Читать книгу Aus der Deckung - David Lopez - Страница 5
Seinen Garten bestellen mit Voltaire
ОглавлениеDie breite Straße wird von Birken und Einfamilienhäusern gesäumt, die alle gleich aussehen. Es ist schon dunkel, aber Straßenlaternen beleuchten den Weg mit orangefarbenem Licht. Alles ist gut zu sehen. Käme jetzt eine Streife vorbei, dann kann ich nur hoffen, dass sie Besseres zu tun hat, sollten sich die Typen nämlich langweilen, wird man kontrolliert. Ich habe ein Zwanzig-Euro-Piece in der Unterhose, zwischen meinem Schwanz und den Eiern. Das Dope ist gut verstaut. Doch anscheinend filzen die Bullen jetzt auch dort. Ich habe keinen Bock darauf, einem Typen mit Taschenlampe meinen Arsch ins Gesicht zu strecken. Deshalb gehe ich etwas schneller und schlage meine Kapuze zurück.
Ixe hat mich um ein Treffen bei seinem Kumpel Romain gebeten, den ich nicht kenne und bei dem ich noch nie war. Kaum habe ich das Tor aufgestoßen, werde ich aus dem Nirgendwo von einem Zweig angegriffen, der mich fast das Auge kostet. Ich stoße ihn heftig zurück, mache eine Ausweichbewegung zur Seite und betrete den Hof, wo ich in einem Pflanzendschungel stehe. Was ein kleiner Vorgarten sein könnte, ist hier ein dorniges Gestrüpp, in dem jeder Busch mit dem anderen um die Vorherrschaft kämpft. Ein unsägliches Chaos. Ein schmaler Weg führt zum Haus, und egal wie schlank man ist, man wird ihn nicht entlanggehen, ohne mit der Jacke an den Dornen hängenzubleiben und über etliche Äste zu steigen. Man muss rund zehn Meter hinter sich bringen, dann steht man vor der Haustür. Eine Machete wäre jetzt praktisch. Links umschlingt der Dschungel das Haus, und wenn das so weitergeht, wird man es bald nicht mehr sehen.
Die Tür ist aus Holz mit einer Glasscheibe in der Mitte, die gesprungen ist, als hätte jemand mit der Faust dagegengeschlagen. Laute Stimmen dringen nach draußen. Aus Sorge, die Glasscheibe sonst vollends zu liefern, klopfe ich sachte. Durch meine Vorsicht bin ich nicht zu hören, zudem lacht drinnen einer aus vollem Hals, und dieses Lachen kenne ich nicht. Auch wenn ich an den hölzernen Rahmen klopfe, dringe ich nicht durch. Und klopfen wie ein Tauber ist nicht meine Sache, das gehört sich nicht.
Hallo, Ixe. Ja, Jonas hier. Wie, was ich will, ich steh vor der Tür. Na klar hab ich geklopft, aber niemand hat drauf reagiert. Ach nee. Alter, wenn ich stärker klopfe, fällt die Tür aus den Angeln. Jetzt mach endlich auf. Nein, deinen Kumpel kenn ich nicht. Los, mach schon.
Trotzdem öffnet mir sein Freund. Mit breitem Grinsen streckt er mir die Hand entgegen: Romain. Jonas, antworte ich. Er ist ein großer, total dürrer Typ, sehr jung, freundlich. Er sagt, komm, komm rein, achte nicht auf das Durcheinander. Leicht gesagt. Dieses Tohuwabohu kann man nur ignorieren, wenn man Blindekuh spielt. Und dann würde man mit den Füßen an etwas hängenbleiben, das herumliegt. Durch die Tür gelangt man in einen Flur, der ins Wohnzimmer führt. Gleich rechts geht eine sehr dunkle Treppe ins obere Stockwerk hinauf. Sorgfältig streife ich die Schuhe ab, verwundert darüber, dass es hier eine Fußmatte gibt, und der Typ sagt, oh, nicht nötig, komm einfach rein. Während ich meine Sohlen abstreife, schaue ich nach vorn ins Wohnzimmer und sehe zwei Typen, die sich mit Poto unterhalten. Den Ersten, dessen Gesicht von einem Lincolnbart gerahmt wird, kenne ich vom Sehen, der andere ist Habib, ein junger Kerl, den ich öfter mal hier, mal dort rumhängen sah. Die Stadt ist klein. Den Blick auf den Boden gerichtet aus Angst, auf etwas zu treten, gehe ich zu ihnen. An der Wand unter der Treppe liegt ein Berg dreckiger Wäsche und an der Küchentür ein Haufen leerer Plastiktüten. Rechts an der Wand lehnt ein Rad von einem Fahrrad.
