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ОглавлениеKapitel drei
Die Lepidstadtnarbe
Als ich meine Hand ausstreckte, um der Herrin Tara in die Kutsche zu helfen, ging ihr Begleiter so abrupt dazwischen, dass ich mich genötigt sah, einen Schritt zurückzutreten, um nicht seine Schulter in meine Brust gerammt zu bekommen. Meine Bekanntschaft mit Kasomir Galdana war weniger als eine Stunde alt, doch ich bereute bereits mein Versprechen, ihn heimzubegleiten.
Durch jemandem aus ihrem weitreichenden Netzwerk von Bewunderern, Rivalen und Speichelleckern hatte Carmilla von Deinem Vorhaben erfahren, das Anwesen Graf Lucinean Galdanas zu besuchen in der Hoffnung, Zutritt zu seiner Familienbibliothek zu erhalten. Ich hatte zunächst Bedenken, dass ein Herrscher von Ustalav seine privaten Besitztümer einem Kundschafter gegenüber öffnet, doch hätte ich nicht überrascht sein dürfen zu erfahren, dass Deine Überredungskünste der Eloquenz Deiner schriftlichen Berichte gleichkommen. Carmilla hörte außerdem, Du hättest Galdana genügend beeindruckt, sodass Du im vergangenen Frühling mehrere Tage auf seinem Anwesen bei Weidenweh verbringen konntest. Und es ist in der Tat wahr, dass die Abneigung gegenüber unserer Gesellschaft nicht notwendigerweise von allen Adligen in Ustalav geteilt wird.
Den derzeitigen Grafen Galdana habe ich nie kennengelernt, doch bei seinem Vorgänger erinnere ich mich an ein fröhliches Gemüt und eine Neigung zu deftigem Humor und Prahlereien über jüngste Jagdausflüge. Die Gerüchte, die ich seit meiner Ankunft zusammentragen konnte, sprachen von dem jetzigen Grafen von Amaans als einem begeisterten Jägersmann, der so häufig im Feld war, dass die Adligen von Caliphas es mehr gewohnt waren, einen seiner näheren Verwandten zu empfangen – dieses Mal Kasomir, den Sohn seiner Schwester. Als Gegenleistung für ihre Informationen bat Carmilla mich lediglich darum, Kasomir und seine Base, Tara, nach Weidenweh zu begleiten.
Es entging meiner Aufmerksamkeit nicht, dass Carmillas Bitte sich perfekt mit meinen eigenen Plänen deckte. Noch bin ich taub gegenüber dem Gemunkel über ihr Verlangen, die Stellung des Hauses Ordranto zu unterlaufen. Sicherlich hätte Kasomir eigene Wachen und eine eigene Kutsche anheuern können, doch Carmilla bestand darauf, dass wir die Vorzüge meines Gefährts teilen sollten. Dies würde einen vorteilhaften Eindruck machen, der mir sehr dabei helfen könnte, Zugang zur Familienbibliothek der Galdanas zu erhalten. Unter anderen Umständen hätte ich gezögert, bevor ich es zugelassen hätte, mich auf derartige Weise manipulieren zu lassen, doch als ich die Wahrscheinlichkeit, dass Carmilla meinen Besuch ausnutzte um einen Verdacht auf Graf Galdana fallen zu lassen, gegen die Aussicht abwog, Dich zu finden, war es meines Erachtens nach diesen Preis wert.
Kasomir Galdana war das Sinnbild eines ustalavischen Adligen. Von schlankem Körperbau und hageren Wangen, zeigte sich bereits nach der Mittagsstunde der Schatten eines dunklen Bartes, obwohl sein Haupthaar bleich wie Stroh im Winter war. Ich sah das Rapier an seiner Hüfte und, unter seinem linken Auge, eine Narbe, deren Form mir bekannt vorkam. Da sein Onkel, der Graf, keine Nachkommen hatte, hatte er ihn adoptiert, eine Geste, die unter ustalavischen Adligen nicht ungewöhnlich war, insbesondere zwischen Onkeln und Neffen. Als Gegenleistung für diese Ehre nahm sich Kasomir jener Pflichten an, die der Graf nicht persönlich wahrzunehmen wünschte, wie zum Beispiel die Base aus Caliphas abzuholen.
