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Jungfrau
ОглавлениеVier Stunden nach dem Auffinden der Leiche, noch vor Sonnenaufgang, gibt es die erste Sondersitzung in der Polizeistation. Außer uns vieren sind noch der Bürgermeister, der Feuerwehrkommandant und der Kuurfutsker dabei, den Sven nach der Obduktion mitbrachte. Kurpfuscher, weil Heiligland ein Kurort und Isak, meiner Meinung nach, ein pfuschender Quacksalber ist.
Der Kurpfuscher wiederholt seine Aussage zur Todesursache. Den Todeszeitpunkt konnte er mittels Körperkerntemperatur auf zwei bis vier Stunden vor dem Auffinden eingrenzen, womit eine mögliche Flucht des Täters mit der letzten Fähre gestern Abend ausgeschlossen ist. Ich bin erleichtert, denn Enna, Ivo und Fee sind nicht mit einer Bestie zum Festland gereist.
»Ein gewöhnlicher Mord an einem ungewöhnlichen Ort«, scherzt er unangebracht. Keiner lacht. Nach der fruchtlosen Pointe ergänzt er überheblich, mit erhobenem Finger: »Allerdings gibt es eine Abweichung.«
Er wartet, bis er unsere Aufmerksamkeit hat, gemischt mit Gähnen.
»Lotte Fisker war Jungfrau.«
Jedem schläft das Gesicht ein. Meine Augenbrauen heben sich boshaft.
»Was hat das mit dem Mord zu tun?«, gifte ich, obwohl ich weiß, dass eine ausgeschlossene Vergewaltigung ein hilfreiches Indiz ist und dass ein bestellter Rechtsmediziner alles untersucht. Einfach alles. Hätte ich dem Kuurfutsker nicht zugetraut.
Doch der schmunzelt erhaben. »Beruhigen Sie sich, Jansen.«
Zu unserer Verwunderung rollt er ein Poster aus und pinnt es an die dafür vorgesehene Tafel. Ich höre, wie jeder den Atem anhält; sehe, wie sich Meitje und der Bürgermeister wegdrehen. Ole verzieht das Gesicht.
Anscheinend hat Isak weder Kosten noch Mühen gescheut, um uns die Abweichung zu präsentieren. Auf dem gedruckten Foto sehen wir Lottes Genitalien. Auch ich muss für einen kurzen Moment wegsehen. Sie war noch nicht ganz volljährig, hatte einen hübschen Körper und erfüllte entsprechende Fantasien von Abschaum, den die Unberührbarkeit Minderjähriger reizt. Sie wurde nicht nur ermordet, sondern scheinbar auch verstümmelt oder vergewaltigt. Getrocknete Blutspritzer besprenkeln ihren Schritt.
»Hier«, zeigt Isak ungeniert auf die Unschuld. »Sie war Jungfrau, bis man ihr den Hymen herausschnitt. Vor kurzem erst. Postmortal, denn es fehlen Blutgerinnung, Wundheilung und Blutkaskaden.«
Unsere unaufgeklärten Blicke nötigen ihn zu genauerer Benennung.
»Jungfernhäutchen, wobei dieser Begriff nicht mehr zeitgemäß ist, denn die moderne Wissenschaft hat längst widerlegt, dass es ein Häutchen ist. Vielmehr gibt es verschiedene Formen, keine davon ist einer durchgehenden Hautschicht ähnlich, außer bei sehr seltenen Fehlbildungen. Es ist eher ein Kranz um die Vaginalöffnung oder ein löchriger Vorhang«, prahlt er mit vermutlich schnell angeeignetem Kurzzeitwissen, angereichert durch Bröckchen aus seinem Langzeitgedächtnis.
»Und woher wissen Sie dann, dass sie Jungfrau war?«, bohrt Meitje skeptisch nach, während sie unterm Tisch ihr Smartphone bedient. Wahrscheinlich holt sie eine zweite Meinung ein – im immer wieder zusammenbrechenden Internet. Isak hat bei keinem von uns einen guten Stand.