Hallihallo!, ruft Poto, als er mich ins Wohnzimmer kommen sieht. Wir rempeln uns mit der Schulter. Die beiden anderen stehen von ihren Stühlen auf. Habib sieht aus, als wolle er mich umarmen, aber ich strecke ihm die Hand entgegen. Sein Anhängsel folgt meinem Vorbild, um keine Abfuhr zu kassieren wie Habib. Alles fit, Jungs, und dann wende ich mich Poto zu. Sie sitzen um einen Tisch, der der Esstisch sein könnte, doch dafür braucht man Phantasie. Am anderen Ende des Zimmers steht ein Bildschirm, davor ein Couchtisch mit zwei Sofas im rechten Winkel. Jemand spielt Fußball mit der Konsole. Miskine. Und, was läuft, Jonas, fragt er, als ich bei ihm angelangt bin, läuft fit, antworte ich, und wie ich sehe, hat er ein Aus in seinem Spiel genutzt, um mich mit einer Umarmung und einem breiten Lächeln zu begrüßen, aber nachdem die gegnerische Mannschaft den Einwurf ausgeführt hat, ist er nicht mehr bereit, Neuigkeiten mit mir auszutauschen.
Ich kehre zu Poto zurück, setze mich neben ihn und erkundige mich, wo Ixe steckt. Gärtnert, antwortet er. Stellt sich augenblicklich die Frage, ob das ein Witz ist oder ob er mir damit sagen will, dass Ixe oben mit einer Perle rummacht. Daher sage ich erst mal nichts und lache begriffsstutzig.
Der Tisch ist übersät mit leeren Flaschen und vollen Aschenbechern. Überall liegen Asche und Tabakbrösel herum von den Joints, die gedreht wurden, außerdem hier und da Nieten von Rubbellosen, Hüllen von CDs und Videospielen, auf denen man Joints baut, und ein Teleskopschlagstock. Eine Glastür führt hinaus in den Wintergarten, an den sich ein Garten anschließt. Von hier sieht man, dass die Nacht sehr dunkel ist. Aus dieser Dunkelheit taucht Ixe auf, bei meinem Anblick hellt sich sein verschlossenes Gesicht auf.
Ah, du bist auch da? ’tschuldigung, ich konnte nicht aufmachen, war beschäftigt. Alles klar bei dir? Ich stehe auf und begrüße ihn mit einem Wangenkuss rechts und links. Was treibst du so?, frage ich. Na ja, ich kümmere mich um meine Pflanzen, komm, ich zeig dir was. Wir sind auf dem Weg nach draußen, als er stoppt, wart mal kurz, und zu dem Typen geht, den ich nicht kenne, der den Lincoln trägt und sich gerade einen Joint angezündet hat. Ixe schnappt sich den Joint und zieht sich ’ne Latte rein, und während der Typ ihn einen fetten Bastard schimpft, Scheiße, Bro, hab ihn gerade erst angezündet, mein Erster heute, und so weiter, zieht Ixe ein Piece aus seiner Tasche, wirft es vor ihm auf den Tisch und sagt, da, dreh dir einen, aber geh mir nicht auf den Sack.
Im Wintergarten hängt ein zerbrochenes Rollo an der Glastür bis auf den Boden herunter, draußen beginnt hinter einer kleinen Terrasse ein langer Grünstreifen. Hinter dem Haus sieht es aus wie davor. Dieser Romain kriegt entweder den Arsch nicht hoch oder ist ein Scheißnaturfreak. Auf der linken Seite, wohin Ixe geht, gibt es offenbar doch einen angelegten Bereich. Eine Laube aus Gitterpaneelen, darin ein Busch. Ixe schnappt eine Zweigspitze, die durch das Gitter gesprossen ist, schau dir das mal an, sagt er, und ich sehe ein großes, sehr kompaktes Büschel, das dicht gedrängt grünt und sich bei Berührung fettig anfühlt. Sieht aus wie ein Mini-Tannenbaum. Ich sag, fuck, Mann, und er beginnt zu lachen, er ist Feuer und Flamme. Er beginnt mir alles Mögliche über die Blüte, die Zweige, die Knospen, die Düngemittel zu erzählen. Dabei fällt häufig das Wort kompakt, das ist ihm sehr wichtig. Er spreche auch mit seiner Pflanze, fügt er hinzu, deshalb habe er mir nicht öffnen können.
