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Möwe

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Ich schreibe meiner Frau Enna eine Nachricht, dass es eine Mordermittlung auf Lun gibt. Ich verschweige ihr nichts, sie würde es sowieso erfahren. Außerdem ist sie mein Ruhepol. Wenn mir etwas auf dem Herzen liegt, ist sie der Seelsorger, dafür muss sie wissen, was mich beschäftigt. Den Namen des Opfers gebe ich ihr auch noch, ehe sie ihn unter der Hand erfährt.

Um die Verbreitung der Meldung zu steuern, und Irrläufer oder Verschwörungstheorien zu verhindern, weihen wir alle registrierten Bewohner ein – unabhängig von ihrem Aufenthalt hier oder vorübergehend auf dem Festland -, ohne das genaue Verletzungsmuster zu erwähnen. Über die Polizeidatenbank und das Bürgersystem vom Rathaus erreichen wir so nahezu die gesamte Gemeinde. Rechtzeitig zum Sonnenaufgang, den wir nicht sehen, denn tosende Sturmwolken und tobender Regen halten uns in Schach.

Mit der Eilmeldung fordern wir Hinweise, wonach wir uns auf einen langen Bearbeitungstag einstellen. Die Kaffeemaschine ist im Dauerbetrieb.

Bevor die ersten Hinweise eintrudeln, teilen wir vier uns auf, um die Häuser abzuklappern. Vor allem die Gegend um den Leuchtturm, das Hotel Fisker und die Anlegestellen nehmen wir unter die Lupe. Wegen der Evakuierung und der Mordmeldung gehört die Straße uns. Von Hauswand zu Hauswand hangeln wir uns, um die kräftigen Böen zu umgehen. Eigentlich mag ich es nicht, wenn wir uns bei dem Wetter draußen ungeschützt bewegen und dann auch noch vereinzeln, aber Eile ist geboten, denn unter den Halundern lauert ein perfider Halunke.

Bis zum Mittag sind wir das betroffene Gebiet abgelaufen, konnten aber nichts Essentielles in Erfahrung bringen. Natürlich gibt es ein paar Hinweise. Die sind allerdings meistens aus der Luft gegriffen. Nicht selten kommen dabei unglaubliche Geschichten zu Tage, die nichts mit dem Fall zu tun haben. Die meisten Häuser sind mit Holzplatten vernagelt, gänzlich unzugänglich. Selbst ein Flüchtender würde dort nicht unbemerkt hineingelangen.

Während unserer Stippvisite begleitete uns das Glockenläuten, oder Ringeln, das den Tod eines Einwohners beklagt. Immer wieder trugen die starken Windböen das Geläut fort, doch dazwischen hörten wir die traurige, eintönige Melodie.

Sven, Ole und Meitje lasse ich ab Mittag allein mit den gesammelten und eingetrudelten Hinweisen. Zusätzlich versuchen sie zyklisch Lottes Handy zu orten – über ein hochmodernes Programm, das uns Laien zur Verfügung gestellt wurde. Bisher leider brotlos. Der Kontakt nach Büsum steht, um die Entwicklungen im Vermisstenfall Neele Schmidt mitzubekommen. Ihre Eltern konnten wir zwischenzeitlich erreichen, um zu erfahren, dass Lotte nie bei ihnen angekommen ist, Neele sie am Hafen abholen wollte und selbst nicht mehr wiederkam.

Nach einem kurzen Abstecher nach Hause, wo ich mich erleichtere, Zähne putze, die Essenz meiner Liebsten sehnsüchtig und besorgt einsauge sowie eine Kaugummipackung einheimse, statte ich dem Leuchtturm einen weiteren Besuch ab. Der E-Golf kämpft gegen die Witterung, aber der Akku ist voll, wodurch die verbauten Maschinen aus den Vollen schöpfen können - müssen.

»Beseek en Fesk schtjunkt om tree Dai«, begrüßt mich der knorrige, bärtige de Boak gegen die Wucht des Orkans. Besuch und Fisch stinkt nach drei Tagen. Er hat nicht so gern Besuch, eben ein Eigenbrötler, der hier, am Ende der Deutschen Welt, seinen Lebensabend genießt. Warum sollte er diesen durch einen unüberlegten Mord im alten Atombunker seines Leuchtturms gefährden? Für mich ist er kein Verdächtiger, aber vielleicht ein wichtiger Zeuge.

