter russischer Ägide aus diesem Teil Deutschlands gemacht wurde, der sich DDR nennt – Der Dumme Rest.
Ich habe keine Heimat mehr.
Das Erkennen ist schmerzhaft, bitter. Und es trifft mich in einer Situation, die nicht beneidenswert ist. Ich bin vom normalen Strafgefangenen im großen Straflager in die ganz speziellen Fänge des Staatssicherheitsdienstes geraten. Ich muss Schlüsse ziehen, die ich über Jahre vermieden habe zu ziehen, weil das Stückchen Erde, die Menschen in meiner nächsten Umgebung, Freunde, Familie, meine Heimat waren.
Mein Leben wird sich verändern müssen. Ich muss mich von Vertrautem, Geliebten losreißen. Total. Schon in den nächsten Minuten kann sich meine Zukunft entscheiden. Ich kenne den Weg. Theoretisch. Freunde sind ihn gegangen. Mal sehen, wie die Praxis aussieht. Öffentlich bekennen, dass man nicht nur ein sich Widersetzender ist, bekennen, dass man ein Gegner des Arbeiter- und-Bauern-Staates ist. Hart, deutlich, überdeutlich. Knallhart. Unverrückbar. Nicht schwanken, nicht eine Sekunde wanken. Dann einen Antrag auf Ausweisung aus der DDR stellen, den richtigen Anwalt nehmen, dessen Namen ich kenne, und Geduld haben. Warten, warten, warten. Im Zuchthaus. Ein langer, entbehrungsreicher Weg. Doch gibt es hierzu eine Alternative?
Nein.
Ist man sich der Strapazen bewusst, kann man die Jahre im Zuchthaus vielleicht ziemlich schadlos überstehen. Natürlich gehört auch Glück dazu, denn die Wege der Entscheidung des Staatsapparates, der Stasi, letztlich Honeckers und Mielkes, sind unkalkulierbar. Nicht jeden geben sie frei. Nicht jeden verkaufen sie. Aber man kann sich in die Augen sehen.
Das zählt.
Der Entschluss, den ich auf dem Hocker sitzend in Sekunden treffe, heißt auch für mich, dass ich alles aufgeben muss: Eltern, Geliebte, Freunde, Mitmusiker. Für die ostzonalen Verhältnisse einen gewissen materiellen Wohlstand. Der Entschluss bedeutet, konsequent durchgezogen, nackt, nicht mehr ganz jung, in den anderen Teil Deutschlands zu kommen, den ich nur schlecht kenne. Die gleiche Sprache. Sprechen wir sie noch? Genügt das? Bin ich gerüstet? Reicht meine Kraft, reicht die Ausbildung, die mir – als Sohn bürgerlicher Eltern – zuteil wurde und die wahrlich nur mittelmäßig ist? Wie viel Leid, Schmerz, Schikanen werde ich ertragen können? Welchen Repressalien werden die ausgesetzt sein, die zu meiner Familie, zu meinem Dunstkreis gehören? Denn auch sie werden schwere, sehr schwere Zeiten durchstehen müssen. Und: Wir alle werden uns nie wiedersehen. Denn ein Feind des Staates und Republikflüchtiger, ein Verräter des Ersten-Deutschen-Arbeiter-und-Bauern-Staates ist ein Aussätziger und die, die in der Menschenkette automatisch durch Verwandtschaft oder Freundschaft hängen, sind ebenfalls Aussätzige. Es gibt keinen gelben Judenstern mehr – man erkennt die Aussätzigen auch ohne!
Gibt es zu den Gedanken des Frei-Sein-Wollens ein Gegenmodell? Was wäre die Alternative? Was bliebe, außer dem Wechsel zwischen Stasi-Zuchthaus und dem großen Stasi-Gefängnis DDR? Entlassen werden und leben, wo der Staat es befiehlt, Arbeit, die der Staat einem vorschreibt, Kontrolle rund um die Uhr, die letztlich wieder dazu führt, dass man, im günstigsten Fall, in ein Arbeitslager kommt, oder den gleichen Weg zurück in ein Stasi-Zuchthaus nimmt.
»Wann haben Sie den ersten Kontakt zu der Schleuserbande aufgenommen?«
»Zu welchen Schleusern?«
»Die Sie nach Westdeutschland bringen sollten!«
»Ich sage Ihnen doch schon die ganze Zeit, dass ich nicht abhauen wollte.«
»Herr Isleib. Wie lange wollen Sie uns eigentlich noch für dumm verkaufen? Wir haben Beweise!«
»Wovon reden Sie?«
»Welche Organisation steckt dahinter. Die Namen der Schleuser!«
»Ihr Ausdruck „Schleuser“ sagt mir nichts, sorry!«
»Isleib, Sie haben eben gesagt, dass sie seit 1961 nach Westdeutschland wollen, also ungesetzlich die DDR verlassen wollen. Zu welchen staatsfeindlichen Gruppen haben Sie Kontakt aufgenommen?«
»Begreifen Sie doch, dass ich die Zone nie ungesetzlich – wie Sie es sagen – verlassen wollte. Dass die Zone verhindert, dass Menschen dort hingehen und leben können, wo sie wollen, ist nicht mein Problem. Ich habe nie Versuche der Art, die Sie mir unterstellen, unternommen und daraus resultiert, dass ich keine Kontakte zu Leuten, die Sie „Schleuser“ nennen, gehabt habe!«
Bei dem Wort „Zone“ dreht es dem Dicken mit den stechenden, wasserblauen Augen und den schmalen Lippen sichtlich den Magen um. Das mag er gar nicht. Irritiert blickt er zu seinen beiden Kollegen, erhebt dann seinen feisten Arsch aus dem ekelhaften, dunkelbraunen Kunstledersessel und kommt wie ein Stier auf mich zu, baut sich wie ein mickriger grauer Pfau vor mir auf:
»Meinen Sie etwa die Deutsche Demokratische Republik? Sie! Das ist der Jargon des Klassenfeindes! Allein dafür könnten wir Sie für zwei Jahre hinter Gitter bringen! Haben Sie schon mal etwas von Staatsbeleidigung gehört? Sie sind ein Helfershelfer des Kapitalismus. Sie sind ein Klassenfeind. Sie sind ein kapitalistisches Stück Scheiße! Und Sie wollten sich von einer Verbrecherorganisation in den Westen schleusen lassen. Sie wollten die DDR verraten! Das wissen wir!«
»Haben Sie Beweise?« Etwas Besseres fiel mir im Moment zur Erwiderung nicht ein. Denn Beweise brauchen die nicht.