Kasomirs Base Tara war kürzlich aus Vudra zurückgekehrt, wo ihr Vater bis zu seinem Ruhestand vor einem Jahrzehnt als ustalavischer Botschafter gedient hatte. Während er seine verbleibenden Tage in dem milden Klima des Heimatlandes seiner Frau zu verbringen gedachte, wünschte er, dass seine Tochter, wenn sie volljährig würde, die Kultur seiner Heimat kennenlernte. Ich vermutete zudem, er hoffte, ihr Aufenthalt in der Gesellschaft von Ustalav könne zu einer zufälligen Heirat führen.
Tara besitzt die Art von Schönheit, wie sie jenen einer gemischten Herkunft zu Eigen ist, wenn Du mir eine solch eigennützige Ansicht verzeihst. Ihre Hautfarbe ist die von zerstoßenem Zimt, und ihre Augen sind so schwarz, dass man genau hinsehen muss, um festzustellen, dass sie keine Belladonna zu sich genommen hat, die ihre Pupillen weitet. Dennoch fügt sich zu dieser vudranischen Erscheinung eine Adlernase hinzu, wie sie unter den Varisiern von Ustalav verbreitet ist, und ihr Haar spiegelt eher den Glanz gesponnenen Kupfers wider als den irdenen Ton von Henna.
Leider hat die junge Frau seit unserem Kennenlernen weniger als zwei Dutzend Wörter gesprochen, allesamt eingeübte Höflichkeitsfloskeln. Ich nehme an, dass das Herbstwetter ihrer Konstitution nicht zusagt, oder vielleicht hat sie sich noch nicht an die hiesige Küche gewöhnt. Möglicherweise hatte sie zu sehr vom Wein des Prinzen gekostet und ertrug nun dieselben Nachwirkungen, unter denen auch ich derzeit litt. Was auch immer der Grund sein mochte, so erregte ihre zarte Konstitution zumindest keinen Anstoß, im Gegensatz zu Kasomirs übertriebener Schutzhaltung gegenüber seiner Base.
Kasomir hätte meine Anwesenheit mehr zu schätzen wissen sollen, denn ohne sie hätte er vermutlich unter mehr als nur einer Schulter in seiner Brust gelitten. Als ein zweiter Blick auf Radovan ihm die durch die Hölle geprägte Herkunft meines Leibwächters bestätigte, kamen Kasomirs ungehobelte Fragen über dessen Abstammung einer Beleidigung gleich. Radovan verstand mehr Varisisch, als ich vermutete, doch zum Glück waren seine Antworten höflich, wenn auch nicht unterwürfig genug um Kasomirs Übellaunigkeit zu beschwichtigen. Ich wünschte, Radovan würde seine Bemühungen verdoppeln, die hiesige Sprache zu lernen, da weniger Einwohner Ustalavs Taldani verstehen werden, je weiter wir uns von Caliphas entfernen.
Es kam noch zu einem erwähnenswerten unglücklichen Ereignis bevor wir die Stadt verließen. Nicola hatte sich zuvor für die Verzögerung bei der Beschaffung der Vorräte entschuldigt, doch dies blieb ohne Konsequenzen, da ich unsere Abreise um einen Tag verschoben hatte, um Kasomir und Tara Gelegenheit zu geben, ihre hiesigen Pflichten zu erledigen. Dennoch irrlichterte Nicola umher, und ganz unverkennbar lächelte Radovan belustigt, als er die Gemütserregung meines Dieners bemerkte. Als ich beobachtete, wie Nicola ständig nach der neuen Geldbörse griff, verstand ich, was vorgefallen sein musste.