»Hartli Welkoam«, fügt er hinzu, weil er offenbar selbst merkt, dass er so schroff wie die Küste ist. Herzlich Willkommen.

»Moin!«, erwidere ich den Gruß, ungeachtet unserer nächtlichen Begegnung vor nicht allzu langer Zeit.

Oben in der Glaskuppel, unter dem rotierenden Leuchtfeuer, auf zerschlissenen, gemütlichen Ledersesseln mit Ohren und aufgepolsterten Lehnen, frage ich ihm Löcher in den Bauch, doch alles, was er mir sagen kann und aus der Nacht wiederholt, ist, dass er die Kleine bei einem Kontrollgang entdeckt habe und daraufhin zu Klaasson, dem Finkenkearl – Vogelkundler - und Gemahl von Gretchen, der Fremdenführerin, gelaufen sei, der wenige Meter vom Lampentoorn – Leuchtturm - wohnt.

»Wieso haben Sie nicht uns angerufen?«, zeige ich zum Uralttelefon auf der antiquierten Bedienkonsole in Reichweite.

»Schandarms?«, kommt es fast schon spöttisch aus seinen lückenhaften, gelblichen Zahnreihen. Ich glaube nicht, dass er die Gendarmerie verabscheut. Ich glaube, dass er einfach zu einem Schlag Halunder gehört, der ganz gut ohne die Staatsmacht auskommt.

Anschließend zuckt er mit den Schultern. Sein schuldbewusster Blick schweift in die Ferne.

»Sie haben nichts falsch gemacht, de Boak«, lindere ich die Vorwürfe, die er sich offenbar einredet. »Ich frage mich, wie jemand ohne Schlüssel in den Bunker gelangt, dort eine vermutlich schon tote Frau ablegen und ungesehen verschwinden kann.«

»De Orkoan«, nickt er in das Unwetter vor den dicken, gerundeten Scheiben, und versucht wohl der Ausnahmesituation etwas anzudichten.

Ich habe keine Einbruchspuren gefunden, als ich mir den Zugang noch einmal genauer angeschaut habe. Auch das Schlüsseldepot schien unberührt zu sein. Könnte man den Alarmkontakt des Schlüsseldepots überbrücken? Ich stelle die Frage de Boak.

Der hat keinen Schimmer wovon ich rede.

Plötzlich kommt mir eine Eingebung. »Wie alt ist das Gebäude?«

Er winkt ab. »Krukool.«

Uralt.

Weiß ich eigentlich, aber ich will das Gespräch aufrechterhalten, ohne ihn zu langweilen, zu verlieren oder zu grämen.

»Und wie alt ist die Schließanlage?«

Das weiß ich wirklich nicht.

Er kratzt sich am Bart. »Ferlech twinti Djooar.«

Vielleicht zwanzig Jahre.

»Gibt es Unterlagen über den Einbau? Welche Firma, welcher Monteur?«

De Boak pustet die Wangen auf. Dann springt er hoch, öffnet einen verstaubten Schrank und kramt in alten Ordnern. Währenddessen schaue ich mich um, nicht als Polizist, sondern als technikbegeisterter Romantiker. Trotz des Würgegriffs der Natur fühlt man sich hier oben irgendwie geborgen. Das ununterbrochen kreisende Leuchtfeuer, das so hell ist, dass man nicht direkt hineinsehen sollte – erst recht nicht aus dieser Nähe -, vermittelt Sicherheit, auch wenn es nur ein helles Licht ist. Wie ein friedvoller Motor pulsiert die Drehvorrichtung, die einen eigenen Turm im Turm darstellt. Es riecht nach Holz, Elektronik, warmem Glas und kaltem Stein.

Ein Zettel raschelt neben mir. Der Alte reicht mir das Schriftstück.

»Twinti Djooar«, bestätigt er seine Schätzung.