Wir bleiben ein wenig draußen und bewundern den Busch. Er sagt, er wolle damit keine Kohle machen, das Gras sei nur für uns. Cool, sage ich und frage, ob ich mal von dem Joint ziehen dürfe, den er sich unter den Nagel gerissen hat. Ein gut gestopfter Ofen. Und wer ist dieser Romain?, frage ich. War anfangs nur ein Homie von Poto. Seit seine Eltern tot sind, wohnt er allein in dem Haus. Man weiß nicht, woran sie gestorben sind, nur, dass es letztes Jahr passiert ist. Scheiße, sage ich. Und es stört ihn nicht, wenn du bei ihm anpflanzt? Und Ixe, nee, er findet es gut, klar profitiere ich davon, aber ich kümmere mich auch um den Kleinen, er ist okay. Ich nicke. Ixe ist keiner, der die Leute ausnutzt. Anders als Untel. Und wie geht’s dir?, frage ich. Er antwortet, immer dieselbe Scheiße, Alter, ich hätte Lust, abzuhauen, was anderes zu sehen, echt, ich hab die Schnauze voll, aber gut, was soll’s. Ich seufze, jep, und er schmeißt den Stummel weg.
Miskine spielt immer noch an der Konsole, jetzt zusammen mit Romain. Er schießt einen Freistoß Richtung Tor. Verficktes Spiel, gönnt mir keinen Treffer, flucht er. Poto, Habib und der mit dem Lincolnbart spielen Karten. Aus dem Fehlen eines Kartenstapels und der Anzahl der Karten, die sie auf der Hand haben, schließe ich, dass ich das Spiel nicht kenne. Ixe stellt sich hinter Poto, hey, Poto, sagt er lachend, warum hast du ’ne 8, ’ne 2, ’ne Dame, ’nen Buben, ’ne 7 und ’ne 5? Ich amüsiere mich, während Poto ausflippt, hau ab, Ixe, du nervst, und Habib meint, ach, du hast keinen König, na, dann machst du keinen Stich mehr, während er einen ausspielt. Alle lachen außer Poto, der eine Wiederholung der Partie fordert und sich über Ixe aufregt, ihn einen Kamelkacker nennt, wenn ihn das Rumhängen anpisst, soll er sich gefälligst mit Miskine hinter die Konsole klemmen oder rausgehen und mit den Bäumen quatschen, und währenddessen denke ich, dass ich dieses Spiel garantiert nicht kenne.
Ixe tippt Nachrichten in sein Telefon, und ich zerbrösele meinen Shit. Dabei schaue ich ihnen beim Spielen zu. Dauernd liegen sie sich in den Haaren. Poto beschuldigt Habib, Karten unter seinem Ellbogen zu verstecken, der Lincolnbart ruft sie zur Ordnung, indem er droht, das Spiel abzubrechen, was ihm jedes Mal ein Halt-die-Klappe von Poto einbringt, der Habib sogleich mit neuen Vorwürfen beschießt, worauf dieser zurückgibt, Poto übertreibe mit seinen ständigen Anschuldigungen, und als Poto das Deck aufnehmen muss, um weiterzuspielen, kocht er vor Wut, er ist auf 180 und brüllt, es sei ihm scheißegal, nur weiter so, ihr Clowns, mit euch zu spielen bringt’s doch nicht, mal ehrlich, was ist heute Abend los mit euch, ihr geht mir auf den Sack, dann springt er auf und wirft sein Blatt auf den Tisch. Habib fragt ihn, ob das sein Ernst sei, während Poto sich lachend eine Kippe anzündet. Dann geht er zum Bildschirm und verkündet Miskine, er werde ihm an der Konsole ’ne fette Niederlage beibiegen.