»Umgekehrt, Isleib, wird ein Schuh daraus. Sie beweisen uns, dass es nicht so war! Aber das können Sie nicht, denn wir haben genügend Beweise gegen Sie und ihre staatsfeindliche Clique!«
»Aus meiner politischen Haltung zu diesem künstlichen, durch Gewalt der Besatzermacht entstandenen Gebilde, dass Sie DDR nennen, habe ich nie ein Hehl gemacht. Ich lehne das durch die Russen als Ergebnis des Zweiten Weltkrieges erzwungene Monstrum DDR entschieden ab. Aber es sind zwei verschiedene Dinge: Eine Haltung, eine andere Meinung zu bestimmten Fragen zu haben und eine andere politische Einstellung als Sie, und, um Ihre Definition zu benutzen, „strafbare Handlungen“ zu begehen. Wobei es für mich keine strafbare Handlung wäre, von einer Stadt in eine andere ziehen zu wollen. Sind Gedanken, geäußerte Wünsche, Lebensvorstellungen in Ihrem Staat auch strafbar?«
Wie soll ich denen beweisen, dass ich keine Fluchtvorbereitungen getroffen habe? Sie wollen, dass es so ist und dann ist es auch so. Absurd. Ich kann gar nichts beweisen und sie glauben sowieso, was sie wollen. Sie haben sich ihr Bild über mich längst gemacht. Alles, was abläuft, ist reine Show, um die Restbestände ihrer kaputten, von absurden Dogmen beherrschten Seelen – sollten sie so etwas überhaupt in sich tragen – zu beruhigen. Die Typen müssen für sich selbst Argumente finden, warum sie sich so menschenverachtend verhalten. Aber vielleicht denke ich auch zu human, zu kompliziert. Sie sind Roboter des menschenunwürdigen Systems, ohne Seele und Verstand. Programmiert von Menschen, die noch primitiver, brutaler, vulgärer, menschenverachtender sind, als sie selbst. Denn die, die mich angaffen, als sei ich von einem anderen Stern, stehen in der Hierarchie des Systems der Staatssicherheit noch ziemlich weit unten.
Nein, es liegt mir nicht, vor diesen unwissenden, armseligen Kreaturen den Märtyrer zu spielen. Wozu noch ein, zwei Jahre länger im Knast sitzen, nur um seine intellektuelle Überlegenheit zu demonstrieren? Stell dich so primitiv, wie sie es sind. Auch keine leichte Aufgabe, aber richtig. Argumentieren bringt nichts. Die sind taub, taub, taub. Es geht schließlich um mein Leben, so pathetisch es klingen mag, um das Wohlergehen meiner Lieben, auch wenn ich mein Leben, realistisch betrachtet, zum größten Teil mit dem heutigen Tag aus der Hand geben muss.
Ich werde nicht kapitulieren.
Nie.
Da ist das Auto. Das habe ich verborgt und das wissen sie. Es gibt Zeugen dafür. Nichts zu machen. Bei den Gesprächen waren Mortz, seine Frau, Karin und ich dabei. Dann der Krug. Drei gegen zwei? Vier gegen einen? Alle an einem Strang. Nein. Varianten über Varianten. Die Flucht. Ist mir nicht zu beweisen, da sie von mir nicht vorbereitet wurde. Aber das Gegenteil kann ich in meiner Position auch nicht nachweisen. Das kann niemand, mal davon abgesehen, dass es sowieso überflüssig ist, da die wollen, dass es so gewesen ist, wie sie sich das in ihren tumben Köpfen zurechtbiegen. Sozialistische Rechtsprechung. Mit welchem Recht nehmen diese Marionetten eigentlich immer das Wort „sozialistisch“ in den Mund? Was bedeutet es eigentlich hier und heute?
Die Machthaber rund um Herrn Hitler und seine Hintermänner erfanden nationalsozialistisch. Was sind wir nun? National ist weg, geblieben sozialistisch. Aus braunen Uniformen wurden graue. Aber es stecken die gleichen Geister darin. Die Farbe des nach außen getragenen Gedankenguts hat sich verändert. Von Braun auf Rot. Deutsch sind sie geblieben. Womit werden sich meine Häscher zufriedengeben? Werden sie über die Fluchtgeschichte hinaus mein Leben durchforschen? Oder haben sie das schon getan? Gibt es einen ganz anderen Grund, mich hierher zu holen, und bildet die dämliche Autogeschichte nur den Vorwand für etwas ganz Anderes? Denn wenn sie sich mehr Mühe mit mir gemacht haben, dann habe ich schlechte Karten. Es gibt eine Menge zu finden ... Daran darf ich gar nicht denken.
Die Kräfte lassen nach, Schweiß bricht wieder aus, mein Herz rast im D-Zug-Tempo. Nur keine Miene verziehen. Nichts anmerken lassen. Äußerlich ruhig und gelassen bleiben. Keinen Angriffspunkt bieten. Nicht den fiesen Arschlöchern. Ja, ihr gottverdammten Arschlöcher! Ich schreie es in mich hinein, immer wieder. Muss mich aufbauen, puschen, Kräfte sammeln, Adrenalin bilden, um nicht völlig zusammenzuklappen. Ihr nicht! Nicht ihr! Meine Wut entspannt mich. Könnte ich doch nur irgendetwas schmeißen, meine Aggressionen loswerden.
