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Eins

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Okay, es war nicht das Ende der Welt. Aber das Ende meiner Welt.

Meine Freundinnen sagten, was man dann eben so sagt.

„Das ist besser so, glaub mir.“

„Andere Mütter haben auch schöne Söhne.“

„Er weiß gar nicht, was er da verpasst.“

In meinem Tagebuch fanden sich all die Sätze, mit denen man sich in solchen Situationen versucht aufzumuntern:

„Ich habe meine Lektion gelernt.“

„Eigentlich war ich sowieso noch nicht bereit zum Heiraten.“

„So kann ich mich wenigstens voll und ganz auf meine Karriere konzentrieren.“

Aber ich glaubte mir kein Wort. Die Sache war die: Ich hatte einen riesengroßen Fehler gemacht. Ich hatte mich von dem tollsten Mann der Welt getrennt. Jason und ich waren fast zwei Jahre zusammen gewesen, und ich wollte den Rest meines Lebens mit ihm verbringen. Zumindest dachte ich das – bis er eines Abends zu mir kam. Ich hatte eine Wohnung im nördlichen Teil von Dallas. Er hatte sein drittes Vorstellungsgespräch bei einer Firma hinter sich gebracht und war ganz aufgeregt.

„Und?“, fragte ich und ließ ihn ein.

Jason schlang die Arme um mich und gab mir einen Kuss. „Ich habe den Job!“

„Ehrlich? Das ist ja großartig! Und wann fängst du an?“

„Nächste Woche.“

„Oh. So schnell? In welcher Filiale? Zentrum oder Galleria?“

Jason atmete tief ein und ließ sich auf die Couch plumpsen. „Weder noch.“

Ich blieb stehen. „Wie, weder noch?“

„Sie wollen, dass ich den Führungskräftelehrgang mache.“

„Und wo?“

„Atlanta.“

Die nächste Frage fiel mir schwer. „Für wie lange?“

Er zögerte. „Ein Jahr.“


Jason zog nach Atlanta. Weit weg. Wir telefonierten. Schrieben E-Mails. Skypten. Und nach drei Monaten war es vorbei.

Ich war diejenige, die Schluss machte. Eigentlich wie immer. Ich dachte nur, bei Jason würde das nie passieren. Wenn ich es erklären müsste, würde ich sagen, dass ich immer das Gefühl hatte, die Nummer zwei hinter Jasons beruflichen Plänen zu sein. Ich wusste, dass ihm seine Karriere wichtig war. Aber konnte er nicht wenigstens nur da suchen, wohin er noch pendeln konnte? Wäre ich die Nummer eins in seinem Leben gewesen, wäre er nicht mal eben für ein Jahr weggegangen. Ich wurde dieses Gefühl nicht los, egal, wie oft ich mir sagte, dass die Zeit schnell vorbei sein würde.

Also rief ich ihn an einem verhängnisvollen Freitag an, vor mir ein weiteres einsames Wochenende, und sagte geradeheraus: „Jason, ich kann das nicht mehr. Es ist vorbei.“

Er reagierte eigentlich überhaupt nicht. Da hätten bei mir die Alarmglocken läuten müssen. Jedenfalls bat er mich mit keinem Wort, mir das Ganze noch einmal zu überlegen.

Ich hielt zwei Wochen lang durch. Keine Anrufe, keine Mails, kein Skype. Es ging mir hundsmiserabel. Auf einmal war es mir egal, welche Geige ich bei ihm spielte. Er fehlte mir. Schließlich schluckte ich meinen Stolz hinunter und rief ihn an.

„Hey, ich bin’s.“

„Hallo. Mit dir hätte ich jetzt nicht gerechnet.“ Sein Ton war kühl. Ich konnte es ihm nicht verübeln.

„Ja. Also, es ist so …“ Ich atmete tief ein. „Jason, ich habe einen großen Fehler gemacht. Ich habe überreagiert. Aber ich habe mich wie weggestoßen gefühlt, als wenn ich nicht mehr wichtig für dich bin. Aber ich liebe dich, und ich weiß, dass du mich liebst, und ich weiß, dass wir das hinkriegen. Ich ziehe auch nach Atlanta, wenn du willst. Ich suche mir dort einen Job. Egal, was.“

Am anderen Ende war nur Schweigen.

„Jason?“

„Ja.“

„Hast du gehört, was ich gesagt habe?“

„Ja.“

„Und? Was denkst du?“

Er reagierte nicht. Mein Magen verknotete sich.