»Jetzt fragen sie sich sicherlich, wie ich das so genau ermitteln kann«, übergeht er ihren Einwurf, »Nun, ich habe Lotte Fisker eingehend untersucht. Ihre Scheide ist gänzlich unverletzt, unbefleckt sogar, würde ich behaupten. Keinerlei innere Verletzungen, keine Abschürfungen oder Druckstellen, keine Knoten, keine Verhärtungen, keine Ablagerungen. Eine jungfräuliche Vagina wie aus dem Lehrbuch. Man hat ihr lediglich den Hymen herausgeschnitten, sehr sauber wohlgemerkt. Die Schleimhaut wurde fast schon fachmännisch vom Vaginalmuskel getrennt. Das Blut, das sie sehen, täuscht. Es handelt sich lediglich um wenige Tropfen, die aufgrund des Schnittes hervortraten und sich aufgrund des vorangegangenen Todes nicht weiter vermehrten. Würde sie noch leben, wäre sie in einigen Tagen wieder schmerzfrei empfängnisbereit, wenn ich das mal so lax ausdrücken darf.«
Als jeder noch verarbeitet, nimmt Meitje das Gefecht wieder auf: »Trotzdem muss sie nicht zwangsläufig noch Jungfrau gewesen sein.«
Ein Seitenblick offenbart mir, dass sie ein Internetlexikon zu Rate gezogen hat.
Ignorierte Isak sie vorher, mustert er meine junge Kollegin nun despektierlich. »Stellen Sie meine fachliche Kompetenz infrage? Wollen Sie weitermachen?«, deutet er gekränkt auf das intime Poster.
»Nein, ich will nur nichts ausschließen, was uns helfen könnte«, sagt sie. Meitje, relativ frisch von der Polizeischule. Erst seit vier Jahreszeiten schiebt sie Dienst auf Lun, seit zwei Jahreszeiten an der Seite von Ole, auch privat.
Isak plustert sich auf, holt tief Luft. Sein Kopf färbt sich rot; seine Adern treten hervor. »Wie viele Fotzen haben Sie denn schon gesehen, Puusiken?«
»Basta!«, fahre ich dazwischen, dabei stehe ich hastig auf. Die Stuhlbeine quietschen über den Boden. Ich bleibe am Tisch hängen und verrutsche ihn ein paar Zentimeter, was ebenso unangenehme Geräusche verursacht.
Puusiken kann ein liebevolles Kosewort für kleine Hosenscheißer sein, aber seltener, wie hier, auch eine negative Bedeutung haben. Zumal Isak sich schon vorher im Ton vergriffen hat. Wir sind alle sehr angespannt.
»Halten wir fest: Lotte Fisker wurde das Jungfernhäutchen nach dem Tod gestohlen, und es sieht nicht nach einer sexuellen Vergewaltigung aus.« Ich sehe verächtlich zu Isak, um die Bestätigung einzuholen, von Angesicht zu Angesicht, auf Augenhöhe.
Der nickt und ergänzt: »Der Anus ist ebenfalls unbenutzt.«
Ich schlucke, wie wahrscheinlich jeder andere auch. Wieder schafft es der Dicke in Niemandsland vorzudringen.
»Was wir nicht wissen, ist, ob sie zweifelsfrei Jungfrau war. Können wir das so im Bericht vermerken?« Meine Worte kommen wie Kanonenschüsse aus meinem Mund.
»Durchaus«, gibt Isak erhobenen Hauptes klein bei, was ich nicht erwartet hätte.
»Schön. Nächster Punkt«, schließe ich und fahre fort, nachdem ich Isak zu verstehen gab, dass er das Zeugnis ihres Verlustes abnehmen solle. »Sie hatte weder Dokumente noch Handy bei sich. Laut ihrem Bruder verstaute sie die Sachen in ihrer dunklen Jacke, die fehlt. Wir haben versucht ihr Handy zu orten, aber erfolglos, vielleicht auch wegen des Sturms. Ich habe daraufhin das Festland informiert, wo eine zweite Ortung negativ verlief. Sollte ihr Handy noch irgendwo auf der Insel sein, besteht die Chance, dass wir es in den kommenden Tagen finden, sobald der Sturm nachlässt. Wir bleiben da dran.«
Isak legt mir noch den Totenschein hin, den er als Arzt auszufüllen hat. Mit einem flüchtigen Blick erfasse ich die Daten, die er uns eben auch schon dargelegt hat.
»Werde ich noch gebraucht?«, fragt er süffisant.
Eine Handbewegung von mir gewährt ihm freies Geleit. Grußlos verschwindet er. Anscheinend läuft er lieber bei Regen und Wind zurück zur Klinik als sich von uns chauffieren zu lassen. Hoffentlich denkt er daran, Lottes Leichnam kaltzustellen, damit noch was übrig ist, wenn die richtigen Rechtsmediziner kommen.
»Das darf nicht hochkochen«, sagt der Bürgermeister besorgt. »Ein paar der alten Halunder nehmen das Gesetz gern selbst in die Hand.«
»De Boak, zum Beispiel?«, wirft der Feuerwehrkommandant vorsichtig ein, und meint den alten Leuchtturmwärter.