Ich rief Radovan unter dem Vorwand zu mir, die sechs Wachleute in Augenschein zu nehmen, die er ausgesucht hatte. Es war ein rauer Haufen, doch ausgehend von den Amputierten und Trunkenbolden, die am Mietstand herumgelungert hatten, hatte Radovan die fähigsten ausgewählt. Nur zwei zeigten militärische Disziplin, und einer trug einen hohen Kragen, der nicht ganz eine üble Narbe verbarg, die der Strick zurückgelassen hatte.
„Wie viele Sträflinge?“, fragte ich Radovan.
Sein Kinn sprang in jenem halbseitigen Lächeln hervor, das mir sagt, dass er meine erste Frage vorausgesehen hatte. „Nur einer“, gab er zurück. „Die Frage ist, welcher?“
Dass er diese Frage stellte, bedeutete, dass die Antwort nicht offensichtlich war, es sei denn, er versuchte, mich zu täuschen. Radovan genießt solche Irreführungen, eine Eigenschaft, die ich wesentlich mehr schätze, wenn sie zu meinem Vorteil anstatt auf meine Kosten eingesetzt wird. Diese List hätte mich irritieren sollen, doch es fällt mir schwer, einem Rätsel, selbst einem einfachen, zu widerstehen.
Daher ließ ich den Gehängten außer Acht, dessen Name, wie Radovan mir sagte, Kostin war. Die beiden, in denen ich die ehemaligen Soldaten erkannt hatte, hießen Anton und Dimitru. Sie saßen auf einer niedrigen Mauer nahe der Ställe, blickten uns zwar nicht direkt an, doch offensichtlich lauschten sie unserer Konversation und waren jederzeit bereit, sich auf einen Befehl hin in Bewegung zu setzen. Luka, ein schlanker Bursche mit einer Verbrennungsnarbe auf dem Rücken einer seiner Hände, inspizierte die Reitpferde, bevor er schließlich für sich eine graue Stute sattelte. Kostin stand mit einem Fuß gegen die Wand gelehnt und beugte sich zu dem einäugigen Emil vor. Sie teilten sich eine Pfeife, die so geschnitzt war, dass sie einem schlafenden Bären ähnelte, doch ihrer angestrengten Lässigkeit zum Trotz wanderten ihre Augen ständig zu den verhangenen Fenstern der roten Kutsche, in der sie zuletzt die schöne Tara hatten verschwinden sehen. Dem Letzten, einem langhaarigen Jüngling namens Grigor, fehlte an einer Hand der kleine Finger. Schon zum dritten Mal seit unserer Ankunft blickte er hinunter auf seine Armbrust.
Ich wies auf den dritten Mann.
„Klar, Luka“, sagte Radovan nüchtern. „Aber was hat er verbrochen?“
„Pferdediebstahl“, sagte ich. „Er kennt die Tiere gut, und die traditionelle Bestrafung in Ustalav für Diebstahl ist das Brandmarken des Handrückens.“
Radovan nickt anerkennend. Es war keine besonders scharfsinnige Schlussfolgerung, doch ich gab ihr mit genügend Selbstbewusstsein Ausdruck, dass er beeindruckt war.
„Daraus kannst du eine Lehre ziehen“, sagte ich. „Solch ein Brandmal würde dich daran hindern, dich in bestimmten Kreisen zu bewegen.“
Gewöhnlich gibt Radovan nur wenig preis, doch ich bemerkte, wie er leicht den Unterkiefer anspannte. Er nickte, sagte jedoch nichts. Es gab Zeiten, in denen dies ausgereicht hätte, um das Einvernehmen zwischen uns zu bestätigen, doch ich wollte Klarheit schaffen.