„Jason, es tut mir leid …“

„Emma.“

„Ja?“

„Ich habe jemanden kennengelernt. In der Firma.“


Einen Monat später schloss ich kurz nach sechs an einem Freitagabend die Tür zu meiner Wohnung auf, zog mir etwas Bequemes an, schaltete den Fernseher ein und begann, die Kanäle durchzuklicken. Nachrichten. Sport. Der Vorabendfilm am Freitag: 17 Again. Ich wünschte, ich wäre noch mal siebzehn, dachte ich. Dabei bin ich erst neunundzwanzig.

Ich zappte weiter. Kinderfernsehen. Glücksrad. Mein neues Haus. Ich gab mich mit Mein neues Haus zufrieden.

Eigentlich war das typisch für mein ganzes Leben – sich zufriedengeben. Anstatt nach einer besseren Anstellung zu suchen wie Jason, hatte ich mich mit einem mittelmäßigen Job hier in der Gegend zufriedengegeben, nur um bei ihm zu sein. Anstatt meinem Freundeskreis treu zu bleiben, hatte ich mir eine Wohnung nahe der Arbeit gesucht und war nun über eine Stunde Fahrt von meinen Freunden entfernt. Anstatt in der Kirchengemeinde zu bleiben, die ich zehn Jahre lang besucht hatte, ging ich in irgendeine Kirche an der Ecke, wo ich niemanden kannte. Ich hatte mich mit einem Leben fern abseits meiner Erwartungen zufriedengegeben, und nun war ich in einer Sackgasse gelandet.

Ich griff nach der Bibel, die auf dem kleinen Couchtisch lag. Seit der Trennung von Jason hatte ich wieder angefangen, häufiger darin zu lesen. Nicht, dass sie davor nur eingestaubt gewesen wäre, aber meine Beziehung zu Gott war während der Zeit mit Jason mehr oder weniger dahingedümpelt. Gut, ich ging zum Gottesdienst, zum Treff für die Zwanzig- bis Dreißigjährigen, hörte einen christlichen Radiosender im Auto und versuchte, so oft wie möglich zu beten und in der Bibel zu lesen, aber Zeit einfach nur mit Gott verbrachte ich kaum. Jetzt hatte ich auf einmal alle Zeit der Welt.

Die Frage war nur, hatte er auch Zeit für mich? Um ehrlich zu sein, fühlte es sich nicht wirklich so an. Die Bibel sollte einen doch leiten. Trösten. Aufbauen. Oder nicht? Ich klappte sie zum x-ten Mal seit der Trennung auf und hatte so niedrige Erwartungen wie noch nie.

Gott, betete ich – oder dachte ich zumindest; ob das so ein richtiges Gebet war, wusste ich nicht –, mir gibt dieses ganze Bibellesen nichts. Was habe ich davon, mir die Berichte über Jesus reinzuziehen? Nichts davon hat auch nur das Geringste mit meiner Situation zu tun.

Gott war doch dafür da, um meine Bedürfnisse zu erfüllen … Handelten nicht die ganzen christlichen Songs davon? Oder liefen sie nicht zumindest darauf hinaus? Und auch jeder Jugendpastor, Collegepastor, normale Pastor und unnormale Pastor hatte mir das so oder so ähnlich gesagt: Lass deine Sehnsucht von Gott stillen.

Das Problem war nur, dass ich ganz allein auf dem Sofa saß, Geschichten las, die ich schon tausendmal (na gut, sehr oft) gelesen hatte, und es einfach nicht stimmte. Jesus reichte nicht. Die Bibel gab mir nicht die Antworten, die ich brauchte. Ich wollte es nicht wahrhaben, aber meine einzige Erfüllung lag in der Vergangenheit. Und sie war vor vier Monaten nach Georgia gezogen.

Aber es war nicht nur die mangelnde Erfüllung, die mich fertigmachte. Zum ersten Mal seit Schulzeiten krochen leise Zweifel um mein Glaubensgebäude. Zuerst tat ich sie noch ab. Jeder hat mal Zweifel, sagte ich mir. Aber sie gingen nicht weg, und das machte mir Sorgen. „Wir dürfen unseren Glauben an Gott nicht von unseren Lebensumständen abhängig machen“, hieß es im Gottesdienst. Aber wovon sonst? Mein ganzes Leben hatte man mir Gottes Güte und Liebe gepredigt. Aber wo war seine Liebe, wenn etwas wirklich Einschneidendes im Leben passierte?

Um ehrlich zu sein, machten mir die Gedanken Angst. Ich war Glaubenszweifel nicht gewohnt. Was, wenn ich sie nicht mehr loswurde? Ich wollte mich nicht für den Rest meines Lebens mit der Frage herumschlagen, ob Gott überhaupt existierte.