»Zum Beispiel«, entgegnet der Bürgermeister. »Einen Lynchmord gilt es zu vermeiden. Habt ihr ihn im Blick?«, richtet er das Wort an mich.
»De Boak?«, frage ich überrascht. Ein buckeliger, humpelnder Greis, der im Leuchtturm lebt und arbeitet. Ein Einzelgänger. Ein Eremit. Der könnte keiner Fliege was zu Leide tun.
»Ihr sollt ihn ja nicht einbuchten, nur ein Auge auf ihn werfen«, bremst der Bürgermeister.
Ich blättere durch mein Notizbuch. Die wenigen Zeilen, die ich de Boak gewidmet habe, lese ich mir mehrmals durch. Seine Aussage ist vertrauenswürdig, stimmig, nachvollziehbar. Jeder hier kennt ihn seit der Geburt, oder wie ich, seit Einbürgerung. Er ist einer der ältesten noch lebenden Halunder.
»Er ist unsere Lebensversicherung«, meint der Feuerwehrkommandant und scheint seinen Einwurf zu bereuen. »Ohne ihn geht das Feuer aus und wir sind zum Abschuss freigegeben.«
»Es gibt Technikpläne und Verfahrensanweisungen«, spielt der Bürgermeister den Wert des Leuchtturmwärters herunter. »Jeder könnte seinen Platz einnehmen, aber keiner will es.«
»Verdächtigen Sie de Boak?«, raunt Sven, der Älteste unter uns, unaufgeregt.
»Nein, um Gottes Willen«, rudert der Bürgermeister zurück. »Aber manche Halunder könnten nach so einer Nacht den Verstand verlieren.«
»Dann müssten wir Gretchen und Wessel auch beschatten«, bringe ich die Fremdenführerin und die Pfarrerin ins Spiel, »Außerdem noch die Fiskers und Klaasson«, die Hoteliers und den Ornithologen. »Und was ist mit den Leuten, die wahrscheinlich just in diesem Moment über die Inselstrippe davon erfahren? Wo fangen wir an, wo hören wir auf? Wir sind zu viert!«
»Nicht beschatten«, korrigiert der Bürgermeister, »nur im Auge behalten. Wir sollten ihnen klarmachen, dass Klatsch und Tratsch zum Aufruhr führen können. Je mehr Leute davon Wind bekommen, desto gefährlicher.«
»Wenn wir hier rausgehen, weiß es sowieso schon jeder, der noch hier ist«, prophezeit Ole düster. »Die Jungen sind online vernetzt und die Alten machen es über Stille Post. Egal, ob mitten in der Nacht oder während des stärksten Sturms der vergangenen Jahre. Sowas spricht sich rum wie ein Lauffeuer.«
Aber der Bürgermeister hat Recht. Erstens, einen Lynchmord, meistens ein Unschuldiger – womöglich sogar einer der osteuropäischen Saisonarbeiter, die nach der lukrativen Sommersaison auch die zähe Wintersaison durchmachen -, gilt es zu vermeiden. Zweitens, Leuchtturmwärter de Boak ist ein verschlossener Mensch mit Schlüsselgewalt und zudem der Entdecker der Leiche. Wer käme in Frage, wenn nicht er? Dass ich ihm nicht zutraue, einer jungen Frau die Gurgel zu durchtrennen und ihr das Jungfernhäutchen abzuschneiden, steht auf einem anderen Papier.
»Was schlagen Sie vor, Jansen?«, will der Bürgermeister Maßnahmen aus mir herauskitzeln.
»Transparenz, Präsenz, Urgenz, Kondolenz und Karenz«, zitiere ich frei aus dem Handbuch für Ermittlungstaktik und nutze die Finger einer Hand, um aufzuzählen.
Meitje lächelt heimlich. Ole verdreht die Augen. Sven verzieht keine Miene.
»Offenheit, Bestreifung, Dringlichkeit, Mitgefühl und Verzicht«, übersetze ich für die, die auf dem Schlauch stehen – der Feuerwehrkommandant, zum Beispiel. »Wir sollten unser Wissen und unser Mitgefühl mit der Insel teilen, uns zeigen, im Hintergrund konsequent ermitteln und uns allen eine Phase der Enthaltsamkeit auferlegen, denn sonst kann es außer Kontrolle geraten.«
»Was meinen Sie mit Enthaltsamkeit?«, hakt der Bürgermeister nach.
»Keiner geht, keiner kommt, bis wir den Täter haben. Wir drosseln das Leben auf das Notwendigste.«
Der Orkan arbeitet für uns.