Ich sagte: „Ich nehme an, dass Nicola seine verlorengegangene Börse inmitten des Gepäcks auffinden wird.“
Radovan betrachtete die Sonne, die gerade hinter dem Horizont aufgetaucht war. „Ich bin überrascht, dass er das noch nicht hat.“
In glücklicheren Tagen hätte er mich vielleicht mit einer schlagfertigen Erwiderung amüsiert, doch meine Ermahnung machte ihm zu schaffen. Möglicherweise lag der Fehler bei mir, da ich über die Jahre eine solche Formlosigkeit zugelassen hatte.
Für derartige Gedanken war es zu spät. Ich konnte meine Gäste nicht länger warten lassen, also rief ich Nicola mit einem Fingerschnippen zu mir, und wir bestiegen die Kutsche. Nur Augenblicke später ließ der angeheuerte Kutscher die Zügel knallen, und wir begannen unsere Fahrt gen Norden in das Herz von Ustalav.
Es gibt nichts Bequemeres für eine Überlandfahrt als die rote Kutsche. Seit dem Tag meiner Geburt hielten vier Generationen von menschlichen und Halblingdienern die Kutsche instand, dennoch musste sie nie repariert werden. Auch ist ihre glänzende Farbe nie verblasst. Erstaunlicherweise mussten weder die Federn noch die Räder je ersetzt werden, wenn ich auch Letztere als jährliche Instandhaltungsmaßnahme mit neuem Stahl hatte beringen lassen. Das Innere der Kutsche ist wie ein kleiner Salon eingerichtet. Die gegenüberliegenden Sitze sind mit dickem Leder aufgepolstert worden und so bequem wie jeder Sessel. Sie verbergen geräumige Aufbewahrungsfächer, in denen die Dienerschaft meine Habseligkeiten untergebracht hatte, um auf dem Dach Platz für das Gepäck meiner Gäste zu schaffen. Die breiten Fenster sind noch immer mit dem ursprünglichen Glas bestückt. An ihren Seiten geben kleine verzauberte Lampen bei Berührung ihr Licht ab. Leider schien niemand sonst aus meiner Reisegesellschaft den Komfort so zu schätzen wie ich.
Um es Tara noch bequemer zu machen, zog ich die Vorhänge auf, doch Kasomir gestattete keine weitere Fürsorglichkeit. Sobald Tara einzuschlummern begann, überraschte er mich jedoch damit, dass er sich zu mir nach vorne beugte, um mit mir ein Gespräch zu führen.
„Vergebt mir, Euer Exzellenz“, sagte er. „Ich fürchte, Euch beleidigt zu haben. Die Sorge um die Gesundheit meiner Base ...“
„Denkt Euch nichts dabei“, sagte ich, wie man es so tut. „Ich hoffe, die Reise wird ihren Zustand nicht verschlimmern.“
„Zustand?“, fragte er schelmisch. „Was meint Ihr mit …?“
„Ihre angeschlagene Gesundheit“, antwortete ich.
„Ach“, sagte er. „Ich bitte Euch um Verzeihung. Caliphas ist die Wiege der Verleumdung in unserem Land, und die Ankunft meiner Base hat zu allerlei höchst abscheulichen Spekulationen unter unseren Standesgenossen geführt.“
„In der Tat.“
„Aber Ihr braucht mich nicht, um euch in dieser Beziehung zu belehren“, fuhr er fort. „Ich nehme an, dass auch Ihr die spitzen Zungen in Caliphas zu spüren bekommen habt.“
Ich nickte, weniger zur Bestätigung als mehr, um ihn zum Fortfahren zu ermutigen. Einen gedehnten Augenblick lang tat er dies nicht, und ich ließ das Schweigen an ihm nagen.
„Gräfin Caliphvaso sieht sehr gesund aus“, meinte er.
„Allerdings“, bestätigte ich.