»Sie waren doch in der Schule ein ganz brauchbarer Schüler. Sie waren zwar nicht bei den Jungen Pionieren, haben sich aber vom gesellschaftlichen Leben in der Schule nicht ganz ausgeschlossen. Durch ihren Freund Günther kamen Sie sogar zur Gesellschaft für Sport und Technik und waren, wie wir erfahren haben, sogar ein hervorragender Schütze. Sie mieden zwar die FDJ, spielten aber dennoch in einem sozialistischen, politischen Kabarett mit. Aber dann gab es in ihrer Entwicklung plötzlich einen großen Knick. Fast über Nacht sind Sie wie umgewandelt. Wer hat Sie zu einer Antihaltung gegen unser sozialistisches Heimatland gebracht?«
Schau an, sie kennen dein ganzes Leben. Zumindest vieles, oder sagen wir, einiges. Du hättest es wissen müssen, naiver Hund. Oberflächlicher In-Den-Tag-Lebender. Blöder Musiker. Immer helfen wollen, andere informieren. Auflehnen. Nur nicht klein beigeben. Freiheit wollen! Freiheit leben wollen. Ausleben. Heinrich Heine …
An einen Politischen Dichter
Du singst wie einst Tyrtäus sang,
Von Heldenmut beseelet,
Doch hast du schlecht dein Publikum
Und deine Zeit gewählet.
Beifällig horchen sie dir zwar,
Und loben schier begeistert:
Wie edel dein Gedankenflug,
Wie du die Form bemeistert.
Sie pflegen auch beim Glase Wein
Ein Vivat dir zu bringen,
Und manchen Schlachtgesang von dir
Lautbrüllend nachzusingen.
Der Knecht singt gern ein Freiheitslied
Des Abends in der Schenke:
Das fördert die Verdauungskraft
Und würzet die Getränke.
Sie kennen dich. Verflucht. Und du weißt nicht einmal ihren Namen, ihren Dienstgrad. Na ja, das ist auch egal. Aber ich hätte es mir denken können. Gutgläubigkeit hilft einem nicht weiter. Dass sie so zeitig mit dem Filettieren deines Lebens beginnen, deiner Vergangenheit. Dass sie bis in die Schulzeit zurück recherchiert haben. Sie haben dich also schon länger beobachtet.
Naivität gegen kalte Routine.
Es begann mit den Jeans. Damals nannte man sie noch Nietenhosen. Waren herrlich blau und amerikanisch. Symbol der Freiheit. Cowboy sein, durch weite Länder ziehen. Unaufhaltsam. Unverbogen. Eben frei sein. Abenteurer, Nietenhosen. Der Traum jedes Jungen. Und Sexsymbol für die Mädchen. Denn wer eine Nietenhose hat, hat auch Bekannte im Westen und wer Westbekanntschaft oder gar Westverwandtschaft hat, ist ein prima Kerl. So einfach war das Weltbild in den Jahren für Kinder und Jugendliche unseres Alters in dem zu der Zeit noch nicht eingezäunten, komplett verminten Teil Deutschlands.
Die Beinkleider wurden Ende der fünfziger Jahre im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands zu einem Politikum. »Hast wohl 'nen Onkel im Westen? Prima, gib mir mal 'ne Westmark. Will auch eine haben!« Das war das Größte. Leute kennen, die frei sind. Und die konnten einfach so in einen Laden gehen und Jeans kaufen. Und dann in den Osten schicken. Fantastisch!
Nietenhosen waren auf der Oberschule verboten. Aber es hielt sich fast keiner daran. Wer von uns Auserwählten wollte schon auf ein derart wichtiges und elementares Freiheitssymbol verzichten. Wer eine Nietenhose trug und in der Schule auch noch öffentlich zeigte, bewies Mut und war etwas Besseres.
Eines Morgens fand außerhalb der üblichen Zeit ein großer Appell auf dem Schulhof statt. Jede Klasse war in Reih und Glied angetreten – schließlich sind wir ja hervorragend funktionierende Preußen! Vor uns, wie üblich, die gehissten und verhassten Fahnen der FDJ und der DDR und das gesamte Lehrerkollegium. Mit teilweise recht betretenen Mienen.
Der Direktor:
»FDJlerinnen und FDJler! Die Nietenhosen sind der Auswuchs der Unkultur einer absterbenden Klasse. Der Kapitalisten. Und der Kapitalismus ist unser Klassenfeind. Wenn ihr mit Nietenhosen in die Schule kommt, stärkt ihr damit unseren Klassenfeind und stellt euch gegen den ersten deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staat auf deutschem Boden. Außerdem ist die Nietenhose eine Arbeitshose der durch den Kapitalismus unterdrückten Lohnknechte, und sie in der Schule zu tragen widerspricht der Moral und Ethik der Arbeiterklasse. Wer in Zukunft noch mit Nietenhosen in der Schule angetroffen wird, hat mit disziplinarischen Maßnahmen zu rechnen. Die Folgen könnt ihr euch ausmalen!
Damit ist unser Appell beendet. Freundschaft.«
»Freundschaft«, erwiderten die Schüler automatisch und pflichtbewusst. Ärger wollte keiner haben.
Der Klassenfeind hatte zugeschlagen. Hart und erbarmungslos. Er hatte die Nietenhose erfunden. Um die Genossen zu ärgern. Jeans sind zwar ein Bekleidungsstück für die Arbeit, sagte man uns, aber nicht für die Arbeiter. Nur für gepeinigte Lohnknechte im „Kapilismus“, wie es Wilhelm Pieck in Ermangelung besserer Lesekenntnisse oft von sich gab, wenn er ein von seinen Vorschreibern gefertigtes Pamphlet verlesen sollte, was nicht gewisser Komik entbehrte. Die Ausbeuter höchstpersönlich tragen die Hosen blauen Tuches mit den Nieten an den Taschen. Na so was aber auch! Die durch die Kapitalisten ausgebeutete Arbeiterklasse des Westens und erst recht unsere braven Menschen in der ach so freien Ostzone werden durch sie ideologisch verseucht. Das ist Logik.
