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Achtsamkeit in der Sprache

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Garry Winogrand sagte einmal: »Ich habe in keinem meiner Bilder etwas zu sagen.« Das kann sein und ich kenne viele Fotografen, die genauso denken. Doch keinen Plan zu haben und angeblich nichts zu sagen zu haben, lässt die Bilder keineswegs verstummen. Das gilt ohnehin nur, wenn Sie davon ausgehen, dass Fotografen wie Gary Winogrand wirklich nichts zu sagen hätten, wovon ich persönlich nicht überzeugt bin. Zumindest sagen unsere Fotos immer so etwas wie: »Schau Dir das an.« Wir stellen einen bestimmten Moment heraus und durch eine von unzähligen Kombinationen von Verschlusszeiten, Blenden, Brennweiten, Perspektiven sagen wir etwas über diesen Moment und wie wir ihn gesehen haben aus. Da wir ihn schließlich nicht nur mit den Augen, sondern auch mit unserem Verstand wahrgenommen haben, scheint mir, dass es immer darum geht, wie wir diesen Moment erfahren, was wir über ihn gedacht haben. Jede Entscheidung, die wir bei jedem einzelnen Foto getroffen haben, hat eine Bedeutung und wird vom Betrachter auf die eine oder andere Weise interpretiert.

Ich empfinde tiefsten Respekt für Gary Winogrand als Fotografen, doch für mich ist sein Ausspruch eine falsche Bescheidenheit. Natürlich haben seine Bilder eine Aussage, denn ganz gleich, ob wir wollen oder nicht, werden unsere und seine Bilder von anderen interpretiert. Die Fotografie ist wie die Musik eine Sprache, unpräzise zwar, doch spricht sie uns oft stark an. Während ich diese Zeilen verfasse, tobt gerade ein Disput über die Arbeiten von Steve McCurry, dessen vielgeschätzte Bilder sich zum Teil als manipuliert herausgestellt haben – sei es dadurch, dass sie gestellt waren, oder durch Bildbearbeitung. Unter den vorwurfsvollen Begriffen fanden sich »Irreführung« und »Manipulation«. Diese sind Begriffe aus dem Gebiet Kommunikation und Sprachgebrauch.

Der Fotograf, der seinem Publikum mit Wertschätzung entgegentritt und seine Bildsprache achtsam einsetzt, erschafft eher Bilder, die stärker und menschlicher wirken. Wie wird die eine Linienführung im Vergleich zu der anderen im Foto wahrgenommen? Wird sie den Blick aus dem Bild tragen oder die Bildelemente verknüpfen? Wie leitet eine Farbe das Auge und wie beeinflusst eine bestimmte Farbgebung die Bildstimmung? Wie zieht ein Weitwinkelobjektiv, das ganz nah am Geschehen ist, den Betrachter heran, sodass er mittendrin in der Szenerie ist? Wie wirkt sich im Gegensatz dazu eine lange Brennweite aus? Tritt durch eine große Blendenöffnung und entsprechend unscharfe Bildbereiche ein Bildelement derart in den Hintergrund, dass die Aufmerksamkeit von ihm weg auf etwas anderes gelenkt wird? Wie ist die Bildaussage, wenn auf die Braut scharfgestellt und der Bräutigam unscharf dargestellt ist? Was drücken wir damit aus, wenn wir auf unser Motiv hinabschauen, statt ihm auf Augenhöhe zu begegnen?

Jede dieser Entscheidungen zieht eine entsprechende Wirkung nach sich. Diesen Umstand zu ignorieren und diese Zusammenhänge nicht zu studieren bedeutet, die erstaunliche Fähigkeit der Fotografie, durch Licht und Zeit unsere Geschichten vermitteln zu können, aus der Hand zu geben. Denn ganz gleich, ob wir es tun oder nicht, interpretiert werden unsere Bilder so oder so.

In unserem Handwerk gibt es scheinbar endlose Möglichkeiten, die sich allesamt darauf auswirken, wie unsere Arbeiten gelesen oder wahrgenommen werden. Aus meinem Gedächtnis heraus gehören zu diesen Möglichkeiten die Ausrichtung des Bildausschnitts, das Seitenverhältnis, die Größenverhältnisse im Bild, die von uns eingeschlossenen Bildelemente und deren Beziehungen untereinander, das, was wir weglassen, der Moment des Auslösens, die Entscheidung über Farbe oder SchwarzWeiß, worauf wir fokussieren und wie groß die Schärfentiefe ausfällt sowie die Wahl unserer Verschlusszeit und deren Wirkung auf die Wahrnehmung der Zeit. Wir wählen unsere Perspektive und ordnen die Linienführung und Bildelemente so an, wie wir es wünschen, und es gibt noch sehr viel mehr weitere Möglichkeiten. Jede dieser schier endlosen Möglichkeiten und somit unterschiedlichen Fotos sagt das eine oder andere aus.

