Читать книгу Der Hymenjäger - David Goliath - Страница 6
Leuchtturm
ОглавлениеAls meine Kollegen – Sven, der Alte, Ole, der Mittlere, und Meitje, die Junge – zusammen mit dem Rettungswagen, der für seinen Verbrennungsmotor eine Ausnahmegenehmigung hat, eintreffen, beginnen wir direkt mit den Befragungen, nachdem wir den vermeintlichen Tatort in einer Gemeinschaftsaktion vermessen und nummeriert haben. Währenddessen laden die beiden letzten verbliebenen Sanitäter Lotte in einen Leichensack und verladen sie.
Die Fremdenführerin, verheiratet mit dem Vogelkundler, und die Pfarrerin – durch den Menschenauflauf aufmerksam geworden, als sie zu unchristlicher Uhrzeit die ersten Psalmen las - kennen nur die Geschichte, haben aber nichts gesehen, noch nicht einmal den Fundort.
»Ensküllige«, entschuldigt sich die Fremdenführerin, die mit den Nerven am Ende ist und sich selbst in die Nordseeklinik einweist, wo sie bis auf Isak, eine Aushilfskrankenschwester und eine Rettungswagenbesatzung niemanden finden wird.
Die Fremdenführerin wurde von ihrem Mann geweckt, den der Leuchtturmwärter als erstes verständigt hatte – beides gute Freunde. Die hatten dann wiederum den Feuerwehrkommandanten herausgeklingelt, der als einzige hauptamtliche Kraft einen Sonderstatus genießt, denn im Ernstfall rekrutiert sich die Feuerwehr aus Freiwilligen, die dann alle herangesprintet kommen, um die nächsten Ausnahmegenehmigungen beim Thema Verbrennungsmotor zur Einsatzstelle zu bringen.
Und so ging es weiter über den Bürgermeister bis zu mir. Der Verzicht auf fahrbare Untersätze – mit Ausnahme der Tretroller, oder seit Neuestem E-Scooter, die im Gegensatz zu Fahrrädern erlaubt sind – und viele andere Annehmlichkeiten – regelmäßige Postzustellung oder Auswahl und Vorrat im Supermarkt, zum Beispiel – bewirkt, dass man auch auf den Komfort direkter Telefonverbindung verzichtet. Wenn Entschleunigung, dann richtig.
Am Ende bleibt der Leuchtturmwärter übrig, der das Mädchen fand.
»Kontrol om deät fleegende Stürrem«, antwortet er, weshalb er des Nachts im Bunker gewesen sei. Er machte einen Kontrollgang wegen des heftigen Sturms. Da entdeckte er sie.
»Wer hat einen Schlüssel?«, frage ich, der selbst einen Schlüssel für dieses Gebäude hat, allerdings nur für das Schlüsseldepot vorm Gebäude, worin ein Generalschlüssel für Notfälle hängt. Jede Öffnung des Schlüsseltresors wird als Einbruch- oder Sabotagealarm an unsere Polizeistation gesendet – zusätzlich bekommen alle Inselpolizisten eine Nachricht auf ihre Diensthandys. Nicht geschehen in dieser Nacht.
»Man ik«, sagt er schulterzuckend und klimpert zum Beweis mit dem Schlüsselbund. Nur er.
Um sicherzugehen, teste ich das Schlüsseldepot, das draußen im Orkan wartet. Schräg gegen den kräftigen Wind gelehnt, mit einer Hand gesichert am Kasten, führe ich den durchnässten Schlüssel in das rutschige Schloss ein. Kurz nach der Depotöffnung vibriert mein Telefon – wahrscheinlich der Öffnungsalarm. Der Funkmast stemmt sich ebenso gegen den Orkan, da mein Handy wieder versorgt wird. Im Depot selbst leuchte ich mit meiner handlichen Taschenlampe den am Haken hängenden Generalschlüssel an. Alles in Ordnung. Zur Kontrolle prüfe ich die Nachricht auf meinem Telefon – eine automatisierte Mitteilung vom Schlüsseldepot, das geöffnet wurde. Flugs flüchte ich wieder ins Gebäude. Langsam kriechen Nässe und Kälte ins Mark.