Die Sache war für uns jedoch bitterer Ernst. Wer nach dem Appell in den Folgetagen und Wochen noch in Nietenhosen angetroffen wurde, bekam erst einmal einen Verweis. Dann, als möglicher Wiederholungstäter, einen zweiten. Und wurde er zum dritten Mal in einer Blauen erwischt, wurde er von der Schule verwiesen. Abitur? Gestorben! Das hieß das Aus. Nie eine Chance auf ein Studium, keine Karriere. Immer vorausgesetzt, man wurde ganz generell für würdig befunden, ein Studium aufnehmen zu dürfen. Das war im Normalfall ausschließlich den Kindern der Arbeiter- und Bauernklasse vorbehalten. Nicht den Bürgerlichen. Kinder von Ärzten, Ingenieuren, Physikern mussten doppelt linientreu sein, betteln, sich prostituieren, damit sie auf die höhere Schule gehen durften. Schizophren. Was also tun? Riskieren, gefeuert zu werden, oder klein beigeben, auf die geliebten Beinkleider, das damals unglaublich aussagekräftige Symbol der Freiheit, verzichten?
Mir fiel etwas Besseres ein. Ich setzte ein Schreiben an das Zentralkomitee der SED auf. Darin erklärte ich den Obergenossen kurz und knapp den Beschluss des Direktors, dass wir keine Nietenhosen tragen dürfen, was ich nicht verstehen würde, da sie für mich das Symbol der Solidarität mit der unterdrückten, kapitalistischen Arbeiterklasse seien, da es ja ihre historisch angestammten Arbeitshosen sind. Und wir Schüler, ich spreche da auch für viele meiner Mitschüler, wollen damit unsere Solidarität für die geknechteten Arbeiter, speziell in Westdeutschland, zum Ausdruck bringen.
Das höfliche und sehr freundliche Schreiben ließ ich von einigen mutigen Mitschülern und auch Ahnungslosen unterschreiben, schickte es frohgemut an das ZK und einen Durchschlag an die Schulleitung.
Schon am nächsten Morgen warteten die Genossen der Kriminalpolizei auf mich, als ich die Schule betrat. Ich wurde zum Direktor beordert, zwei Herren in grauen, glänzenden Plastikanzügen flankierten ihn links und rechts und man klärte, ob ich der Verfasser sei, und scharrte, im übertragenen Sinne, unruhig mit den Hufen. Denn der Brief war, wie ich bestätigte, bereits an das ZK in Ostberlin unterwegs und nicht mehr aufzuhalten.
Es war den Dreien anzusehen, dass sie nicht wussten, wie man sich mir gegenüber verhalten solle. Denn wer weiß, wie die da oben entscheiden würden? War der Direktor mit seiner Maßnahme zu weit vorgeprescht, weil er sich bei den Genossen im Bezirk lieb Kind machen wollte? Würde man „da oben“ vielleicht anders entscheiden, denn schließlich war die Arbeiterklasse im Spiel? Oder hätte er, der Direktor, das Absenden des Briefes verhindern sollen, müssen? Ist seine eigene Karriere damit zu Ende?
Egal.
Die Herren in den glänzenden Grauen verschwanden wieder. Sie hatten ihre sozialistische Pflicht ordnungsgemäß erfüllt. Der Verfasser des Schreibens war nachhaltig identifiziert. Alles andere würde man im ZK entscheiden. Die Arbeiter-und-Bauern-Macht war mal wieder Herr der Lage und der Genosse Schuldirektor hatte sich richtig verhalten, indem er sofort und unverzüglich nach Kenntnis des eigenartigen Schreibens die Organe eingeschaltet hatte.
Antwort bekamen wir nie. Das ZK beliebte zu schweigen. Dafür sprach unser Direktor. Zwei Wochen nach dem Vorfall. Man wolle mein unverschämtes Verhalten vergessen, aber die Hosen müsste ich nun wirklich zu Hause lassen. Nur so hätte ich noch eine kleine Chance, mein Abitur zu machen und das wolle ich ja sicher.
Ein Zwitterergebnis, wie ich damals dachte, dass ihre Unsicherheit zeigte. All die Zusammenhänge, die sich dann Anfang der Siebziger daraus ergeben sollten, begriff ich, 1958, allerdings überhaupt nicht. Der ach so unwichtige und kleine Protest gegen die Macht war ein gefühlsmäßiges Aufbäumen gewesen. Nicht mehr und nicht weniger.
Was ich schon gar nicht wissen konnte: Es war der Beginn meiner Akte beim Staatssicherheitsdienst. Von diesem Zeitpunkt an hatte man so gut wie jeden Schritt des Isleib in Protokollen festgehalten.
Dreißig Stunden sitze ich nun schon in dem düsteren Raum; das erste Verhör ist noch immer nicht beendet. Oberflächlich wandern die drei Verhörer durch mein Leben. Streifen dies und das, erinnern mich an längst Vergessenes, Unwichtiges, für sie Wichtiges. Das wird sich im Laufe der Monate noch häufig wiederholen. Im Augenblick macht es mich nervös, denn ich ahne noch nicht, wonach sie suchen, worauf sie eigentlich hinauswollen. Was suchen sie? Was haben sie gegen mich in der Hand? Fakten können oder wollen sie nicht vorlegen. Aber im Augenblick habe ich keine Kraft mehr, all das zu analysieren, was sie mir skizzenhaft an den Kopf werfen. Wie in Trance gebe ich stereotype, nichtssagende Antworten, aber es könnte auch sein, dass ich den einen oder anderen ihrer Vorwürfe indirekt bestätige. Mich damit belaste. In ihren Augen. In ihrer kranken Vorstellung von Recht.
Mich streift der wenig einfallsreiche Witz, was denn DDR heiße: Der Dumme Rest. Darüber kann ich nicht mal mehr lächeln, so ausgepowert bin ich. Ich habe nur noch den einen Wunsch: Ich möchte schlafen. Ruhe haben. Der Himmel trübt sich bereits zum zweiten Mal ein; die Stadt lebt, zögerlich, wie immer; ein wenig Verkehrslärm dringt durch die Gitterstäbe, die die großen Fenster des Zimmers bewachen. Oder beschützen sie doch meine Bewacher?
Sie geben mir eine Mehlsuppe. Und zwei Schnitten mit Quark. Sie wissen, dass ich magenkrank bin. Sie locken mit Humanität.