Das vergilbte Papier mit dem verblichenen Druck ist Arbeitsnachweis und Rechnung zugleich. Den Firmenstempel sieht man mit bloßem Auge nicht mehr. Dafür bräuchte man einen Fachmann mit Mikroskop und Kontrastmittelchen, spezielle Beleuchtung und Vergleichsproben. Aber den Namen des Monteurs kann ich entziffern.

Ich muss zweimal hinschauen, blinzeln, augenreiben, das Papier zu mir führen und wieder weg. Es verschlägt mir die Sprache. Für einige Minuten hören wir nichts als den Sturm und das gleichmäßige Rattern des Kugellagers. Den Leuchtturmwärter stört diese Stille scheinbar nicht. Er sitzt mir gegenüber in seinem Ohrensessel und schaut verträumt zum Meer, das hohe Wellen schlägt und schäumt.

Sofort mache ich ein Foto von dem Beleg, der H. Kniiper als ausführenden Handwerker überführt. Vermutlich Hans Kniiper. Der Bürgermeister. Sein Vater, Urgroßvater oder Bruder, wenn der Vorname Hans öfter in der Familie vorkommt, oder sein Bruder Horst oder Helge oder wie auch immer er heißt, sollte es einen Bruder geben. Auf jeden Fall ein Mitglied der Familie Kniiper.

Dass de Boak nicht mehr weiß, wie damals die Übergabe erfolgte, nehme ich ihm nicht krumm. Er ist ein sehr alter Mann mit vielen Erinnerungen, die sich überlagern, vermischen und auslöschen.

Zum Schluss reißt er sich noch ein Haar heraus, das ich überrumpelt aber automatisch in eine kleine Plastiktüte packe, um es später einem möglichen DNS-Test zuzuführen, sollten sich auf Lottes Leib oder an ihrer Kleidung Spuren fremder Personen finden.

»Fer de Önnerseekung«, sagt er augenzwinkernd. Für die Untersuchung.

Erstaunt stelle ich erst jetzt fest, dass neben jahrhundertealten Literaturklassikern auch moderne Belletristik Platz in seinem Bücherregal gefunden hat. Neben Fantasy-Schwarten sehe ich gegenwärtige Krimimehrteiler und Cyberthriller. Offenbar habe ich de Boak dahingehend unterschätzt.

Im Erdgeschoss prüfe ich das an der Bunkertür angebrachte Polizeisiegel. Unbeschädigt. Mal sehen, ob der Täter den Ort des Verbrechens noch einmal aufsucht. De Boak habe ich dahingehend sensibilisiert. Sollte sich jemand dem Leuchtturm nähern, wird er mich umgehend anrufen.

Im Schritttempo durch menschenleere, regennasse Gassen auf dem Weg zur Familie Fisker, die ich noch einmal genauer befragen will, erreicht mich ein Anruf von der Polizeistation. Ich aktiviere die Freisprecheinrichtung.

»Wir haben was«, meldet sich Ole.

Der trommelnde Regen auf der Windschutzscheibe erschwert das Zuhören. Ich muss die Lautstärke hochregeln.

»Ein Hinweis?«

»Ja, fangfrisch. Wir treffen uns auf der Landungsbrücke.«

Er klingt gehetzt. Offenbar bricht er gerade auf – zu Fuß, denn ich habe das Auto.

Auf der Landungsbrücke, die an den Sommertagen im Minutentakt und an den sturmfreien Wintertagen im Tagestakt die Hauptinsel per Fähre mit Hallem, der dünenartigen Nebeninsel, verbindet, erwartet mich Ole. In der Hand ein Fernglas. Die Kapuze auf halb acht. Mit dem Rücken gegen den Wind. Neben ihm ein besorgter Bürger. Arne Pederson, wenn ich das aus der Entfernung richtig sehe, ein älterer, umgeschulter Verkäufer aus einem der vielen Souvenirshops in den Hummerbuden – bunte, aufgereihte Holzhütten, ehemalige Fischerschuppen, eine der Attraktionen auf Heiligland, warum auch immer. Im Winter vertreibt er sich die Zeit mit Vogelkunde, als Freiwilliger in Diensten der Vogelwarte vom niedersächsischen Institut für Zugvogelforschung, unter der Inselleitung von Klaasson. Auch wenn sturmbedingt gerade selbst die Zugvögel weiterziehen oder sich in den Feuersteinklippen verkriechen.