„Wenn ich recht informiert bin, kennt Ihr sie seit geraumer Zeit.“
„Dem ist so. Wir begegneten uns, als ich auf meinem Weg zur Universität von Lepidstadt war, um einige Nachforschungen anzustellen.“
„Ah, dann müsst ihr mit Meister Nagrea bekannt sein, dem Fechtlehrer.“
Nun verstand ich, in welche Richtung Kasomir die Unterhaltung zu lenken beabsichtigte. Als ich an der Universität weilte, überredeten mich einige meiner Kommilitonen dazu, an einem traditionellen Brauch zur Feier ihres Abschlusses teilzunehmen. Nach der Komplettierung ihres Fechtunterrichtes bringen die Studenten ihre Rapiere und große Mengen Wein auf eine hochgelegene Klippe über dem Fluss. Dort stellen sie sich nacheinander mit ihren Fersen am Rand des Abgrundes auf und tragen dabei nur ein stählernes Visier, um ihre Augen zu schützen. Einer nach dem anderen prüfen ihre Kameraden ihre Kampffertigkeit und ihren Mut. Die Herausforderer müssen sich zurückziehen, sobald der Verteidiger ihnen eine Wunde, üblicherweise einen leichten Kratzer am Arm, zugefügt hat, doch erst nachdem der Verteidiger einen Streich im Gesicht erlitten hat, erlaubt ihm die Ehre, seinen Posten zu verlassen. Die Kameraden des Siegers erheben ihre Gläser auf ihn und gießen Wein auf die frische Wunde, um sicherzustellen, dass eine Narbe zurückbleibt. Unter den Adligen von Ustalav ist die Lepidstadtnarbe berühmter als ein gräfliches Siegel.
„Nein“, antwortete ich. „Eventuell fand mein Besuch vor seiner Amtszeit statt.“
„Ah“, machte Kasomir und musterte mein Gesicht. Er hatte zweifellos von Anfang an bemerkt, dass ich weder die berühmte Narbe noch ein Schwert trug. Versuchte er, mich zu provozieren? Es schien mir eine solch plumpe List zu sein, dass ich eine dermaßen offensichtliche Erklärung anzweifelte, dennoch sagte er nichts mehr, bis wir am Mittag eine Rast einlegten.
Kasomir begleitete seine Base bei einem Spaziergang rund um unser Lager am Straßenrand, während Nicola die Zubereitung eines kalten Mittagessens in die Wege leitete. Ich fand Radovan unter den Wachmännern, die Nicolas Kommandos entgangen waren. Die Einheimischen brachten ihm varisische Redewendungen bei, während sie sich ausstreckten, um die Schmerzen der Reise zu lindern. Zunächst war ich enttäuscht zu hören, dass die meisten dieser Ausdrücke Prahlereien und Beleidigungen in ländlichem Dialekt waren, die den Grundlagen des sauberen Varisisch zuwiderliefen, welches ich versucht hatte, meiner Dienerschaft während unserer Reise von Cheliax nahezubringen. Jedoch würde sich der vulgäre Dialekt für Radovan zweifelsohne als nützlich erweisen, wenn er mit den niederen Klassen in Kontakt kam.
Ich sah zu, wie Radovan einen seiner berühmten Tricks vorführte. Er und Grigor, der langhaarige Bogenschütze, standen ungefähr zwanzig Schritte voneinander entfernt, jeder leicht versetzt vor einer Birke, und beide hielten ein Messer aus Radovans Stiefelschäften seitlich in der Hand. Seit ich darauf bestanden hatte, sie als Vorbereitung für unsere Expedition versilbern zu lassen, beschwerte sich Radovan darüber, dass die Balance verlorengegangen sei, und hatte bei jeder sich bietenden Gelegenheit das Werfen mit ihnen geübt. Auf dem Boden zwischen ihnen lagen einige Silbermünzen – ihr Einsatz. Luka, der an der Seite stand, zählte rückwärts: „Drei … zwei … eins!“
Gleichzeitig warf jeder sein Messer in Richtung des Baumes des anderen. Radovans drang zwei Zoll tief in das Birkenholz ein, und nur einen Augenblick später fing er das Messer seines Gegenübers auf und schleuderte es zurück. Nur einen Zoll über dem ersten Messer blieb es zitternd stecken.