Ich muss pinkeln. Dringend. Seit Stunden. Über Telefon ruft der Dicke Uniformen. Es klopft. Zwei Uniformen mit Maschinenpistolen stehen in der Doppeltür, nehmen mich in ihre Mitte und los geht's zum Klo. Da stehen sie nun, links und rechts neben mir, die Maschinenpistolen im Anschlag und starren auf meinen Schwanz. Wie soll der Mensch da pinkeln können! Minuten vergehen, meine Beine zittern, Schweiß bricht aus, aber nichts geht. Kein Tropfen. Sie werden unruhig. Kommen sich verarscht vor. Endlich, die ersten, zaghaften Tröpfchen, eine einzige Quälerei. Wenn ich nur nicht so fertig wäre. Die Krankheit, die mich physisch ausgemergelt hat. Die Ungewissheit. Was ist mit meiner Frau, was mit Lena? Verhör. Scheiße! Reiß dich doch zusammen. Waschlappen. Konntest die paar Schritte laufen, bist nicht zusammengebrochen. Hast jetzt, endlich, gepinkelt, bist erleichtert. Ein schönes Gefühl, so entleert zu sein. Ach, wie ich es genieße.
Die Uniformen, froh, dass ich sie nicht doch verscheißert habe, bringen mich zurück. Von meinem Triumvirat in der Sechzehn ist nur der kleine Dicke zurückgeblieben. Die anderen scheinen schlafen gegangen zu sein. Ach die Armen, ich könnte sie fast bedauern. Mussten so lange durchhalten. Wie viel Zeit ist seit meiner Ankunft in der Gemüse OHG vergangen? Ich kann es nur schätzen. Es wird langsam wieder heller. Fast 48 Stunden, seit sie mich unsanft im Schlaf störten und mitnahmen. Was für einen aufreibenden Job sie doch für das Vaterland erledigen! Quälen sich mit einem matten Musiker. Mein Mitleid mit ihnen steigert sich ins Unermessliche.
Der kleine Feiste, dicke Tränensäcke und blauschwarze Ringe unter den Augen, die Zigarette im rechten Mundwinkel, schreibt und schreibt und schreibt. Stundenlang gräbt er seine Stupsnase ins Papier, die Zunge züngelt unaufhörlich, wenn sie nicht durch die Zigaretten, die er sich immer wieder zwischenzeitlich nervös in die Visage schiebt, daran gehindert wird. Hin und wieder blickt er auf, durchbohrt mich mit seinen kleinen Schweinsäugelein, fies und hinterhältig. Macht zeigen wollend. Erbärmlich. Jetzt steht er wortlos auf, kommt mit seinen kurzen, schnellen Trippelschrittchen auf mich zu und gibt mir die Blätter. Ein handgeschriebenes Protokoll. Eine winzig kleine, kaum lesbare Schrift. Eng. So wie seine Gedanken. Stark nach rechts gekippt, große Überlängen nach oben und nach unten; eckig, hart, überheblich und unausgeschrieben, unausgewogen. Unangenehm, unintelligent. Primitiv. Kleinlich. So ungefähr hatte ich sie mir vorgestellt. Ein Spiegelbild seiner Fratze. Der hat was zu verbergen, ist maßlos überheblich, überschätzt sich. Gut für mich.
Aber: Er hat auch Durchhaltevermögen. Und ist geschult. Von den Schlimmsten der Schlimmen. Wir werden sehen, wer hier wen killt …
Vieles von dem Gekrakel kann ich beim besten Willen nicht entziffern, muss fragen und fragen. Dann kommt er mit einem überheblichen Grinsen gewichtig angetrippelt und hilft mir. Sein Atem stinkt nach kaltem Rauch, übler Mundgeruch entweicht ihm und lässt mich fast in Ohnmacht fallen. Die Formulierungen sind ungeheuerlich. Worte, die ich nie benutzen würde. Schachtelsätze, die mir immer ein Rätsel bleiben werden. Das soll ich gesagt haben? Und das Pamphlet soll ich unterschreiben? Klar, er ist der Chef im Ring. Ich habe keine guten Karten. Das weiß ich. Aber auch er wird im hierarchischen System des Staatssicherheitsdienstes einen Chef haben. Und der wieder einen. Und so weiter. Bis hin zum anderen, gefühlten Fast-Analphabeten Mielke. Also ist Schweinchen Dick gezwungen, gute Arbeit abzuliefern. Sonst wird er nie befördert, bekommt stets und ständig Ärger. Ist nun mal so. Wie kann ich dem armen Jungen nur behilflich sein?
Das Protokoll werde ich nie und nimmer akzeptieren und sage voller Zorn: »Ich unterschreibe den Mist nicht. Basta!«
Ungläubig schaut er mich an: »Das nützt Ihnen nichts, Herr Isleib. Sie können an Ihrer Situation nichts mehr ändern. Sie kommen hier nicht mehr raus.«
Sein gekünsteltes Lächeln gerät zu einer fiesen Grimasse. »Also unterschreiben Sie dementsprechend.«
Ganz freundlich, mit leiser Stimme kam das in meiner Ecke an. Seine Logik. Ich komme hier nicht mehr raus – welche Neuigkeit für mich! –, ergo kann ich auch jeden Mist unterschreiben. Ebenso freundlich und leise antworte ich ihm: »Ich werde gar nichts unterschreiben. Jetzt nicht, morgen nicht, nie! Nur meinen Entlassungsschein in den Westen. Falls das notwendig sein sollte.«
Jetzt ist er mit seiner Beherrschung am Ende. Greift zu einem der roten, eisernen Stühle und schmeißt ihn in meine Richtung. Sehr kräftig. Er knallt, da ich noch die Geistesgegenwart und Kraft habe, mich von meinem Hocker zu Boden fallen zu lassen, an die Tür. Sekunden später ist das Zimmer voller Uniformen. Maschinenpistolen im Anschlag. Wie peinlich! So lässt sich doch ein guter Kommunist nicht gehen. Nicht dann, wenn Zeugen auftauchen können. Er beruhigt die Uniformen, die mich hasserfüllt anstarren, geht, die Hände in den Taschen seiner Anzughose verbergend, nervös auf und ab. Meine Unterschrift muss demnach wichtig sein. Ich kann nur instinktiv handeln.
Routine versus gesunden Menschenverstand.