»Eine Ausgangssperre?«, will er mir etwas in den Mund legen, wobei er nervös seine dünne Brille verrückt.
»Nein. Solidarität und Eigenverantwortung. Wir informieren die Halunder und appellieren an deren Vernunft und Mithilfe. Eine öffentlichkeitswirksame Fahndung, sozusagen. Ich glaube, dass sich kaum einer auf die Straße traut, wenn ein Mörder unter uns weilt. Der Sturm ist Segen und Fluch zugleich. Wir sind abgeschnitten – ohne Hoffnung auf Verstärkung. Aber dafür kann der Täter auch nicht weg. Er ist schon im Gefängnis, merkt es nur noch nicht.«
Der Bürgermeister wirkt angespannt. Ihm scheint nicht zu behagen, dass die erste morgendliche Nachricht, die in Lun die Runde macht, den Mord an einem Eigengewächs, an der nächsten Generation, an der Zukunft, beinhaltet.
»Sollen wir die Armee mobilisieren?«, schlägt er vor.
Auf Heiligland ist ein Such-und-Rettungshubschrauber der Deutschen Marine stationiert. Eine Handvoll spezialisierte Soldaten. Dass ich ihn nicht daran erinnern muss, dass wir dafür die Zustimmung des Landtages in Kiel benötigen, sehe ich seinen abwägenden Blicken an. Mein Blankoscheck von Gericht und Staatsanwaltschaft schließt nicht den Einsatz der Bundeswehr ein. Seinen Einwurf lasse ich deshalb unkommentiert.
»Ole«, will ich die Besprechung vorantreiben, »was hat die Recherche zur Fähre, der Freundin und den späteren Ankünften ergeben?«
»Lotte Fisker war, laut Liste, unter den Passagieren, die Lun gestern Abend mit der letzten Fähre verlassen haben. Richtung Büsum.«
»Schkit!«, rutscht es mir heraus. Scheiße!
»Uns fehlt also das Puzzleteil wie sie wieder hergekommen ist«, umschreibt Meitje meinen Ausruf. »Weder Hafenmeister noch Fluglotse haben Kenntnis über private Rückkehrer. Der Flughafen ist ohnehin seit gestern Nachmittag geschlossen und evakuiert, genauso wie Hallem.«
Hallem, die kleine Nebeninsel, auf der sich der winzige Flugplatz befindet.
»Es kommt aber noch dicker«, warnt Ole vor. »Seit gestern Abend wird Neele Schmidt vermisst, die Freundin, zu der Lotte angeblich wollte. Ich habe vorhin die Info aus Büsum bekommen. Ihre Eltern können sie weder finden noch erreichen. Laut deren Aussage, ist sie noch nie ausgebüxt und es sähe ihr wohl auch nicht ähnlich.«
»Noch eine Hiobsbotschaft?«, frage ich in die Runde. Die Vorzeichen, den Fall aufzuklären, stehen nicht gut.
»Eins der Fahrräder ist kaputt«, berichtet Sven stoisch. »Kette gerissen. Keine Ersatzteile.«
Er schaukelt mit den Schultern, als wir ihn alle anschauen. Bullenhumor. Kein Außenstehender kann das verstehen, aber ohne Humor, so makaber er manchmal auch sei, lässt sich das nicht auf Dauer aushalten. Auf Lun vergisst man den Ernst und die zehrende Polizeiarbeit manchmal, weil man sich hier nicht primär als Ordnungshüter definiert, sondern als Nachbarschaftshilfe.
»Und zum Fall?«, konkretisiere ich.
Kopfschütteln, Gähnen, Stieren. Dazwischen Nippen an den Kaffeetassen. Sven dreht sich schon eine Zigarette.
»Soll ich die übrigen Kameraden einberufen? Wir könnten beim Klinkenputzen unterstützen«, bietet der Feuerwehrkommandant an, der auf knapp 40 freiwillige Helfer zurückgreifen kann, wobei jetzt wahrscheinlich nur noch eine Handvoll hier sein dürfte – die Alters- und Ehrenabteilung, denn die Jugend wurde ausnahmslos von der Insel geschafft, um den Fortbestand der Halunder zu sichern. Lotte ist die Ausnahme – ungewollt.
Oles Blick drückt das aus, was ich denke. Was, wenn einer dieser Freiwilligen der Täter ist? Er könnte uns manipulieren, in die Irre führen. Mit der ersten Fähre nach dem Orkan wäre er spurlos verschwunden. Oder er hat ein eigenes Boot und wagt den Weg zum Festland in den schwachen Ausläufern des weiterziehenden oder verebbenden Orkans.