Nach einer Stunde haben wir alle Aussagen, wonach wir den Bunker versiegeln. Was wir nicht zerstört oder gefunden haben, können die Profis von der Spurensicherung in ein paar Tagen sicherstellen, sollten wir dann immer noch keinen Täter haben und das Wetter wieder einen Transfer erlauben.
Aufgrund des Orkans hätten wir die Ermittlungen verschoben, aber bei einem möglichen Mord müssen wir auch bei gefährlichen Sturmböen Klinkenputzen. Das ist kein Einbruch oder Diebstahl. Ein Menschenleben wurde genommen und der Täter weilt wahrscheinlich noch unter uns.
Da wir keine Anwesenheitslisten führen, wissen wir nicht, wer tatsächlich noch auf der Insel ist. Die verrammelten Häuser sprechen zwar Bände, doch ob sich hinter der Barrikade jemand versteckt, gilt es herauszufinden.
Erste Anlaufstelle ist das Hotel Fisker, Lottes Familienbetrieb. Zusammen mit der Pfarrerin und dem Rettungswagen, der eben noch Lottes Leichnam in den Kühlkeller der Klinik brachte, überbringe ich die traurige Nachricht vom Tod der Tochter. Ihre Familie trotzt dem Orkan, aus Sorge um Eigentum, Einnahmequelle und Lebensgrundlage.
Lottes Mutter bricht zusammen, sowieso mit den Nerven am Ende, angesichts des Orkans und der verwüstenden Folgen. Lottes Brüder schwören Rache. Lottes Vater verarbeitet auf seine Weise: Schnaps, Schweigen, Schwermut. Einen ihrer Brüder muss ich in Gewahrsam nehmen, ehe er sich bewaffnet und einen Mob mit brennenden Fackeln über Heiligland geführt hätte, trotz Unwetter. Er akzeptiert die Rücksitzbank im E-Golf, wo er seine Trauer mit Wut niederringt. Gitter und Plexiglasscheibe bekommen ein paar derbe Hiebe ab. Lottes Mutter begleitet unsere Wegstrecke, allerdings mit Sauerstoffmaske und Infusion im Rettungswagen. In Meddellun trennen sich unsere Wege, im Schritttempo ohne Blaulicht, denn wir wollen niemanden wecken oder erschrecken, schon gar nicht jemanden überfahren, der vom plötzlichen Autoverkehr überrumpelt wird. Die Scheibenwischer arbeiten am Anschlag, nahezu nutzlos. Ich fahre weiter nach Deelerlun zur Polizeistation. Der Rettungswagen biegt in Meddellun zur Nordseeklinik ab. Die Pfarrerin, die mit ihren einfühlsamen Worten schlimmeres Unheil verhindern konnte, setzte ich bereits in Bopperlun an ihrem Pfarrhaus neben der Kirche ab, wenige Meter vom Hotel Fisker entfernt.
An der Polizeistation hat sich Lottes Bruder beruhigt. Durch Tränen kann er den Schmerz kanalisieren. Trotzdem will er ein paar Stunden in der Arrestzelle verbringen. Um sich abzukühlen, wie er sagt. Auch die offenen Wolkenschleusen hindern ihn daran, einfach zurückzulaufen. Im Hotel gibt es ohnehin nicht viel zu tun. Außerhalb der sommerlichen Hauptsaison gibt es dort nur ein paar Buchungen, die für die Offshore-Windparks und die Meeres- sowie Vogelforschungsinstitute reserviert seien, was eindeutig die angenehmeren Gäste sind.
Da seine Mutter ohnmächtig wurde, sein Vater alles in sich vergrub und die anderen Geschwister blanken Hass schürten, konnte ich nicht viel über Lotte in Erfahrung bringen.
Nach einer abgehackten Meldung an das übergeordnete Festlandrevier in Büsum, das das Wetter als unüberwindbares Hindernis für die erforderlichen Spezialisten vom Landeskriminalamt verfluchte, mir aber immerhin einen Freifahrtschein vom Gericht und der Staatsanwaltschaft versprach, versorge ich Lottes Bruder mit warmem Kamillentee und erhoffe mir Informationen über ihre letzten Stunden.