»Moin, Pederson!«, rufe ich gegen den Orkan, mit der Hand zum Schutz vor den Augen.

»Hallo, Kommissoor!«, schallt es zurück vom rüstigen Rentner. »Skrekli de Soak med de Lotte.«

Schrecklich die Sache mit der Lotte.

»Djoa, was los?«

Ole überreicht mir das Fernglas und zeigt durch den dichten Regenschleier zur vorübergehend stillgelegten Badeinsel.

»Öppers, da haben wir unseren Illegalen«, schreit er. »Pederson hat ihn heute Morgen entdeckt. Wir checken gerade die Kennung.«

Nach einer kleinen Suche durch Wolkenfäden, Nebelschlieren, Wellengischt und Regenschleier finde ich das besagte Objekt: eine Motorjacht im geschützten Anlegebecken von Hallem. Die niedrigen Wellenbrecher hemmen zwar die raue See, doch trotzdem wird die einsame Jacht durchgeschüttelt. Ein massives Tau ist mit dem Anlegesteg verbunden. Der zur anderen Seite geworfene Anker verhindert, dass das Prachtexemplar mit dem Betonsteg kollidiert. Das Teil muss eine halbe Million wert sein. Wahrscheinlich Spielzeug irgendeines Scheichs, Oligarchen oder Unternehmenserben. Prominenter Besuch, der sich herumgesprochen hätte. Fehlanzeige.

»Ich sehe niemanden«, rufe ich, das Fernglas fest gepackt und gegen meine Augenhöhlen gepresst. Am Dünenstrand, den ich ansatzweise erspähen kann, tummeln sich Kegelrobbenkolonien, in denen um diese Jahreszeit Nachwuchs in die Welt gesetzt wird. Die schweren Kolosse haben selbst mit dem Orkan zu kämpfen und verkrümeln sich teilweise in die Dünen, oder tauchen einfach in ruhigere Meeresschichten ab.

»Ich habe auch noch niemanden gesehen, Pederson ebenso wenig«, erwidert Ole laut. »Aber der Zusammenhang ist schon merkwürdig. Eine verlassene, unbekannte Motorjacht im verwaisten Hallem, zusammen mit einem toten Mädchen im ungenutzten Atomschutzbunker des unzugänglichen Leuchtturms.«

»Glaubst du, dass da ein Zusammenhang besteht?«, frage ich und luge zu Pederson, der unbeeindruckt von Oles Mordkomplott scheint. Oder die beiden haben sich schon unterhalten, oder die Nachricht wurde so gestreut, wie wir es wollten.

»Wäre möglich.«

Die Brandung donnert gegen die Landungsbrücke, braust auf und hüllt uns in feuchte Schwaden ein. Wir drehen uns gemeinsam weg, benutzen den Rücken als Schild.

»Hast du ein Foto gemacht?«, nicke ich zum anderen Ufer.

Ole hebt seinen Daumen und wackelt mit ihm. Ein Foto, ja, aber die Qualität muss mies sein. Eben lediglich ein Handy mit eingebauter Kamera und kein Spiegelreflexobjektiv. Für den Anfang reicht das.

»Danke, Pederson. Wir ziehen uns zurück. Tust du mir einen Gefallen?«

»Kloor!«

»Such dir einen trockenen, warmen Unterstand und behalte die Jacht im Auge. Ich rufe dich an, wenn wir mehr wissen. Und du rufst mich an, wenn sich da drüben was tut.«

»Aye, aye, Koptain!«

Auf der Polizeistation wechseln wir die nasse Uniform gegen trockene. Heißer Kaffee wärmt uns auf und weckt neue Lebensgeister.

»Unbekannt«, nimmt Meitje uns die Hoffnung, den ominösen Besitzer zu ermitteln. »Kein Eintrag im deutschen Schiffsregister.«

Eine weltweite Suche würde unsere Personalressourcen vollständig aufbrauchen, und wir wären einen Monat damit beschäftigt den Ämtern hinterher zu telefonieren, mit Dolmetschern Anfragen zu formulieren und Antworten zu dechiffrieren.

