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Die Entdeckung des Sehens
ОглавлениеIch habe in den letzten Jahren so viel über das Sehen geschrieben, dass ich mich etwas gehemmt fühle, noch mehr darüber zu schreiben. Ein Teil dieser Gehemmtheit rührt daher, dass ich des Öfteren schon um Worte zu diesem Thema gerungen habe, ein anderer aus dem Gefühl, dass, je mehr ich über fotografisches Sehen als Konzept nachdenke, es mir umso mehr entwischt. Es liegt in der Natur der Sache, dass es mit begrifflicher Unschärfe behaftet ist, und so bringt es mich in eine verzwickte Lage, als wollte ich einen Pudding an die Wand nageln.
Wir alle fotografieren aus unterschiedlichen Gründen, und diese Gründe sind untrennbarer Bestandteil unseres Sehens. Von daher bin ich nicht versessen darauf, so lange meinen Kopf auf die Tastatur zu hauen, bis ich mir eine Definition abgerungen habe. Ich schätze, dass Sie wissen, was damit gemeint ist: Sehen, Absicht, die Dinge, die wir, wie unperfekt auch immer, mit der Kamera in unserer Hand ausdrücken wollen.
Viel wichtiger als eine Definition des Sehens ist, es herauszufinden, es zu entdecken. Dabei ist noch nicht einmal entscheidend wie man es entdeckt, sondern zu erfahren, dass man es überhaupt entdecken kann. Dazu gehört eine gewisse Portion sprichwörtlichen Selbstbewusstseins, etwas Selbstbetrachtung. Wie schön für uns, dass die Kamera und der mit ihr verbundene kreative Prozess ein so schöner Bestandteil dieser Selbstfindung sind. Wir benutzen die Kamera nicht nur, sondern betrachten sie in diesem Prozess als Mitarbeiterin. Dabei haben wir meist schon eine gewisse Ahnung dessen, was wir ausdrücken wollen (manchmal sogar ganz dezidierte Vorstellungen), doch nur selten geschieht es, dass wir zur Kamera greifen und schon beim ersten Anlauf das Bild im Kasten haben, das wir uns vorgestellt hatten, und fertig sind. Meistens reift das Sehen nach und nach, während die Muse uns immer mehr in ihren Bann zieht und sich Bild für Bild immer mehr zeigt.
Ich glaube kaum, dass wir uns über fotografisches Sehen unterhalten können, ohne die spezifische Sichtweise und Darstellung der Kamera selbst zu berücksichtigen. Damit möchte ich zum Ausdruck bringen, dass das Wissen, wie man Fotos macht, genauso wichtig ist wie zu wissen, was man mit ihr ausdrücken möchte. Denn es ist oftmals nur der Moment des Bildermachens, der Blick durch den Sucher, der Tanz mit dem Licht, dem Raum und der Zeit, weshalb sich viele von uns überhaupt in dieses Medium verliebt haben, das uns schließlich die vor uns liegenden Möglichkeiten eröffnet. Dieser sich stetig wiederholende kreative Prozess hängte derart von einem Strom von Ideen und Umständen ab, dass ich mir kaum vorstellen kann, dass es sich anders verhält. Von daher ist es vermutlich am besten, dass wir in dem Wissen vorgehen, dass unser Sehen eher langsam daherkommt, statt sofort präsent zu sein. Kommen tut es aber.
Ich bin mir dessen sicher, weil wir sehen können. Manche können weiter sehen als andere, andere wiederum haben tiefere Einblicke. Doch wir alle bilden uns eine Meinung über diese Welt und haben unsere eigene Sicht auf die Menschen, die in ihr leben, und die Dinge, die wir schön, interessant, wundersam oder sonst wie finden – wodurch sich unsere persönliche Sichtweise formt. Dabei kommt es weniger darauf an, was wir betrachten, sondern wie wir es betrachten. Nicht was wir sehen ist wichtig, sondern wie wir es wahrnehmen und wie wir darüber denken, was wir wahrnehmen.