Wegen des angekündigten Unwetters sei Lotte gestern Abend mit der letzten Fähre zum Festland gefahren, sagt er gefasster.
Die letzte Fähre, die auch meine Frau und Kinder nahmen.
Seitdem kamen keine Schiffe mehr an, addiere ich in Gedanken. Wie eine blau aufgedunsene Wasserleiche sah sie nicht aus. Es muss auf festem Boden geschehen sein. Hat sie ihre Familie angelogen? Wegen einer Liebelei? Hat sie die Insel womöglich gar nicht verlassen?
»Kann ich sie sehen?«, hakt er nach.
»Die Obduktion läuft noch«, blocke ich ab. Ich hoffe, dass Isak noch irgendwo verborgene Talente hat, ein schlaues Buch oder einen versierten Kollegen in Übersee, der ihn anleitet. Sven, der die Obduktion begleitet, mag zwar Krimiserien - hauptsächlich, um die schlecht recherchierte Polizeiarbeit anzukreiden -, aber ob er Tipps geben kann, bezweifle ich. Isak wird sich von einem belesenen Polizeibeamten sowieso nicht ins Werk pfuschen lassen.
»Dann könnte sie noch leben? Gott sei Dank! Wer weiß, welches arme Mädchen das Opfer ist«, haucht er erleichtert.
Ich schaue ihn durch die Gitterstäbe an. »Wollen Sie den Verstand von drei Personen anzweifeln, die Ihre Schwester identifiziert haben?«
»Welk?«, erfragt er, wer die Personen sind.
»Unter anderem der Bürgermeister und der Polizeichef«, zähle ich auf und mich mit. Den Arzt lasse ich außen vor, sonst müsste ich ihm noch etwas zu Gute kommen lassen.
»Sie kennen meine Schwester?«
»Djong, wir sind in Lun. Man geht aus der Tür und sieht alle Halunder, wenn man sich einmal um die eigene Achse dreht. Willst du mir sagen, dass du jemanden nicht kennst?«
Der Junge, wie ich ihn betitelte, starrt zu Boden. »Gesehen hat man jeden schon, aber ich könnte sie nicht alle beim Namen nennen.«
»Das musst du auch nicht. Es genügt, wenn das der Bürgermeister und der Polizeichef können. Glaube mir, wenn ich dir sage, dass deine Schwester einem Verbrechen zum Opfer fiel.«
Ich lasse ihm ein paar Sekunden. Er ist alt genug, um zu verstehen, dass es sich hier weder um einen harmlosen Nachbarschaftsstreit noch um eine verstaubte Familienfehde handelt. Die Fotos der Toten will ich ihm ungern unter die Nase halten. Kein schöner Anblick. Wenn sie nach der Obduktion zusammengenäht ist, werde ich die Angehörigen zu ihr führen.
»Ist Lotte ganz sicher gestern mit der letzten Fähre aufs Festland gefahren?«, starte ich die Befragung mit Nachdruck.
Er nickt gewissenhaft. »Ganz sicher. Ich stand am Steg und hab ihr gewunken.«
»Und sie ist nicht wieder zurückgekommen?«
»Es war die letzte Fähre abends.«
»Wo wollte sie hin?«
»Zu einer Freundin in Büsum.«
Ich gebe ihm Zettel und Stift. »Name, Adresse, bestenfalls noch Telefonnummer.«
Er kritzelt auf dem Papier herum und gibt es mir wieder. Neele Schmidt. Der Name ist vollständig; bei der Adresse klaffen Lücken bei Straße und Hausnummer; eine Telefonnummer vermisse ich gänzlich.
»Sorry«, weicht er betrübt aus.
»Ole!«, rufe ich durch die Station.
»Ja, Öppers«, hüpft der Gerufene nach einem Moment mit einem dampfenden Kaffee um die Ecke.
»Hör auf, mich Öppers zu nennen«, flüstere ich ihm zu, doch er lächelt spitzbübisch. Öppers bedeutet Boss. Wir sind im selben Alter. Kinder und die Beförderung zum Oberkommissar fehlen ihm noch, um an meinen Erfahrungsschutz heranzureichen. Ich gebe ihm den Zettel.