»Sie werden unterschreiben!«, brüllt er mit hochrotem Kopf. Äderchen türmen sich an den Schläfen. Stunden mühseliger Arbeit – das Schreiben fiel ihm schwer! – waren umsonst. »Sie werden kriechen vor uns, Sie mieses, widerliches, kleinbürgerliches, arrogantes Schwein! Sie werden alles unterschreiben! Soll ich Ihnen etwas sagen, Isleib? Wir werden Ihre Mutter holen. Jawohl! Ihre Mutter. Wir werden sie auch einsperren. Und Sie sind schuld! Und wir werden Ihre Freundin holen. Die, die Sie immer vögeln, obwohl Sie verheiratet sind. Und Ihre Freunde. Verlassen Sie sich drauf. Wir holen alle, alle, alle! Sie werden unterschreiben, da gebe ich Ihnen Brief und Siegel!«
Wen sie holen wollen, den holen sie auch. Da fragen sie mich nicht. Niemand wird gefragt. Auch ohne Unterschrift unter das Protokoll. Aber inwieweit gefährde ich wirklich meine Freunde da draußen? Spielt er, meint er es ernst, blufft er? Wie weit geht seine Macht?
Das ist jetzt die entscheidende Machtprobe. Das begreife ich, trotz meiner Müdigkeit, trotz der seelischen und körperlichen Schmerzen. Jetzt darf ich mich nicht der Lächerlichkeit preisgeben. Darf dem keine Blöße zeigen. Muss richtig handeln. Die Weichen für die nächste Zeit werden in diesen Minuten gestellt. Auf beiden Seiten. Ich lege den Kugelschreiber zurück, nehme die sechs Seiten Protokoll und zerreiße sie. Einmal durch, ein zweites Mal, noch einmal. Das Häufchen lege ich auf die Tischkante, neben den Kugelschreiber.
Fassungslos, kreidebleich im Gesicht, nur das Mahlen der Wangenknochen zeigt seine Erregtheit, greift er zum Telefon und ruft mit einem geheimnisvoll klingenden Code seine verschlafenen Kollegen zurück ins Büro.
Das Spiel kann beginnen.
Die Karten werden neu gemischt. Das Ungleichgewicht von Stunde zu Stunde größer. Jetzt wird es ernst, bitterer Ernst. Bis zu welchem Ende?
Wann haben Sie das Auto verborgt? Welche Uhrzeit war das? Wer war bei den Gesprächen noch dabei? Hat es geregnet an dem Abend? Haben Sie den Wagen anschließend gleich in die Garage gefahren oder nicht? Mit wem haben Sie über die Flucht geredet? Leugnen Sie nicht! Wir wissen, dass die Fluchthelfer schon bereitstanden …
Der Himmel wurde nun zum zweiten Mal in morgendliches, kaltes Grau getaucht. Der kahle, große Baum vor dem Gitterfenster beendet seinen nächtlichen Schlaf. Ich sitze apathisch auf meinem Hocker. Schmerzen fühle ich nicht mehr. Manchmal höre ich die Kerle nicht einmal mehr brüllen. Sie versuchen es immer abwechselnd, mich zum Unterschreiben zu zwingen, nachdem der Dicke den ganzen Ramsch noch einmal schreiben musste, den ich kaum entziffern konnte. Gereizt, übermüdet auch sie. Die Köpfe müssen schmerzen – zu viele Zigaretten. Der Kaffee. Schlechter Zonenkaffee. Kann man riechen. Und noch immer schreibt der Kleine verbissen an seinem Protokoll. Wieder versinkt sein Gesicht über den Blättern Papier und seine Zunge kreist im Rhythmus des Kugelschreibers. Stockend, immer wieder am Kuli nuckelnd, füllt er Blatt um Blatt mit dem, was er für die Wahrheit hält. Seine Wahrheit.
»So, Isleib, sind Sie jetzt mit den Formulierungen einverstanden? Habe ich Ihre Sprache jetzt besser getroffen?«
»Ob irgendetwas stimmt oder nicht, ist doch völlig unwichtig. Sie brauchen es nicht noch einmal zu versuchen, mir ein Protokoll vorzulegen. Ich unterschreibe nicht.«
Schweigend verlässt er den Raum. Hat er aufgegeben? Warum, verdammt, ist meine Unterschrift so wichtig? Muss er seinen Boss fragen? Ist der jetzt schon in seiner sozialistischen Bürokratenhölle? Hatten sie den Fall noch nicht, dass einer die Protokolle nicht unterschreiben will? Er reagiert total verstört. Also ist was faul. Aber was? Ich bin so müde, ausgelaugt, fertig.
Mittwoch. Vormittag. Seit über achtundvierzig Stunden bin ich nicht mehr ich. Mein Eigenleben, meine Selbstbestimmung – dahin. Gibt es nicht mehr. Null. Ich stehe außerhalb der Ereignisse. Nein, das stimmt so nicht. Ich stehe im Mittelpunkt, aber ohne die Möglichkeit, eine freie, eigene Entscheidung treffen zu können. Ein Zustand, den ich noch nicht kannte. Was erwartet mich? Wie wird es weitergehen?
Ich kann nicht mehr denken.
»Kommen Sie!«
Zwei Uniformen. Offiziere. Nur Offiziere. Jetzt, im Moment des Befehls, fällt es mir auf. Dann nehme ich das Geräusch eines fallenden Gegenstandes wahr. Peripher. Das bin ich. Komisch. Ich registriere den Vorgang des Umfallens eines Körpers, der durch das Gesetz der Schwerkraft bestimmt wird, wie ein Außenstehender. Mein Körper gehorcht mir nicht mehr. Als ich aufwache, blicke ich in Mützen. Silbern betresste Mützen. Darunter Gesichter, schlecht riechend mit sturem Ausdruck.
»Kommen Sie jetzt!«
Klingt fast freundlich. Eine menschliche Rührung? Ich weiß nicht, wie lange ich ohnmächtig gewesen bin, aber ich kann wieder stehen, kann gehen.
Ein langer, hoher Flur. Hellgrün und weiß gestrichen. Mit Läufern ausgelegt. Rechts Türen. Doppeltüren. An ihnen hängen runde, farbige Marken. Links stehen Schränke, Panzerschränke. An der Stirnseite des zirka dreißig Meter langen Flures ein großes, vergittertes, ungeputztes Fenster. Unter dem hoch angelegten Fenster zwei Fotos. Links Erich Honecker, der Boss, rechts Erich Mielke, der Vereinschef. Welch ein Anblick! Hinter dem Fenster ein ebenfalls kahler Baum. Immerhin ein Stück Natur!