„Ein kleiner Trick, den ich unten in der Aalgasse gelernt habe“, erklärte Radovan ihnen auf Taldani.
Die Wächter murmelten anerkennend, sogar Grigor, der seine Wette verloren hatte.
Ich trat vor, um mitzuteilen, dass ich es vorzog, Kavapesta mit der gleichen Anzahl Finger zu erreichen, mit der wir Caliphas verlassen hatten, doch Radovan kam mir zuvor.
„Hört mal, Prinzipal“, sagte er. „Die haben mir noch ein bisschen Varisisch beigebracht: Ich bin größer, als ich aussehe. Mit mir ist nicht zu spaßen.“
Die Ustalaver lachten. „Guter Akzent“, sagte ich. „Die Redewendung bedarf allerdings noch des Feinschliffs.“
„Größer, als ich aussehe“, wiederholte er unter noch mehr Gelächter. Die Männer mochten ihn, dennoch fragte ich mich immer noch, wie fähig sie waren.
„Solange ihr Männer euer Training fortführt, seid doch so nett und erheitert mich mit einer Demonstration“, bat ich.
„Was wollt Ihr sehen?“, fragte Radovan. „Bogenschießen? Nahkampf?“
„Schwertkampf“, erwiderte ich.
„In Ordnung“, sagte er. „Anton, Luka!“ Der kahle Soldat und der Pferdedieb traten vor. „Zeigt dem Prinzipal, was ihr könnt“, sagte er auf Taldani und fügte auf Varisisch hinzu: „Nicht töten oder den Kopf schneiden. Ist zum Bessern.“ Er hielt eine Goldmünze hoch, wohl wissend, dass ich sie bei seinem nächsten Zahltag ersetzen würde.
Anton und Luka brauchten keinen weiteren Anreiz. Sie zogen ihre Waffen und traten aufeinander zu. Die Parierstange von Antons Schwert trug das königliche Wappen, die Waffe eines Veteranen. Luka trug einen Säbel, den er vermutlich bei einem Glücksspiel am Hafen gewonnen hatte. Sie gingen in die Hocke und ließen ihre Klingen einige Male aufeinanderprallen. Anton parierte einen Stoß gegen seinen Arm und konterte, wobei er Lukas Oberarm ritzte.
Radovan schüttelte den Kopf. „Das war erbärmlich“, sagte er zu Luka. Er warf Anton die Münze zu, doch ich fing sie in der Luft auf.
„Ich habe nicht um ein Schauspiel gebeten“, sagte ich. „Ich möchte sehen, ob ihr kämpfen könnt. Radovan, nimm Lukas Platz ein.“
„Kommt schon, Prinzipal“, sagte er. „Ihr wisst, dass ich nicht gut mit dem Schwert bin.“
Es stimmte, dass ich Radovan niemals mit einem Schwert in der Hand gesehen hatte, das er nicht zuvor einem Angreifer abgenommen hatte, und in diesen Fällen hatte er die Waffe entweder beiseite geworfen oder ihren Knauf dazu verwendet, seinen Gegner niederzuschlagen. Er bevorzugte den Kampf auf sehr kurze Distanz.
„Von mir aus“, sagte ich und legte meinen Mantel ab. „Leih mir deine Klinge, Luka!“
Der Wachmann zögerte kurz, bevor er mir seine Waffe übergab und sich zurückzog. Ich erspürte ihr Gewicht und durchschnitt einige Male die Luft. Es war keine ideale Waffe für ein Duell.
Anton hielt eine Hand hoch. „Bitte, Herr“, sagte er. „Ich möchte Euch keinen Schaden zufügen.“
„Zehn Goldstücke“, sagte ich, „wenn du mir einen Kratzer beibringst.“
„Zehn!“, sagte er begeistert. Er hob seine Waffe.