Ich beginne, Dope und Tabak auf dem Blättchen zu mischen. Habib schlägt eine Pokerrunde mit zwanzig Euro Einsatz vor, aber keiner hat Bock darauf. Ixe erinnert sich, dass er Rubbellose in der Hosentasche hatte, er kramt drei hervor, rubbelt zwei auf, Nieten. Habib geht in die Vollen, Alter, ich wette zehn Riesen, das Letzte gewinnt, darauf Ixe, pah, hundert Euro, und es ist deins, und Habib, ohne zu zögern, gut, schlag ein, beim Leben meiner Mutter, und jetzt wird es turbulent um mich herum, ich lache, alle blöken durcheinander. Poto sagt zu Habib, er könne jetzt keinen Rückzieher mehr machen, er habe auf das Leben seiner Mutter geschworen, und Ixe zu Habib, komm, blätter die Kohle hin. Miskine hat seine Konsole stehenlassen und nennt ihn einen Clown, und Habib würde am liebsten im Erdboden versinken, nee, Alter, bist du hirndämlich, war doch nur Spaß. Dann kommt noch Romain dazu und dreht den Spieß um, hey, du weißt doch gar nicht, ob das Los nicht doch zehn Riesen bringt, und hallo, jetzt geht es gemeinsam gegen Ixe, der schließlich zögerlich wird.
Jetzt sind alle aggro, jeder gegen jeden, dann geht es wieder von vorne los. Poto beleidigt Habib, was reißt du das Maul auf wegen nichts, hä, machst hier den Taffmann, hast aber keine Eier! Habib verteidigt sich, pah!, dann kauf du doch seine Hundert-Euro-Niete. Nee, Alter, ich klopf hier keine Sprüche, aber du kommst pompös und tönst, du würdest zehn Riesen wetten! Meine Fresse, keine Ahnung, das hab ich einfach so dahingesagt! Dann halt besser die Fresse, wenn nur Bullshit rauskommt! Hey, reg dich ab, Poto hat recht, was soll der Scheiß. Was soll das, hä, was willst du mit so ’ner prallen Ansage, was soll das, nichts, dann halt die Klappe und spiel nicht den Deppen. Ich lecke den Klebstreifen ab.
Das Los war eine Niete. Habib schlägt stur weiter Wetten in alle Richtungen vor, zwei Euronen, dass die erste Karte auf dem Stapel ein Kreuz ist, doch er holt sich eine Abfuhr von uns. Die anderen spielen abwechselnd an der Konsole. Ich bin kaum eine Stunde da und schon in meinem Element. Langeweile will gemanagt sein. Es braucht Vorlauf. Es braucht Anstöße. Man muss einen gewissen Sinn für das richtige Maß haben. Man liefert sich Wortgefechte, lässt sich verarschen und hat Spaß dabei. Hält den Ball flach. Es kommt vor, dass wir frustriert sind, das Wesentliche aber ist, unsere Stellung zu halten. Denn dort, wo man ist, riskiert man nicht, zu fallen.
Draußen klopft jemand, ohne sich um das Glas zu scheren. Wer ist das?, fragt Ixe, erwartest du jemanden? Nee, sagt Romain und geht nachsehen. Ist für mich, lässt Miskine wissen. Seit wann verabredest du dich bei anderen, fragt Ixe, und Miskine antwortet, ja was, ich mach’s wie du. Als die Tür aufgeht, höre ich die heisere Stimme von Untel, was geht ab, bist du’s, Romain? Ist Miskine da? Romain bejaht, scheint aber zu zögern. Ist schon okay, brüllt Miskine aus dem Wohnzimmer, ohne sich vom Bildschirm abzuwenden. Untel wartet nicht, bis Romain ihn hereinbittet, er kommt rein, und er ist nicht allein. Im Flur, auf dem Weg zum Wohnzimmer, motzt er, Scheiße, Mann, in deinem Garten schlagen einem Zweige in die Fresse. Du brauchst nicht zufälligerweise Gartengeräte, Digger? Ich hätte da was für dich. Ixe schließt die Glastür, während Untel ins Wohnzimmer tritt.