Eine Eisentür.
»Gesicht zur Wand!«
Schließen. Durchgehen.
»Gesicht zur Wand!«
Schließen. Zweite Tür, vergittert. Durchgehen.
Ich bin im Gefangenenflügel. Noch immer Teppiche auf dem Boden. Stufen abwärts. Noch eine Treppe, schmale, düstere, fensterlose Gänge. Kein Bild mehr. Dafür zu beiden Seiten dicke, dreckig-graue Eichentüren mit riesigen Stahlbeschlägen und kleinen Klappen in der Mitte. Und weiter oben an den Türen kleine, runde Blechscheiben. Noch weiß ich nicht, dass sie Spione heißen, durch die die Gefangenen ständig und fast unmerklich beobachtet werden. Vierundzwanzig Stunden. Tag für Tag, Nacht für Nacht. Das hatte mich bisher noch nicht interessiert.
Ein schmaler Raum, zwei neue Uniformen in Silber und Weiß.
»Ausziehen. Ganz!«
Man betrachtet mich von Kopf bis Fuß. Wie ein Stück Vieh. Man gibt mir volkseigene Wäsche.
»Zum Drunterziehen!«, raunzt mich die eine Uniform an.
Hart, unförmig und stinkend. Nach Desinfektionsmittel. Meinen Jeansanzug kann ich wieder anziehen. Darüber bin ich sehr froh. Melancholie. Ein Stück Erinnerung. Ein Stück Leben, ein Stück Musik, denn ich trug ihn am Wochenende, als wir unsere – letzten? – Konzerte gaben …
»Sie werden vermutlich einige Zeit bei uns bleiben«, sagt die Uniform in der Kleiderkammer mit lässiger Stimme. »Führen Sie sich mal gut, sonst kriegen 'Se Ärger. Lesen 'Se sich das mal hier durch. Muss sein.«
Verwahrungsordnung für Untersuchungshäftlinge des Staatssicherheitsdienstes der DDR:
Ich darf nicht an Wände klopfen, ich darf nicht singen, ich darf nicht pfeifen, ich darf nicht brüllen, ich darf keine Verbindung mit anderen Personen aufnehmen, ich darf nicht onanieren, ich darf tagsüber nicht im Bett liegen.
Ich darf nicht ich sein. Ich muss mich widerstandslos den Anordnungen des Personals fügen.
Wie benommen folge ich erneut den Uniformen über Gänge und Treppen. Überall liegen Teppiche, nur das Knarren der Dielen ist ab und an zu hören. Verdammt feiner Laden! Muss ich schon sagen!
»Stehenbleiben. Gesicht zur Wand!«
Schlüsselklappern. Ratsch, ratsch. Zwei Riegel knallen dumpf zur Seite. Eine Zelle.
Meine Zelle.
Meine Zelle!
Ich spüre einen fürchterlichen Druck auf meiner Stirn, mein Kopf droht nun endgültig zu zerplatzen. Die ganze Machtlosigkeit, das Ausgeliefertsein steigt in mir hoch. Schweiß bricht aus. Der Atem wird kurz, fliehend. Zwei graue Decken werden mir nachgereicht, die Riegel schnarren nun noch dumpfer. Unheimlich. Grausam. Endgültig.
Schlüsselgeklapper.
Dann Stille.
Ich bin allein.
Das ist nicht richtig. Ich bin nicht allein – ich bin einsam. Eine Einsamkeit, wie ich sie noch nicht kannte. Eine Einsamkeit, die sich mit keiner anderen Einsamkeit vergleichen lässt. Denn sie ist nicht freiwillig gewählt. Durch diese Mauern dringen nicht einmal mehr Gedanken bis zu mir vor. Den Eindruck habe ich. Er stellte sich in der Sekunde ein, als die Riegel in die Armierungen in der Wand schlugen. Außen. Außerhalb meiner Einflussnahme. Ich habe nur noch mich. Bin auf mich gestellt, allein auf mich. Ein Häufchen Elend – nicht mehr! Ein Nichts!
Und diese Zelle. Im Sozialismus „Verwahrraum“ genannt. In mir steigt etwas auf, was ich noch nicht verarbeiten kann. Ein unendlich schwer beschreibbares Gefühl der Machtlosigkeit. Gelebt werden. Was heißt das? Was wird es für mich bedeuten? Keine Entscheidung, die ich treffen kann, und sei sie noch so klein und unwichtig. Gelebt werden. Ohne sich eines Unrechts schuldig gemacht zu haben, gelebt, bestimmt werden. Wie sehr braucht man als Mensch den Menschen? Einen Menschen. Wenigstens einen. Doch mit wem kann ich jetzt meine Gedanken tauschen? Visionen, schreckliche Visionen drängen sich in mein Hirn. Mein Körper wird sich nun von seiner Seele trennen müssen. Mein Körper ist gefangen. Die Gedanken können den Mauern entweichen. Können fliehen. Noch.
Und sperrt man mich ein
im finsteren Kerker,
das alles sind rein
vergebliche Werke;
denn meine Gedanken
zerreißen die Schranken
und Mauern entzwei:
Die Gedanken sind frei.
Mir fällt die vertonte Fassung von Gustav Mahler ein. Ich summe still in mich hinein. Die Gedanken sind frei. Ein Hohn! Wie kann ich Körper und Seele trennen? Empfindungen, Freude, Schmerz, Glut, Wachsamkeit, Liebe, Zärtlichkeit. Auf all das werde ich verzichten müssen. Muss meine Seele fortschicken, damit wenigstens sie überlebt. Geht das überhaupt? Körper und Seele bilden eine Einheit. Eines kann ohne das andere nicht leben. Beide Teile leiden unter einer Trennung, zerreißen uns. Wie kann ich das verkraften? Bin ich vielleicht schon tot? Sind das alles Fantasien meiner toten Seele? Ist das mein zweites Leben? Habe ich das verdient, schon jetzt, einfach weg? Ist das der Tod?