Plötzlich fühlte ich mich wie ein Narr. Es war viele Jahre, vielleicht sogar mehr als ein Jahrzehnt her, seit ich regelmäßig geübt hatte. Ich hatte eine exzellente Lehre genossen, doch dies war auch Jahrzehnte her, und einer der vielen Gründe, weswegen ich Radovan in meinen Diensten habe, ist, dass ich eine Abneigung dagegen habe, mich zu schlagen.
Doch jetzt, was tat ich hier? War es so wichtig, Kasomir zu zeigen, dass mich die fehlende Lepidstadtnarbe nicht zum Eunuchen machte? Mir von diesem Mietling einen Kratzer beibringen zu lassen, wäre mehr als ein ausreichender Beweis dafür, dass ich nicht länger ein Schwertkämpfer war.
Anton schlug nach meinem Knie, doch ich parierte und zog mich zurück. Er folgte, warf Radovan jedoch einen fragenden Blick zu. Ich antwortete, indem ich seine Klinge aus dem Weg schlug und die Schulter seines Führungsarmes angriff.
Anton wehrte meine Klinge mit der Parierstange ab, während er sich zurückzog. Ich griff weiter an, band seine Klinge mit einem kleinen Kreis, bevor ich einen Streich in die entgegengesetzte Richtung führte, um seinen Arm zu treffen. Die Spitze meiner Klinge schnitt in den ledernen Armschutz an seinem Handgelenk, doch ich hatte ihn nicht verletzt.
„Vielleicht ist das keine gute Idee“, sagte Anton. Mit einem Schulterzucken ließ er seine Verteidigung fallen. Ich ließ die Spitze meiner Klinge sinken. Er sagte: „Ich fürchte, ich werde Euch verletzen ...“
Er machte einen Ausfallschritt und attackierte die Spitze meines Stiefels. Ich hob den Fuß, trat auf seine Klinge und berührte sein Kinn mit der Spitze des Säbels.
Anton, der in eine kniende Position gestolpert war, sah zu mir auf. Eine Sekunde lang überschattete Furcht seine Augen, doch dann schenkte er mir ein versöhnliches Lächeln. „Ich glaube, Ihr habt diesen Trick vielleicht schon einmal gesehen.“
Ich warf Anton die Münze zu und gab Luka den geborgten Säbel zurück. Bereits nach wenigen Sekunden des Schwertkampfes hatte meine Schulter geschmerzt. Als ich mich umwandte, um die Männer in Frieden zu lassen, trat Radovan neben mich.
„Woran denkt Ihr?“, fragte er. So sehr ich seinen Scharfsinn auch schätzte, zog ich es doch vor, wenn dieser sich nicht auf mich konzentrierte.
„Einer unserer Gäste hat mich daran erinnert, dass es viel zu lange her ist, seit ich mich im Schwertkampf geübt habe“, antwortete ich. „Glaubst du, Anton hat absichtlich verloren, um sich bei mir einzuschmeicheln?“
Radovan zuckte mit den Schultern. Es mangelte ihm nicht gänzlich an diplomatischem Geschick. „Jetzt, da Ihr es erwähnt“, sagte er. „Wie lange noch, bevor wir den Männern ihre Präsente überreichen können? Ein paar von ihnen sind es nicht gewohnt, ein richtiges Schwert zu führen.“
Ich hatte gezögert, die versilberten Waffen früher auszuteilen, aus Sorge, dass sich einer oder mehrere der Männer absetzen könnten, um die wertvollen Waffen zu verkaufen, anstatt sich für eine recht geringe Bezahlung auf diese gefährliche Reise einzulassen. Nicht der finanzielle Verlust war meine Hauptsorge, sondern, dass die Anzahl an Waffen nur für ein kleines Kontingent an Wachen ausreichte, und alle von ihnen in der Lage sein sollten, übernatürliche Gefahren auf der Reise genauso abwehren zu können wie solche natürlichen Ursprungs.