»Überprüf das. Und schaut euch die Passagierliste der letzten Fähre gestern Abend an. Klingelt die Leute raus, wenn nötig, aber sagt nicht, worum es geht. Wir wollen keine Panik verbreiten.«
»Geht klar, Öppers.«
»Ach, Ole«, stoppe ich seinen Abgang. »Prüft auch, ob es nach der letzten Fähre noch irgendwelche Ankünfte gab: Privatboote, Flugzeuge et cetera.«
»Uun Odder!«
In Ordnung. Seine Ausrufe kenne ich, seit ich den ersten Fuß auf die Insel gesetzt habe.
»Geben Sie mir Lottes Handynummer«, bitte ich den Bruder freundlich und notiere die Zahlen, merke jedoch, dass er sich allmählich eingesteht, dass seine Schwester tot ist. Lethargisch scheint er die Gitterstäbe zu zählen, die uns trennen.
»Was trug sie, als sie Lun gestern verließ?«
Er überlegt, kratzt sich am Kopf, reibt in seinem Gesicht. »Ein helles Kleid und eine dunkle Jacke.«
Ich notiere. Dann suche ich ein Foto vom Fundort, worauf man ihr Kleid sieht, jedoch weder Blut noch die offene Schnittwunde am Hals.
»Dieses Kleid?«, zeige ich ihm das entschärfte Foto.
Er nickt traurig. »Ist sie das?«
»Ja.«
»Kann ich sie sehen?«, wiederholt er, diesmal allerdings auf die Bilder aus.
»Nein. Das sind verstörende Bilder. Behalten Sie Lotte so in Erinnerung, wie sie war.«
Er sieht es ein, senkt seinen Kopf, inhaliert den Kamillendampf aus der Tasse.
»Hatte sie eine Handtasche bei sich?«
»Nein, warum?«
»Also hat sie ihre Habseligkeiten in der Jackentasche?«
Ich ernte fragende Blicke.
»Handy, Portemonnaie?«
»Ach so, ja. Meistens in ihrer Jacke.«
»Hatten Sie mit ihr Kontakt, nachdem sie fuhr?«
Er schüttelt den Kopf. Gleichzeitig offeriert er hilfsbereit sein Handy. »Schauen Sie selbst.«
Ich durchstöbere Nachrichten und Anrufe. Dankbar gebe ich ihm seinen Begleiter wieder.
»Können Sie mir ein aktuelles Bild von ihr schicken?«
»Natürlich.« Er klickt durch seinen Speicherort.
Die Zieladresse muss ich ihm nicht nennen. Jeder Halunder hat die Kontakte der Polizei irgendwo vermerkt. Bald vibriert mein Diensthandy. »Danke«, weil ich davon ausgehe, dass es das aktuelle Bild von Lotte ist.
Nachdem ich ihn noch nach dieser Neele Schmidt, Lottes Gewohnheiten und ihren anderen Kontaktpersonen ausgefragt habe – ohne nennenswerte Ergebnisse, die aber trotzdem eine ganze Seite in meinem Notizblock füllen -, bringe ich ihm Kissen und Decke. Die Zellentür lehne ich an, damit er eigenständig auf die Toilette gehen kann. Nach seiner emotionalen Ausnüchterung ist er schließlich nur noch freiwilliger Zellengast.
Folgend hacke ich alle bisherigen Erkenntnisse in den Computer ein. Das Schreiben ist mir nicht fremd, nur Fülle und Ursache verlangen mir einiges ab. Neben mir drückt der Orkan gegen das Fenster, als wolle er mir über die Schultern schauen. Unstet prasselt Regen an die Scheibe, wie Maschinengewehrsalven. Im durch eine Flutmauer geschützten Hafenbecken, wo unsere Polizeistation für Wasserschutz und Zivilschutz unscheinbar angrenzt, schaukeln die Boote gespenstisch. Ich kann das Rasseln der Ankerketten und das Schleifen der Taue hören. Durch den sturmbedingten Nebel und die Nacht sehe ich vereinzelt Reflexionen und Lichter – Signallichter, Warnlichter -, doch ansonsten frisst die Dunkelheit alles auf.