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Die Bereitschaft zur Interpretation
ОглавлениеIm vorigen Essay ging es um die Bildsprache an sich; in diesem geht es darum, überhaupt etwas zu sagen, den Mut zu einer eigenen Meinung aufzubringen und Fragen aufzuwerfen.
Die Annahme, dass die Fotografie uns ein ihr eigenes Arsenal an Ausdrucksmöglichkeiten bietet, ist, ohne diese auch anzuwenden, bedeutungslos. Ohne menschliches Herz und Verstand, die etwas mitteilen wollen, und ohne die Bereitschaft, mit Entscheidungen Risiken einzugehen oder etwas Wichtiges ausdrücken zu wollen, kann keine Sprache der Welt etwas ausrichten. Leider ist die Fotografie schon sehr früh in ihrer Geschichte mit der Eigenschaft belegt worden, untrüglich zu sein, mit der Erwartung, dass die Kamera niemals lüge. Dies ist insofern unglücklich, da der Fotografie auf diese Weise eine Objektivität unterstellt wird, die sie niemals hatte. Da wir schließlich selbst auch daran glaubten, vergaßen wir die Verantwortung für das zu übernehmen, was unsere Fotos über das reine Handwerk zur Kunst erheben kann: Entscheidungen, Interpretation. Es ist die Interpretation infolge der vielen Entscheidungen, die wir bei jedem einzelnen Bild treffen müssen, die uns ermöglicht, das auszudrücken, was wir sagen wollen.
Wenn ich mit anderen über die Aussage unserer Fotos spreche, spüre ich immer bei denen eine gewisse Anspannung, die mit der Vorstellung Schwierigkeiten haben, dass wir mit der Fotografie Kunst betreiben (oder betreiben können). Derart zurückhaltend zu sein bei der Vorstellung, Kunst zu produzieren oder irgendetwas ausdrücken zu wollen, ist nicht gerade hilfreich. Wir können Kunst produzieren und es auch so nennen, ohne damit gleichzeitig zu sagen, dass sie hervorragend oder überhaupt gut sei. Wir können durch die Kunst Dinge zum Ausdruck bringen, die weder besonders klug noch weltbewegend sind. Seit wann soll es nicht genügen, einen einfachen Moment zwischen Mutter und Kind visuell darzustellen und damit zum Ausdruck zu bringen, dass dies schön oder menschlich sei? Wir drücken es vielleicht nicht immer elegant aus, sind ungeschickt in der Wahl der Mittel und verfallen in Klischees, und trotzdem bleibt es Kunst und kann etwas aussagen.
Wenn ich Sie also ermutige, Kunst zu machen und damit etwas zum Ausdruck zu bringen, sage ich damit nicht, dass es gute Kunst sein müsse oder sonst keine. So ist es nicht. Wir machen Kunst. Wir versuchen, visuell Gedichte zu verfassen, und dabei mag vielleicht zunächst nur die schlimmste Prosa herauskommen. Doch je mehr wir selbst schreiben, uns die Werke anderer Poeten erschließen, die dies schon viel länger betreiben, und auf diese Weise unser Vokabular erweitern, desto besser werden auch unsere Gedichte. Und tatsächlich werden eines Tages einige von ihnen hervorragend sein. Dies werden sie aber durch das stete Bemühen, sich besser auszudrücken. Unsere Arbeiten haben sich noch nie verbessert, indem wir herumsaßen und Däumchen drehten oder indem wir darauf beharrten, dass wir nichts zu sagen hätten.
Wenn Sie ansprechendere Fotos machen wollen, müssen Sie die Vorstellung akzeptieren, dass jedes absichtsvoll entstandene Foto ein Akt der Interpretation ist und die Verantwortlichkeit der Entscheidungen zur bestmöglichen Interpretation des Motivs bei einem selbst liegt. Die Kamera kann dies nicht für uns übernehmen. Wir müssen zur Interpretation willig sein. Das vor uns liegende Motiv mag für uns persönlich eine Bedeutung haben, doch es bleibt unsere Aufgabe, den besten und überzeugendsten Weg zu finden, diese Bedeutung zu vermitteln. Die kreative Fotografie ist ein zutiefst subjektives Unterfangen. Ich würde sogar so weit gehen, dass Fotojournalismus und forensische Fotografie sehr viel subjektiver sind, als wir vermeintlich glauben. Dies soll nicht als Kritik verstanden werden, sondern dem Fotografen eine größere Rolle der Verantwortlichkeit für die aufrichtige Interpretation zukommen lassen.