Warum ich glaube, dass diese Diskussion wichtig und weit mehr ist als ein Aufruf zur Selbstreflexion und zur Bereitschaft, den inneren Poeten anzunehmen, ist der Umstand, dass unsere Fotos niemandem etwas sagen, wenn wir selbst, das Leben und die Seele der Kamera in unserer Hand nichts zu sagen haben. Dabei reicht es schon, wenn wir über eine Landschaft blicken, die uns überwältigt, und wir sagen: »Mein Gott, wie schön!« Es reicht mehr als aus, wenn die Dinge, die wir ausdrücken wollen, einfach und menschlich sind. Halten wir uns vor Augen, dass selbst »einfache« Schönheit etwas ist, nach dem die menschliche Seele lechzt. Wir müssen allerdings etwas zu sagen haben, da ansonsten die Geschichten, die wir mit unseren Kameras schreiben, nichts weiter als bedeutungslose Wörter sind, die auf hungrige Seelen und Gemüter niedergehen.
Es ist wichtig, sich dies zu vergegenwärtigen, denn nur die Kamera auf die Dinge zu richten, über die wir etwas sagen wollen, und abzudrücken, ergibt nichts weiter als einen Schnappschuss. Dabei entsteht bestenfalls ein Foto von etwas, aber nicht über etwas. Nicht jeder Blickwinkel oder Aufnahmezeitpunkt bringt das Motiv voll zur Geltung.
Doch wie bringt man sein Motiv zur Geltung? Diese Frage kann letztendlich nur durch unser Sehen beantwortet werden und das oftmals mit der Kamera in unserer Hand, während wir unseren Tanz mit ihr vollführen und dabei so lange mit dem Motiv arbeiten, bis es uns selbst klar wird. Was wir dann denken, fühlen, auszusagen versuchen und wie wir es unter den unzähligen Möglichkeiten auszusagen versuchen, ist einem Wandel unterworfen, der nicht unbedingt über Nacht, wohl aber mit der Zeit stattfindet, in der wir uns als Menschen und Künstler nach und nach weiterentwickeln. Bringen wir in unsere Kunst nicht ein wenig dieses Bewusstseins über diesen Wandel mit ein, riskieren wir, uns selbst immer nur zu wiederholen und irgendwann festzustellen, dass unsere Fotos anderen nichts mehr sagen und auch in uns keinerlei Regung aufkommen lassen. Wenn wir unsere Fotos anschauen und darin nicht den kleinsten Hauch von uns selbst wiederfinden, ist das ein untrügliches Zeichen, dass unsere Bilder ihre Seelen verloren haben. Sie können Ihren Fotos keine Seele einhauchen, wenn Sie beim Blick auf Ihr Innenleben ins Leere schauen.
Das Gespür für sie fällt nicht allen gleich leicht. Manche Menschen leben scheinbar glücklich ohne Bewusstsein über ihre eigenen Gedanken und haben größte Schwierigkeiten, ihre Gefühle mitzuteilen. Anderen wiederum fällt es leichter, ihr sich weiterentwickelndes Sehen zu bemerken, wobei ihnen jedoch der Mut oder die Kreativität fehlen, Fotos zu machen, die das wiedergeben. Es ist nicht einfach. Doch es gibt Möglichkeiten, in diese tieferen Regionen vorzudringen.