Ich seufzte, legte die Bibel zurück auf den Couchtisch und holte mir ein Eis aus dem Gefrierfach. Dann schlenderte ich zum Briefkasten. Vielleicht wartete ja eine hochspannende Versicherungswerbung auf mich. Ich holte den kleinen Stapel Post aus dem Kasten. Und tatsächlich: jede Menge Werbung. Ein Zahnarztgutschein, der wie eine Kreditkarte aussah. Ein Gutschein für einen Ölwechsel. Ein Brief von einer Versicherung (Bingo!). Zwei Briefe, die nach Kreditkartenanträgen aussahen. Und offenbar eine Grußkarte mit meinem Namen und meiner Adresse auf dem Umschlag. Hm. Kurz hoffte ich auf Jasons Schrift, aber ich lag falsch. Ohne Absender. Hinten auf dem Umschlag stand nur ein einziges Wort, sauber und verschnörkelt geschrieben: Lies.

Ich wollte den Umschlag sofort öffnen, aber mit dem Eis ging das schlecht, also lief ich zurück in die Wohnung und legte erst mal alles ab.

Wer sollte mir eine Karte schreiben? Ich riss den Umschlag auf. Eine Karte, richtig. Vorn war eine aufgehende Sonne zu sehen, die durch Bäume schien. Daneben stand ein Text, der mir bekannt vorkam:

„Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“

1. Korinther 13,13

Irgendjemand wollte mich also geistlich ermutigen. Wie nett. Ich klappte die Karte auf. Die Handschrift passte zu der auf dem Umschlag. Dort stand nur:

Für ein echtes Abenteuer mit Jesus

gehe durch die nächste offene Tür.

Keine Unterschrift. Kein Name.

Für ein echtes Abenteuer mit Jesus. Was sollte das denn heißen? Wer um alles in der Welt schrieb mir so eine rätselhafte Nachricht?

Ich knöpfte mir noch einmal den Umschlag vor. Kein Hinweis. Ich drehte und wendete die Karte. Nichts. Irgendjemand aus meinem Freundeskreis hatte mir geschrieben, aber ich kam nicht darauf, wer.

Das Seltsamste war – na gut, das ganze Ding war von vorn bis hinten seltsam –, die Aufforderung, ich solle durch die nächste offene Tür gehen. Was sollte das nun wieder heißen? Ich überlegte.

Welche Türen hatte Gott mir in meinem Leben gerade geöffnet?

Ich griff nach einem Stift und machte eine kleine Liste hinten auf dem Umschlag.

Bewerbung Steuerkanzlei

Nachdem ich meine aktuelle Stelle schon angetreten hatte, hatte mich eine Steuerkanzlei zum Bewerbungsgespräch eingeladen. Ich hatte abgelehnt, aber sie hatten mir die Tür offen gehalten und gesagt, ich solle mich melden, wenn ich meine Meinung geändert hätte. Mein derzeitiger Job war nicht der große Wurf geworden. Vielleicht war es gar keine so schlechte Idee, ein zweites Bewerbungsgespräch anzuleiern.

Missionseinsatz im Herbst

Der Treff für die Zwanzig- bis Dreißigjährigen in meiner Gemeinde hatte für den Herbst einen kurzen Missionseinsatz in Honduras geplant. Ich müsste um Urlaub bitten, den ich offiziell noch gar nicht haben durfte, aber vielleicht war es eine gute Idee mitzufahren. So würde ich die anderen in der Gruppe besser kennenlernen. Missionseinsätze sollten ja so horizonterweiternd sein. Und ich kann eine Horizonterweiterung gut gebrauchen.

Michael

Dieser eine Typ aus der Gemeinde wollte mit mir ausgehen. Ich hatte ihm einen Korb gegeben. Das Letzte, was ich jetzt brauchte, war eine neue Beziehung. Aber vielleicht war das ein Trugschluss? Vielleicht war es genau das Richtige, einen Strich unter die alte Beziehung zu setzen.

Mehr fiel mir nicht ein. Das waren alle offenen Türen. Gut, Allison, meine Freundin, hatte mich gefragt, ob ich nicht bei ihr einziehen wolle. Aber galt das als offene Tür, wieder ans andere Ende der Stadt zu ziehen? Und wollte ich eine Stunde Arbeitsweg haben, nur um näher an meinen Freunden zu sein? Ich schrieb es vorsichtshalber mit auf die Liste.

WG mit Allison

Ich las noch einmal die Karte.