»Ein ausländischer Milliardär?«, grübelt sie.

»Das werden wir noch herausfinden«, wage ich den Blick in die Kristallkugel. »Was haben die anderen Hinweise ergeben?«

Sven schüttelt genervt den Kopf. Auch Meitje macht mir keinen Mut mit ihrer Mimik.

»Das kann doch nicht wahr sein!«, fluche ich ins Nichts. »Wie kann man ein Mädchen in einen verschlossenen Bunker teleportieren, ihr den Hals sauber und spritzfrei aufschneiden, sich an ihren Genitalien vergehen und spurlos sowie unerkannt untertauchen? Was übersehen wir?«

Dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen.

»Schkit!«

Ich stürze zur großen, an der Wand aufgehängten Inselkarte von Heiligland. Mit dem Finger tippe ich auf den Leuchtturm. »Der Atomschutzbunker! Es ist nur ein winziger, oberirdischer Teil des Bunkersystems.«

»Der größte Teil des Systems wurde doch von den Briten gesprengt«, steigt Ole in die Geschichtsstunde ein.

Mit dem Finger fahre ich eine gerade Linie ab, vom Leuchtturm bis in die Mitte von Bopperlun. »Da ist der alte Luftschutzbunker. Was, wenn es einen Verbindungsgang zwischen beiden gibt?«

»Das wüssten wir«, raunt Sven gelassen.

»Wussten wir auch, dass vor 20 Jahren die Familie Kniiper die Schließanlage des Leuchtturms ausgetauscht hat?«

»Kniiper, wie der Bürgermeister Kniiper?«, fragt Meitje erstaunt.

Ich öffne das Foto vom Beleg und reiche es herum.

»H. Kniiper«, liest Meitje vor. »Hans?«

»Vielleicht«, serviere ich eine Spur. »Somit hätten wir zwei Fährten, denen wir nachgehen. Kniiper und die Schlüssel. Sowie die Bunker. Wer wüsste denn von vorhandenen Gängen, die noch passierbar sind?«

»Museumsangestellte, Bibliothekare, Soldaten, Einheimische, Fremdenführer«, zählt Ole auf. »Eine Menge Verdächtige.«

Wahrscheinlich mehr als die halbe Insel, von denen wiederum der Großteil vor dem Orkan geflohen ist.

Sven holt seine Dienstwaffe aus dem Waffenschrank, stellt sicher, dass sich keine Patrone im Lauf befindet, prüft den Füllstand des Magazins, klickt es ein, lädt durch, sichert die Waffe, steckt sie in den angelegten Einsatzgürtel, wo schon Taschenlampe, Handschellen und Teleskopschlagstock warten, und schnappt sich seinen Regenponcho. »Den Bunker sehe ich mir an. Dann können wir das zu den Akten legen.«

Ich weite meine Augen, angesichts der Waffe und des geschickten, schnellen Umgangs.

»Sei vorsichtig«, mahne ich perplex, ein knappes Nicken erntend. Ihn abhalten kann ich nicht. Sven ist wie ein Stier, der das wedelnde Tuch sieht.

»Ich horch mal beim Bürgermeister nach«, sagt Meitje, »Eventuell gibt er mit Einblicke in den Familienstammbaum.«

»Und ich telefoniere Lun ab. Womöglich hat ja jemand gesehen, wann die Jacht ankam«, setzt Ole die Aufgabenverteilung fort.

Ich fahre zum Hotel Fisker, wie ich es geplant hatte, und nehme Lottes Bruder mit, der ein paar Stunden in der Arrestzelle geschlafen hat und danach seinen Gedanken nachhing. Ich fahre, denn ich bin der Stellenleiter. Wir haben nur einen E-Golf. Ober sticht Unter. Sven hat eins von zwei Fahrrädern auf dem Gewissen, also läuft er. Meitje kann sich zwischen Fahrrad und Boot entscheiden. Beides ist der Witterung nicht angepasst. Auch sie wird eine kleine Wanderung durch den Orkan unternehmen.