Eine dieser Möglichkeiten ist das Tagebuchschreiben. Seit ich 15 Jahre alt bin, schreibe ich regelmäßig etwas in Notizbücher. Die meisten dieser frühen, von Unsicherheit geprägten, vollgeschriebenen Seiten sind mittlerweile zu Asche geworden, da sie ihren Zweck erfüllt haben, der nur mir allein diente und niemanden sonst. Schreiben tue ich allerdings immer noch. Dabei geht es um meine Gedanken, meine Befürchtungen, meine Freuden, meine Neugier, und ich finde, dass das Schreiben sich wunderbar mit meiner Fotografie ergänzt, wenn auch nicht so, wie Sie vielleicht denken. Es geht ja schließlich nicht um das, was ich für andere schreibe (beispielsweise in meinen Büchern oder meinem Blog), sondern um das, was ich für mich selbst schreibe. Schon der Akt des Niederschreibens von Gedankenfetzen und deren zunehmende Ausformulierung ist modellhaft für meine Fotografie. Es übt mich in Geduld mit dem kreativen Prozess und, noch wichtiger, regt mich zum Denken über das Denken an, bringt mich dazu, mich meiner Gedanken, meiner Wünsche und meiner Frustrationen bewusst zu werden. Das Schreiben zwingt mich dazu, meine Gedanken so klar zu strukturieren, dass ich sie direkt niederschreiben kann. Es trainiert mein Gehirn zum Bewusstsein über mich selbst.
Allerdings gibt es da einen Unterschied zwischen Selbstbewusstsein und Selbstzentriertheit. Bei Letzterem kommen nur egozentrische Bilder heraus, die niemanden interessieren. Ein Bewusstsein von sich selbst lässt uns reflektieren, eigene Fragen bedenken und die Gründe unserer Präferenzen hinterfragen. Dies kann uns zu besseren Bildern führen und damit meine ich solche, die sowohl authentischer sind als auch die Themen und Inhalte unserer Fotos besser transportieren.
Es kann sein, das dieses Bewusstsein von sich selbst nicht der einzige Weg ist, zu authentischen, aussagekräftigen Bildern zu kommen. Es mag einige Fotografen geben, denen dies von Natur aus so intuitiv gelingt, dass sie sich über ihr Sehen oder wie sie Dinge in einem Bild ausdrücken wollen, keine Gedanken machen müssen. Damit soll nicht gesagt sein, dass sie keine Vorstellungskraft besäßen. Ich glaube jedoch, dass solche Menschen, genau wie Heinzelmännchen, seltener anzutreffen sind als wir glauben möchten. Und, mal ganz ehrlich, wenn Sie dieses Buch lesen, gehören Sie vermutlich nicht zu dieser Gattung, weil Sie sonst lieber draußen eben diese Bilder machen würden, statt über etwas zu lesen, das Ihnen keinen weiteren Nutzen bringt. Der Rest von uns wird mit der Muse ringen, was ich umso mehr genieße, je mehr ich mich darauf einlasse.
Sie können sehen. Wir alle können es. Doch was fast noch mehr zählt als die Befähigung, ist die Bereitschaft, mit dem Sehen Schritt zu halten, sich auf dessen Wandel im Verlauf der persönlichen Entwicklung einzulassen und sich auf diese Weise neue Möglichkeiten des visuellen Ausdrucks zu erschließen. Wer die Dinge eher pragmatisch angeht, hadert vielleicht mit dieser Vorstellung. Doch auch wenn Sie sich an dieser Stelle lediglich fragen können, was Sie versuchen zu sagen, ist das bereits ein guter Ausgangspunkt. Ein anderer sehr guter Einstieg wäre: »Worum geht es in diesem Bild und was wäre die beste Möglichkeit (die authentischste, interessanteste), dies auszudrücken?«
Wenn Sie sich in keiner dieser Fragen wiederfinden, ist es vielleicht eher diese hier: »Wie soll sich dieses Bild anfühlen?« Nochmals, um diese und noch weitere Fragen geht es.
Die Welt braucht nicht noch mehr Bilder; sie wird bereits mit Schnappschüssen überschüttet, wogegen im Prinzip nichts einzuwenden ist, da sie schließlich irgendjemandem irgendwas bedeuten. Doch wenn Ihnen Ihre Bilder mehr bedeuten sollen und andere, die sie betrachten, mehr ansprechen sollen, sind Sie auf der Suche nach tiefergehenden, zielgerichteteren Fotos. Es sollte mich doch sehr wundern, sollten Sie dies erreichen, ohne sich stets Gedanken darüber zu machen, was Sie mit diesen Fotos aussagen wollen.