Für ein echtes Abenteuer mit Jesus

gehe durch die nächste offene Tür.

Ein Abenteuer mit Jesus. War das der Missionseinsatz? Zumindest war das die Jesus-lastigste Tür. Vielleicht würde Gott mir ja den Weg zeigen – obwohl ich, um ehrlich zu sein, noch nie so einen richtigen Fingerzeig von ihm bekommen hatte.

Ich ließ den Blick durchs Wohnzimmer schweifen und blieb an der Bibel auf dem Couchtisch hängen. Vielleicht war ja auch das die offene Tür: mehr Zeit mit Jesus durch sein Wort zu verbringen. Das machten Christen doch so, oder? Also schlug ich die Bibel wieder auf und landete irgendwo im Markusevangelium.

Am Abend dieses Tages sagte Jesus zu seinen Jüngern: „Lasst uns über den See ans andere Ufer fahren!“

Sie schickten die Menschen weg und ruderten mit dem Boot, in dem Jesus saß, auf den See hinaus. Einige andere Boote folgten ihnen.

Da brach ein gewaltiger Sturm los. Hohe Wellen schlugen ins Boot, es lief voll Wasser und drohte zu sinken.

Jesus aber schlief hinten im Boot auf einem Kissen. Da rüttelten ihn die Jünger wach und schrien voller Angst: „Herr, wir gehen unter! Merkst du das nicht?“

Sofort stand Jesus auf, bedrohte den Wind und rief in das Toben des Sees: „Sei still und schweig!“ Da legte sich der Sturm, und es wurde ganz still.

„Warum hattet ihr solche Angst?“, fragte Jesus seine Jünger. „Habt ihr denn gar kein Vertrauen zu mir?“

Voller Entsetzen flüsterten die Jünger einander zu: „Was ist das für ein Mensch! Selbst Wind und Wellen gehorchen ihm!“

Die Geschichte war toll, ein echtes Wunder. Aber was hatte das mit meinem Leben im einundzwanzigsten Jahrhundert zu tun?

Ich stand auf und ging ans Bücherregal. Vielleicht gab es dort etwas, worin ich mich vertiefen konnte. Die Narnia-Bücher. Damals hatte ich sie nur so verschlungen. Vielleicht würden sie mir wieder etwas bringen? Ein Stapel christlicher Lebensratgeber. Wahnsinn, wie die mein Leben umgekrempelt hatten. Diverse Bücher über Innenarchitektur, die ich geschenkt bekommen hatte, als ich das Studienfach wechseln wollte. An einem davon blieb mein Blick hängen: Türen. Es war ein großformatiger Bildband, fast zu groß fürs Bücherregal. Und er handelte von … Türen. Alle möglichen Türen. Große. Kleine. Verzierte. Einfache. Uralte. Nagelneue. Nicht gerade das praktischste Buch, aber mir gefiel es. Ich mochte die Vorstellung, was sich hinter all diesen Türen verbarg. Neue Räume, neue Häuser, neue Möglichkeiten.

Da kam mir ein absurder Gedanke. Was, wenn sich die Grußkarte auf eine echte Tür bezog? Was, wenn ich tatsächlich durch die nächste offene Tür gehen sollte?

Ich sah mich um. Die nächste Tür war die vom Schlafzimmer. Und sie stand offen. Es fühlte sich absolut lächerlich an, aber ich ging hindurch. Auf der anderen Seite entdeckte ich … mein ungemachtes Bett, Klamotten auf dem Boden und zwei Kisten mit Büchern, die ich längst ausgepackt haben wollte.

So viel zu einer offenen Tür. Ich sah auf die Uhr. Halb sieben. Noch früh genug, um in die Stadt zu fahren und irgendetwas zu unternehmen. Kino vielleicht. Irgendwo musste sogar noch eine Packung Süßigkeiten sein. Ich ging zur Speisekammer. Die Tür war nur angelehnt. Da fiel mir der Fehler auf: Als ich die Karte aufgemacht hatte, war die nächste Tür nicht die vom Schlafzimmer gewesen. Sondern die von der Speisekammer.

Ich sah mich instinktiv um, ob mich auch niemand beobachtete. Dann zog ich die Tür weit auf. Die Speisekammer war nicht wirklich groß, aber wenn ich mich klein machte, konnte ich hineingehen. Vielleicht hatte mein nächstes Abenteuer mit Jesus auch mit den Cheez-Its links im Regal zu tun? Ich trat durch die Tür.

Genau da schlug die erste Welle über mir zusammen.

Die offene Tür

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