„Es sei denn, Ihr seid bereit, das alte Zauberbuch auszugraben und ...“ Radovan wedelte in Andeutung einer magischen Geste mit der Hand. Er musterte mich und wartete auf eine Antwort, und ich kannte den Grund.
Während der vielen Jahre unserer Zusammenarbeit hatte Radovan mir dabei zugesehen, wie ich die Identität eines Diebes durch die materiellen Komponenten erkannt hatte, die er dazu verwendet hatte, einen verschlossenen Tresor aufzubrechen. Er hatte mich dabei beobachtet, wie ich die Runen eines uralten Zauberrätsels übersetzt und verändert hatte, um ihre versteckte Botschaft zu offenbaren. Er war sogar Zeuge gewesen, wie ich die Zaubertricks eines Amateurzauberers in einem ansonsten finsteren Fall von Erpressung abgewehrt hatte. Was Radovan hingegen niemals beobachtet hatte, war, wie ich tatsächlich einen Zauber wirkte. Es war ein Wunder, dass er dieses Thema niemals stärker verfolgt hatte. Die Antwort auf diese Frage war peinlich, doch wenn man die möglichen Gefahren einer Reise auf den Straßen Ustalavs bedachte, war es vermutlich an der Zeit, dass er es erfuhr. Auf der anderen Seite gab es da das Problem der Angemessenheit. Er war mein Diener, nicht mein Gleichgestellter.
„Du kannst die Waffen jetzt ausgeben“, befahl ich ihm.
Radovan war unnachgiebiger als die widerwärtigen Terrier meiner Großnichte. „Doch Ihr seid bereit, sie mit Zauberei zu unterstützen, richtig?“
„Du hast ihnen das nicht gesagt, nehme ich an.“
„Natürlich nicht, nein, aber ich dachte, ...“
„Du solltest dich nicht darauf verlassen, dass ich irgendwelche bedeutenden Zauber wirke“, sagte ich.
„Was ist mit all diesen arkanen Büchern und Sachen aus Eurer Bibliothek?“
Ich seufzte. „Das Studium des Arkanen war eine meiner frühesten Leidenschaften. Während ich in der Theorie recht geübt war, bereitete mir die Praxis unglücklicherweise einige Schwierigkeiten.“
„Ach ja?“, fragte Radovan. „Welche Art von Schwierigkeiten?“
Was die meisten Beobachter, die mit dem Arkanen nicht vertraut sind, nicht verstehen, ist, dass ein Magier eigentlich den Großteil eines Zaubers wirkt, bevor er dessen Macht auf die Welt loslässt. Für die meisten Zauberkundigen ist die Freisetzung von Magie nur eine Frage dessen, die letzten auslösenden Schlagworte auszusprechen, eine abschließende Geste zu vollführen und vielleicht einen katalytischen Stoff aufzubrauchen.
Für mich bedeutet es leider auch – um offen zu sprechen –, dass ich mein letztes Essen wieder von mir gebe.
Von dem Augenblick an, an dem ich den Zauber in meinem Geist fixiere, bis zu dem, in dem ich ihn wirke, wird mein Körper von Krämpfen geschüttelt. Ich schwitze in höchst unziemlicher Weise, und zuzeiten habe ich sogar ein unerträgliches Stottern entwickelt. Je länger ich den vorbereiteten Zauber zurückhalte, desto schlimmer wird mein Zustand. Selbst die Erlösung durch die Freisetzung der Macht geht unvermeidlich mit einem widerlichen Erbrechen einher, welches, wie ich Dir versichern kann, meinen Kommilitonen an der Academae in Korvosa unendliches Vergnügen bereitete.
Doch dies ging Radovan nichts an. Es war höchste Zeit, ein förmlicheres Verhältnis zu den Angestellten aufzubauen. Ich schickte ihn mit einer Handbewegung fort und sagte: „Die Männer sind hungrig. Kümmere dich um sie!“