Zuerst statte ich Lottes Mutter in der Nordseeklinik einen Besuch ab. Im überschaubaren Komplex muss ich aufpassen, dass ich Isak nicht über den Weg laufe, bis mir die verbliebene Krankenschwester beichtet, dass der Doktor schläft. Das Gebäude ist ansonsten verlassen wie ein Geisterschloss. Die Notbeleuchtung trägt ihr Übriges zur gruseligen Stimmung bei, die immer wieder von heftigen Windböen und schepperndem Schauer aufgebauscht wird.

Die Mutter ist vollgepumpt mit Stimmungsaufhellern. Selig lächelt sie aus dem Fenster, wo der Sturm wütet. Die Krankenschwester erklärt mir, dass sie dem Suizidwillen nur mit Medikamenten beikamen, weshalb die Mutter auch mit ihren Handgelenken am Bettgestell gefesselt ist. Die Gefahr für sich und andere überstieg das Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung. Lottes Bruder ist froh, dass so gehandelt wurde. Er entschließt sich, seiner Mutter noch eine Weile Gesellschaft zu leisten, ist sie doch die einzige Patientin in der verwaisten Klinik, zwei Etagen über ihrer toten Tochter.

Unverrichteter Dinge geht es für mich weiter zum Hotel, wo ich den Rest der Familie antreffe: Lottes Vater und ihre anderen beiden Brüder. Sie können sich ein paar Minuten Zeit nehmen für ein Gespräch. Gäste seien ohnehin keine da. Anstehende Arbeiten übernehmen die gebliebenen rumänischen Saisonarbeiterinnen, die die einsprachigen Warnungen des Inselschutzes nicht verstanden und nun mit ängstlichen Gesichtern aufräumen.

Das Gespräch verläuft frustrierend, denn keiner kann mir neue Hinweise liefern. Jeder ist zutiefst bestürzt über den viel zu frühen Tod der geliebten Tochter und Schwester.

»Darf ich mich mal in ihrem Zimmer umsehen?«, frage ich vorsichtig, als der Vater sich einen gebrannten Seelentrunk gönnt. Er wedelt mit dem Arm, um mir Erlaubnis zu erteilen, was ich nicht bräuchte, denn ich habe von Gericht und Staatsanwaltschaft alle Freiheiten, und Gefahr ist in Verzug – in Form des Mörders. Ich wollte nur höflich sein. Im Zweifel wird der Durchsuchungsbeschluss nachgereicht.

Einer ihrer Brüder begleitet mich in den Keller, wo sich neben Waschmaschinen und Putzmittellager ein unscheinbares, fensterloses Kinderzimmer versteckt.

War Lotte depressiv? In dem dunklen Raum könnte man den Ursprung dafür sehen. Selbst mit Licht wirkt ihr Domizil wie ein kleiner Kerker, mit schmalem Bett, kleinem Schreibtisch und zwei Schränken, die sich gegenüber stehen und den Durchgang verengen. Man fühlt sich wie in einem U-Boot.

Poster eines Popsängers zieren die klaustrophobischen Wände und Schränke. Ich kenne den Kerl nicht, aber auf manchen Postern trällert er in ein Mikrofon, also denke ich, dass es ein Sänger ist. Lotte schien vernarrt in ihn zu sein. Fast alle Flächen sind mit seinem schnulzigen Konterfeit zugekleistert. Herzchen, Autogramme, Fanartikel überall. Selbst die Bettwäsche stammt aus der Merchandising-Maschinerie. Sie schlief auf seinem Gesicht und hüllte sich ein in seinen futuristisch gekleideten Körper, mit Glitzer-Lack-Outfit und pyramidenartigen Schulterpolstern. Er wirkt wie ein femininer Junge, mit den schwarz geschminkten Augen, den gegelten Haaren, dem glattrasierten Kiefer, den Ohrringen, Kettchen und Armbändern. Eine sonderbare Kreation gewiefter Produzenten.

»Wer ist das?«, frage ich nach.