»Wir kommen darauf zurück, wenn es nötig ist«, bedanke ich mich höflich. »Sensibilisieren Sie Ihre Leute aber auf jeden Fall. Nicht nur der Sturm könnte zu Einsätzen führen.«
Er murmelt Bereitschaft und macht sich auf den Weg. So reduziert sich die Runde stetig.
»Alle Ankünfte werden verzeichnet«, denke ich laut nach und erhalte Zustimmung. »Was ist mit denen, die unter dem Radar durchflutschen oder gar nicht erst anlegen, sondern nur im Nahbereich ankern und vielleicht mit Minibooten oder Muskelkraft ans Ufer kommen?«
»Sehr gewagt bei dem Wellengang«, sagt Meitje.
»Aber möglich, unter Lebensgefahr«, ergänzt Ole.
»Und wenn es noch jemand vor dem Sturm geschafft hat? Nach der letzten Fähre?«, denke ich weiter.
»Lotte war zweieinhalb Stunden bis Büsum unterwegs, noch einmal zweieinhalb Stunden, oder mit einem Schnellboot knapp über eine Stunde zurück«, rechnet Ole, »Ankunft wäre mitten in der Nacht gewesen, wo der Sturm schon wütete. Dafür bräuchte es einen vollgetankten Seenotkreuzer mit wagemutigem Kapitän, um dem Wellengang zu trotzen. Und selbst dann wäre der nicht unbemerkt eingelaufen. Kleinere Schiffe wären gekentert oder zerschellt, ganz sicher.«
»Könnte sie während der Überfahrt zum Festland umgestiegen sein, auf ein kleineres Boot, das herangefahren ist und sie aufgenommen hat?«, laufe ich im engen Besprechungsraum umher.
»Nein«, ist sich Meitje sicher, »Das hätte dokumentiert werden müssen, nicht nur von der Fähre, sondern auch von den Häfen und Lotsen.«
»Ich weiß«, knirsche ich mit den Zähnen, voll in Gedanken. Aber das Besprechen hilft, die Gedanken zu ordnen. Man übersieht schnell etwas, was später entscheidend werden könnte.
»Wenn wir uns Lun anschauen, dann gibt es nur eine Möglichkeit, wo jemand relativ unbemerkt an Land kommen kann: Hallem«, sage ich. Die flache Nebeninsel ohne Bewohner, wo inmitten der Dünenlandschaft unser tagsüber besetzter Flugplatz ist, neben weißen Sandstränden, einem Golfplatz, dem Friedhof der Namenlosen – für auf See gebliebene Seelen – und einem Campingplatz sowie einem Bungalowdorf nebst Anlegestelle für den Transfer von und zur Hauptinsel, außerhalb der Hauptsaison alles außer Betrieb. »Aber wie würde dieser Jemand nach Bopperlun, Meddellun oder Deelerlun gelangen, wenn doch alle Verbindungen eingestellt sind?«
»Mit der Strömung als Fischfutter«, antwortet Sven mit tiefer Stimme, den Blick auf seinen bröseligen Tabak in der Papierrolle gerichtet.
»Oder sie ist gar nicht erst eingestiegen«, wirft der Bürgermeister ein. »Vielleicht hat sie jemand davon abgehalten oder sie hat gelogen.«
»Ihr Bruder bezeugt ihre Abfahrt«, kontere ich sachlich.
»Und wenn der auch lügt?«, stichelt der Bürgermeister weiter.
»Wieso sollte er?«
»Um seine Schwester zu schützen.«
»Bürgermeister«, er hat einen Namen, Hans Kniiper, aber alle nennen ihn schlicht Der Bürgermeister, »Ich glaube nicht, dass die Familie Fisker so unverfroren ist. Das sind Halunder. Die lieben ihre Insel und das spartanische Leben. Deren Kinder sind wohlerzogen und würden uns nicht anlügen. Alles, was gesagt oder getan wird, kommt in Lun auf einen zurück. Niemand der Fiskers würde es riskieren, seine Familie zu beschmutzen. Das sind ehrwürdige Leute.«
Und manchmal Raufbolde, wie sich herausstellte.
»Sie lehnen sich weit aus dem Fenster für die Fiskers«, wundert sich der Bürgermeister und rückt seine Brille hoch.
»Jeder ist unschuldig, bis dessen Schuld eindeutig bewiesen ist«, weiche ich aus, mit einer Notiz in meinem Büchlein, dass ich der Familie Fisker auf den Zahn fühlen sollte.