Diese Sichtweise eröffnet viele Freiheiten. Das Wissen, dass jede Entscheidung unsere Interpretation des Motivs und somit dessen Wahrnehmung beeinflusst (wenn auch nicht kontrolliert), gibt uns reichlich Spielraum. Wir können mit der Perspektive arbeiten und schauen, wie die Kameraposition die Beziehungen der Bildelemente untereinander verändert und wie man folglich über sie denkt. Wir können in einem bestimmten Moment auslösen und nicht in einem anderen, was wiederum einen Akt der Interpretation darstellt, der die Bedeutung des Bildes verändert. So geht es immer weiter: die Wahl von Blende, Brennweite, Verschlusszeit, Bildausschnitt – alles hat Einfluss darauf, wie das Foto gelesen wird. Diese Freiheiten auszukosten und die Verantwortlichkeit über diese Entscheidungen anzunehmen, bestimmt, wie kreativ wir auf dem Weg zum finalen Bild sind.
Wenn es stimmt, dass mit dem Grad der Freiheit auch der der Verantwortung wächst, können wir nachvollziehen, warum dies manchen von uns so schwer fällt. Mit der Verantwortung meine ich die, das Foto und seine Betrachter bewusst in Verbindung treten zu lassen. Dies mag auch erklären, warum viele unserer Fotos nur uns selbst etwas sagen. Wenn ich ein Foto mache, sind nur ich, meine Kamera und die Dinge dabei, auf die mein Blick fällt. Darum herum sind noch Tausende von Gerüchen und Geräuschen und andere Geschehnisse, die meine Umwelt darstellen, aus dem ich mein Motiv pflücke. Nicht zu wissen, was wir sagen wollen, oder der Mangel an Bereitschaft zur Entscheidung, was die Kamera für uns in zwei Dimensionen umsetzen soll, führt in der Regel dazu, dass am Ende viel mehr auf dem Bild ist als nötig und der Bildeindruck dadurch geschmälert wird. Wenn wir dagegen zu viel weglassen, schließen wir den Kontext aus, der dem Betrachter oftmals den einzigen Hinweis zum Verständnis des Bildes liefert.
Für diejenigen unter uns, deren Arbeiten von anderen gesehen und verstanden werden sollen, reicht es nicht, dass wir lediglich uns und unsere Kamera in den Akt des Fotografierens einbringen. Während wir uns unserem eigenen Sehen und unseren Vorlieben hingeben, müssen wir zumindest an unser Publikum denken und die Szenerie auf eine Weise interpretieren, die deren Perzeption berücksichtigt. Natürlich kann man nur ahnen, wie man die Entscheidungen im Einzelfall zu treffen hat, und braucht entsprechend Mut, das Risiko von Widersprüchen und Missverständnissen einzugehen. Die Welt ist voll von Fotos, die auf halbem Wege steckenbleiben und sich ohne eigene Meinung vor Kritik schützen wollen, sodass häufig nur Nachahmerprodukte herauskommen. Das können wir besser. Wir können tief in unserem Inneren graben. Es stimmt zwar, dass schon alles fotografiert wurde, doch solange wir mehr als den Ist-Zustand dokumentieren wollen und noch nicht unsere ganz subjektive persönliche Sicht- und Fühlweise darlegen können, haben wir noch Verbesserungspotenzial.
Der Maler Robert Henri, der in seinen Schriften meine Gedanken über das Erschaffen von Kunst sehr viel eloquenter dargelegt hat als ich, riet den Malern einmal: »Malt lieber den fliegenden Geist des Vogels als dessen Federn.« Er ruft uns damit zur Interpretation auf. Obwohl er weiß, dass die einfache Illustration auch ihren Platz hat, ist sie doch nicht das, womit wir im tiefsten Inneren mitschwingen. Er spricht sich für einen subjektiven Ansatz des Kunstschaffens und das Liebäugeln mit der Abstraktion aus. Ich glaube, dass er damit auch zum Ausdruck bringen will, dass ein Gemälde (oder Foto), das überetwas erzählt, wirkungsvoller ist oder sein kann, als eines, das nur von etwas erzählt.
Was ein Foto vonin eins über macht, ist die Interpretation – unter Einbeziehung aller technischen Möglichkeiten, der Bildsprache und des Appells an das Gefühl. Die Farbe ist dazu in der Lage, wie auch die Bewegung, die Spannung und die Größenverhältnisse. Die Herausforderung besteht natürlich darin, diese Ausdrucksmittel mit dem in Einklang zu bringen, was wir mitteilen wollen. Um noch einmal auf Henris Beispiel zurückzukommen: Die beste Ausdrucksmöglichkeit dessen zu finden, was wir über den Vogel denken und fühlen, bleibt immer eine große Herausforderung. Dies erklärt auch, warum sich viele mit weniger zufriedengeben und im rein Handwerklichen steckenbleiben, statt das Risiko einzugehen, sich selbst und damit den Betrachter gefühlsmäßig tiefer einzubeziehen. Darin liegt auch der Grund, warum wir wahrhaft ergriffen sind, sobald wir auf diese Weise berührt werden, und schließlich selbst diesen Weg beschreiten: wenn wir es endlich hinbekommen und uns der Schauer der Glückseligkeit über unsere eigene Kreation über den Rücken läuft.