»Leander Möwe«, antwortet der Bruder, der an der Tür warten muss, sonst würden wir uns auf den Füßen stehen.

Leander Möwe. Das steht auch auf einigen Postern, doch ich brauchte die Verifizierung.

»Ein Sänger?«

Er nickt. »Schlagersänger.«

Eine Augenbraue hebt sich. »Der ist doch noch keine 18, oder?«

Schulterzucken. »Keine Ahnung. Irgendein Grünschnabel, der Mädels und Schwiegermüttern den Kopf verdreht. Ich kann mit dem nichts anfangen.«

Über ihrem Schreibtisch hängen dutzende Konzertkarten.

»Sie reist ihm nach«, zeigt der Bruder darauf, als ich mir die Tickets ansehe. »Ein Groupie.«

»Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«, bereite ich den ältesten Bruder auf unangenehme Dinge vor.

»Nur zu.«

»Hatte Lotte einen Freund?«

»Nicht dass ich wüsste.«

»Noch nie?«

»Nein.« Er deutet auf den Sänger. »Das ist ihr Freund. Kein Platz für andere Männer.«

»Wissen Sie, ob Lotte noch Jungfrau war?«

Er schaut mich entrüstet an. »Was soll der Scheiß?«

»Es tut mir leid, aber ich muss das wissen.«

»Und ich will das nicht wissen!«

Ich stöbere durch ihren Schreibtisch und ihre Schränke. Etwas chaotisch. Trotzdem keine Hinweise auf einen fragwürdigen Kontakt.

Die Luft ist stickig, aufgeladen. Ich muss meine nächsten Worte weise wählen.

»Wem hat sie sich anvertraut?«

»Was soll das heißen?«

»Mädchen ticken anders«, versuche ich einen Umweg. »Hatte Lotte einen Draht zu ihrer, Ihrer Mutter?«

Er atmet schwer aus, verzieht das Gesicht, schaut zur Seite. »Mutter arbeitet viel. Da bleibt nicht viel Zeit für die Familie.«

»Der Vater?«

Sein Lachen wirkt verkrampft. »Mit dem kann man nicht viel anfangen.«

»Ich gehe davon aus, dass sie sich auch nicht ihren Brüdern anvertraut hat.«

Er rümpft die Nase. »Meinen Sie Mädchenkram?«

Ich nicke. »Monatsblutungen. Regelschmerzen. Schwärmereien.«

Als wolle er davon nichts hören, dreht er sich weg. »Nope!«

»Sie wissen, dass Ihre Schwester ermordet wurde?« Meine direkte Frage richtet sich an seine unnahbare Art.

»Ja«, zieht er lang, ohne die Miene zu verändern.

»Gab es Differenzen innerhalb der Familie? Seien Sie ehrlich. Ich bekomme es eh heraus.«

Der Bruder ziert sich.

»Sie sind wahrscheinlich der Thronfolger, gehe ich richtig in der Annahme?«

Er nickt abwartend.

»Dann übernehmen Sie das Hotel?«

»Den Scherbenhaufen?«, sagt er kritisch.

»Sind Sie mit der Führung durch Ihre Eltern unzufrieden?«

»Was wird das hier?«, fragt er argwöhnisch. Seine Augen ziehen sich zusammen. Seinen Kopf senkt er zu Verteidigungszwecken.

Ich mache ein paar Schritte auf ihn zu. »Ich will Sie als Tatverdächtigen ausschließen. Aber wenn es Streitigkeiten zwischen Ihnen, ihren Eltern und Lotte gab, brauche ich dafür gute Informationen und ein Alibi.«

»Ich war die ganze Nacht hier im Hotel«, wehrt er sich. »Das können Ihnen meine Brüder, meine Eltern und unsere Mitarbeiter bestätigen. Außerdem bin ich Lottes Bruder!«

»Aha«, ich notiere zum Schein etwas in mein Notizbuch, was er alarmiert zur Kenntnis nimmt, den Inhalt – eine hypnotische Spirale – allerdings nicht sieht.