Eine der angenehmen Eigenschaften der visuellen Künste wie der Fotografie ist, dass es keine Geheimnisse gibt. Bis auf ganz wenige Ausnahmen ist alles sichtbar und erlernbar. Bei mir zuhause biegen sich die Bücherregale mit Fotobüchern, und jede Woche kann es passieren, dass gut 20 Kilo davon neu angeliefert werden, sodass meine Frau sich langsam gezwungen sieht, dem Einhalt zu gebieten. Die beiden besten Wege, die Fotografie zu erlernen, sind erstens, selber Fotos zu machen und sie zu studieren, und zweitens, die Werke anderer Fotografen zu studieren.

In besagten Regalen finden sich Bände von Sebastião Salgado, Josef Koudelka, Richard Avedon, Vivian Maier, Dorothea Lange, Diane Arbus, Gordon Parks, Helmut Newton, Yousuf Karsh, Elliott Erwitt, Henri Cartier-Bresson und vielen anderen, denen ich persönlich niemals begegnet bin, aber von denen ich so viel gelernt habe. Ich preise deren Arbeiten, analysiere sie und nehme etwas davon mit. Warum funktioniert dieses eine Bild? Warum empfinde ich dieses Bild und sein Thema genau so? Warum hatte der Fotograf diesen bestimmten Blickwinkel, diese Linienführung, diese Gegenüberstellung gewählt?

Ich studiere diese Fotos wie ein Schriftsteller die Bücher anderer Autoren: mit großem Appetit. Ich verschlinge sie und analysiere sie. Ich blättere nicht einfach nur die Seiten durch und denke: »Hübsches Bild.« Ich schätze die Bilder sehr und lasse sie zunächst emotional auf mich wirken, bevor ich sie mit dem Verstand angehe. Mir ist klar, dass es noch Millionen kleinster Feinheiten zu lernen gibt, und je mehr ich die Elemente der Bildsprache erfasse, desto mehr bin ich in der Lage, sie in meinen eigenen Arbeiten anzuwenden. Das Wunderbare daran ist, dass diese Reise niemals ein Ende haben wird. Ich werde niemals an einen Punkt gelangen, an dem ich von anderen nichts mehr lernen kann. Selbst ein einziges neues Wort in meinem visuellen Vokabular, ein neues visuelles Erlebnis, das mich aufrüttelt und mich weinen, lachen oder kopfschütteln lässt, öffnet meine Augen für neue Möglichkeiten in meinen eigenen Fotos.

Die zunehmende Achtsamkeit bei der Verwendung der Bildsprache eröffnet mir neue Wege des persönlichen Ausdrucks, selbst wenn ich niemals verstanden werden sollte. Schließlich ist das Verstehen nicht die einzige Möglichkeit, etwas zu erfahren. Der Maler Kandinsky beispielsweise hat nicht gemalt, um verstanden, sondern um erfahren zu werden. Er hat gewissermaßen Musik gemalt. Als ich davon gehört hatte, hat es etwas in mir ausgelöst, das mir die Freiheit gab, große Bereiche der Kunst an mich heranzulassen, die ich bisher abgeschrieben hatte. Vom Wein muss man schließlich auch nicht viel verstehen, um ihn zu erfahren. Es hilft zwar, ist aber nicht unbedingt nötig. Um die Kraft von Wagners Walkürenritt zu spüren, muss man ihn auch nicht verstehen. Von dem, was Van Morrison singt, verstehe ich auch nur die Hälfte und doch verehre ich seine Musik. Die Anteile, die ich nicht verstehe, fülle ich selbst aus. Und deshalb ist es so, dass diejenigen, die unsere Absichten und Bildaussagen nicht vollständig erfassen, ganz gleich, ob wir die Bildsprache auf geniale Weise einsetzen oder nicht, unsere Werke erleben können. Doch ohne Anerkennung einer allgemeinen Sprache der Fotografie bin ich mir nicht sicher, ob wir Hoffnung auf mehr haben können, als nur mit der Kamera herumzuwedeln und zufällig abzudrücken, geschweige denn etwas Bedeutsames und Menschliches mit ihr hervorzubringen.

Die Seele der Kamera

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