Ich friere, zittere und weine. Spüre Tränen über meine Wangen laufen. Sie erreichen die Mundwinkel, warm und salzig. Nur lebende Wesen können weinen. Nur fühlende Wesen können das Salz des Schmerzes kosten. Was ist geschehen?
Wie elend ich mich fühle. Unsagbar müde und schwach. Könnte ich doch blind sein! Muss ich die Zelle auch noch sehen!? Bis zur Kopfhöhe grüne Ölfarbe. Dreckig. Dann – einst – weißer Kalk, auch die Decke. Dreckig. Ein vierbeiniger Holzhocker, braun. Ein kleiner Tisch, Kunststoffplatte, braun. Ein Waschbecken, klein und dreckig. Ein Klo. Es stinkt. Die ganze Zelle stinkt. Bald werde auch ich so stinken.
Nach Zelle stinken.
Nach Gefängnis.
Nach Stasi.
Wie riecht Gefängnis? Wie riecht eine Zelle? Muffig. Nach kaltem Schweiß, Rauch, der sich im Laufe der Jahrzehnte in die Wände, in das Holz des kurzen, schmalen Bettes geätzt hat. Nach schlechtem Essen, nach Urin, Kot, nach Chlor, nach Furcht, nach Bohnerwachs, nach Zelle. Furcht, ja.
Die Holzpritsche, von der Tür aus betrachtet an der linken Wand der Zelle stehend, ist zu kurz für mich. Höchstens Einssiebzig und an den Stirnseiten durch ein hohes Brett begrenzt. Da fehlen zehn Zentimeter. Das heißt immer krumm liegen. Aber nicht krumm werden. Folter?
Eine Eintragung, eingeritzt, am Kopfende:
Otto Pranger wegen Weiber 5. April bis 20. Juli 1908.
Die Zelle hat kein Fenster.
Die Zelle hat kein Fenster!
Zwei Reihen Glasbausteine. Milchig. Da, wo früher mal ein Fenster war. Die Gitter davor kann man nur ahnen. Das ist die neue Humanität. Zwischen den beiden Reihen der Glasbausteine ein Luftschacht. Fünf Zentimeter breit. Wie soll da Luft reinkommen? Und Licht? Über der Tür eine Neonröhre, mit einem Stahlgitter gesichert. Der Schalter entzieht sich meinem Einflussbereich. Soll eine Neonröhre meine Sonne sein?
Luft holen. Richtig tief Luft holen. Es geht nicht. Ist das Einbildung, ist es die Angst, die mich in einer eisernen Zange hält? Bin ich so ein Waschlappen, dass ich nicht einmal mehr richtig Luft holen kann? Ich stehe vor dem Lichtschacht und schlage mir an der hässlichen, harten, stinkenden grünen Wand die Knöchel wund. Ich will den Schmerz spüren, will mich ablenken. Ja, ja, blutet nur, ihr unbrauchbaren Hände! Ich lebe. Hurra. Meine Knöchel bluten, sie schmerzen. Wie mein Herz. Wie mein Rücken. Wie meine Seele. Ich werde mich jetzt hinlegen. Ist mir egal, ob das am Tage verboten ist oder nicht. Ich muss schlafen, abschalten, an nichts mehr denken. Nicht an Karin, nicht an Lena. Nicht an die Mutter, die Freunde, die Freiheit.
Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit. Schlafen.
Wie oft habe ich eigentlich bewusst etwas über Zellen gelesen? Victor Hugo, Tolstoi, Isaac Babel. Vier Schritte hin, vier Schritte zurück. Wie wenig man sich davon vorstellen kann. Zeilen, harmlos auf Papier gebracht. Wie wenig hat mich das bedrückt, berührt, physisch angefressen! Das waren „nur“ Bücher. Zerkleinertes Holz, bearbeitet, gepresst, bedruckt. Wie oberflächlich habe ich über Schicksale anderer Menschen nachgedacht. Warum habe ich nie Schmerz empfunden, wenn ich über Gefangenschaft gelesen habe. Warum hat mich die Beschreibung einer Zelle nie bedrückt? Bin ich abgestumpft, oberflächlich? Liegt es daran, dass im allgemeinen Verbrecher, also Mörder, Diebe oder Vergewaltiger in Zellen leben? Empfinde ich mehr Schmerz, weil ich kein Verbrechen begangen habe? Weil sie mich „nur so“, wegen meiner Geisteshaltung, meiner für mich einzig möglichen Auslegung von Freisein, Freiheit, Menschenwürde abgeholt haben und nun einsperren?
Keine Türklinke.
Kein Entweichen.
Gelebt werden.
Die Macht der Machtlosen spüren. Ohn-Macht. Ohne Macht.
Nur noch ein liebes Wort. Jetzt. Ein Streicheln der Liebsten, ein zärtlicher Kuss. Nur das. Bitte. Es würde mich glücklich machen. Warum darf ich nicht mehr glücklich sein?
An nichts denken. Einfach einschlafen.
Der Körper ist für sich allein nichts. Es ist unsere Seele, die Leiden erfasst und unser Dasein unerträglich macht. Spinoza sagt: Je mehr Vollkommenheit ein Ding hat, desto mehr tätig und desto weniger leidend ist es, und umgekehrt, je mehr ein Ding tätig ist, desto vollkommener ist es. Ich leide. Also bin ich unvollkommen. Ist der Mensch so abhängig, so unvollkommen? Ich war tätig. Und ich werde wieder tätig sein. Und ich habe gelitten, als ich tätig war. Doch es waren andere Schmerzen.
Wenn wir Solschenizyn gelesen haben, kamen Kraft und Bedrückung zugleich in uns auf. Ja, so ist es! Der spricht dir aus der Seele! Für meinen Freund in Hamburg war das nur ein Roman. Ein gar schrecklicher und unappetitlicher zwar, aber eben ein Roman. Eine Story, grausam, ja, aber eben eine Story. Ohne direkten Bezug zum Leben in Hamburg, zum Vorstellbaren. Eine andere, teilweise interessante, den Nerv kitzelnde und, das schon, sehr traurige Welt für einen Jetsetter.