»Ja, ich gebe es zu. Meine Eltern wirtschaften das Hotel zu Grunde. Darüber gibt es immer mal wieder Meinungsverschiedenheiten. Aber Lotte hat mit alledem nichts am Hut. Sie verkrümelt sich in ihr Zimmer und schmachtet diesen Grünschnabel an.«

»Ist sie nicht gerade erst in den Familienbetrieb eingestiegen?«

»Schon, aber nur online. Sie betreut die Webseite und bearbeitet Reservierungen. Sie will gar nicht in die Leitung aufsteigen. Dafür fehlt ihr der Unternehmergeist. Sie ist eine Träumerin.«

»Inwiefern?«

»Sie will lieber reisen als hier zu versauern.«

»Sagte sie das?«

»Sehr oft. Doch sie will uns nicht im Stich lassen, also hilft sie, wo sie kann.«

»Deshalb der Fankult?«, nicke ich zu den Postern. »Damit sie wenigstens etwas von der weiten Welt hat.«

»Denkbar. Keine Ahnung. Wir haben nicht viel miteinander zu tun.«

»Ihre Schwester«, erinnere ich.

»Ja, schon, aber ich kümmere mich darum, dass wir hier nicht absaufen, und sie träumt sich durch den Tag. Gegessen wird nicht mehr gemeinsam und die Arbeit unterbindet Familiensachen. Wir laufen uns über den Weg, aber viel zu erzählen haben wir uns nicht. Sie macht ihr Ding, ich mach meins.«

Aus meiner Kehle dringt ein nachdenklicher Laut. »Wissen Sie wenigstens, wer ihre engsten Freunde waren?«

»Neele.«

»Die haben wir schon auf dem Schirm. Und weiter?«

»Nichts und weiter. Nur Neele.«

»Und aus der Schule?«

Sein Mund formt eine negative Wölbung. »Niemanden, den ich kenne oder gesehen habe. Lotte ist ein schüchternes Mädchen. Sie braucht nicht viele Freunde.«

Vorhin, oben mit dem Vater und dem anderen Bruder war er nicht so redselig. Offenbar war es ein gelungener Schachzug, ihn zu separieren und in den Keller zu lotsen.

»Also war Neele ihre einzige und beste Freundin?«

»Kann man so sagen«, bestätigt er vage.

»War sie oft hier?«

»Neele? Nee. Der wird übel, wenn sie eine Fähre besteigt.«

»Woher wissen Sie das?«

Er schaut mich ernst an. »Wir waren mal zusammen.«

Ich mustere ihn. Der Altersunterschied ist gravierend, mindestens zehn Jahre. Er war schon volljährig, als er die immer noch minderjährige Neele traf.

»Keine Sorge«, hebt er abwehrend die Arme. »Es ist nichts passiert. Wir haben uns gut verstanden, sind ins Kino gegangen und haben viel telefoniert. Kein Sex, oder so. Ich weiß, dass ich mich auf dünnem Eis bewegte, deshalb gab es auch keinen Sex. Ihre Eltern hatten mich sowieso genau im Blick. Die wählten schon die Nummer vom Staatsanwalt, wenn wir nur Händchen hielten.«

»Lassen Sie mich raten: über Sie hat Lotte Neele kennengelernt?«

»Genau. Ich war dann abgeschrieben, aber das wäre sowieso nichts mit uns geworden. Sie war noch zu jung. Außerdem ist es teuer, ständig zum Festland zu schippern. Und dann war ich auch immer mehr hier im Hotel eingespannt, wollte ja selbst was bewegen.«

»Hatten Sie in den letzten Tagen Kontakt zu Neele Schmidt?«

»Nein«, meint er traurig. »Als ich Schluss machte, brach der Kontakt ab. Ich habe ihr wohl das Herz gebrochen. Das hat sie mir bis heute nicht verziehen.«

»Neele wird vermisst«, sage ich unverhohlen.

»Was?« Er zeigt sich zum ersten Mal geschockt. Anscheinend hat er bei Neele mehr Emotionen als bei seiner Schwester.

»Seit gestern Abend. Sollten Sie etwas hören, rufen Sie mich umgehend an!«

Er nickt gewissenhaft. »Kann ich etwas tun?«

»Augen und Ohren offen halten.«

Der Hymenjäger

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