Oh, là, là, ist ja Chaos pur hier drin. Und, was geht, Jungs, alles gut? Geht fit, Alter, meint Ixe, und Untel zieht ihn an sich, nachdem er ihm die Hand geschüttelt hat. Ungerührt lässt Ixe die Umarmung über sich ergehen. Untel ist der reizendste Hurensohn, den ich kenne. Außer seiner Mutter muss jeder damit rechnen, von ihm reingelegt zu werden. Und es gibt immer noch Leute, die das infrage stellen. Er ist ein Verführer. Mein Vater findet, dass man dem Jungen unrecht tut. Aber er ist auch noch nie von ihm übers Ohr gehauen worden. Wenn es so weit ist, wird ihm jeder sagen, damit hätte er rechnen müssen. Ich nicht, das ist klar. Untel ist ein Typ, der hart arbeitet, einer, der sich für was entschieden hat. Er steht dazu. Immer und überall einen guten Eindruck zu hinterlassen ist die Geschäftsgrundlage jedes Gauners. Wenn man das weiß, ist er für einen Lügner sehr ehrlich. Die anderen begrüßt er rudimentär, Check mit den ausgestreckten Händen und Ghettofaust. Mich küsst er auf die Wangen. Jonas, alles klar, Chabo. Und selbst, Niggah?, frag ich zurück. Und er, wir müssen mal was ausmachen und über Babo reden. Jep, erwidere ich, das Übliche, und wir lachen. Der Typ, der mit Untel gekommen ist, heißt Lahuiss. Ein guter Kumpel von uns, wir kennen uns von klein auf, sehen uns aber nicht mehr oft. Er ist zum Studieren in die Stadt gegangen und pendelt. Ab und zu schaut er bei uns vorbei. Das letzte Mal, bei Ixe, hat er gewitzelt, er sei wie zu Besuch bei uns. Ixe hat gequält gelacht. Lahuiss ist jetzt auf einem anderen Trip, auch wenn er noch vieles von hier an sich hat. Er bleibt eben einer von uns. Manchmal verarschen wir ihn wegen seinem Gequatsche und sagen ihm, dass er immer mehr verbürgerliche. Seit er den Abflug gemacht hat, erzählt er uns immer Anekdoten von den Partys, wo er abends rumhängt, und von den Leuten, mit denen er durch die Gegend zieht und die immer irgendwas vorhaben, von den Bräuten, die er flachlegt. Seine Geschichten gefallen uns, weil er sie gut erzählt. Aber unter uns nennen wir ihn manchmal trotzdem einen Wichser, weil er uns aus allem raushält. Kann aber auch sein, dass es an uns liegt. Er und Untel sind ein schrilles Paar. Ein Blick genügt. Auf der einen Seite Untel, ein fetter PoC mit Bart, den Schirm seiner Lacoste-Basecap hochgeschlagen, abgesteppte schwarze Bikerjacke mit Kapuze, Levi’s-Jeans und ein Paar Nike Air Max. Er ist oldschool, ganz einer von uns. Immer einen Spliff im Mundwinkel. Lahuiss trägt einen modischen Rollkragen, ein kurzes, tailliertes Sakko, eine Haarsträhne zur Seite gekämmt, enge Hose und Lederstiefel. Und der Typ kommt, streckt dir die Faust entgegen und sagt, na, Digger, alles stabil?
Untel ist wegen Miskine gekommen, der sich schließlich aus seinem verdammten Sessel erhebt. Offenbar kommt er gelegen, denn Ixe hat ihm was zu sagen. Sie setzen sich alle drei um den Couchtisch vor dem Bildschirm, während wir anderen um den Esstisch versammelt bleiben. Wir verarschen sie, und Habib ruft ihnen von weitem zu, seht euch mal diese feine Gesellschaft an, was bei Untel großes Gelächter auslöst. Für ihn ist das Respekt. Poto wird unruhig, er fragt, und, was steht als Nächstes an?, der Lincolnbart hüllt sich weiter in Schweigen, und Romain vergewissert sich, ob wir alle was zu trinken haben. Lahuiss hat sich mir gegenübergesetzt, alles klar bei dir, Jonas?, meine Antwort, jep. Er zündet sich eine Kippe an. Untel hat erzählt, du hättest neulich einen Kampf verloren. Ja. Ist deine erste Niederlage, oder?, und ich, nein, meine zweite in der Seniorenklasse. Ah, und dann fragt er mich, wie viele Siege ich habe. Dreizehn, sage ich, und er nickt anerkennend. Er zieht an seiner Kippe. Was machst du sonst so?, fragt er. Ich seufze, puuh, nicht viel, wie du siehst, ich häng rum, ich warte. Keine Jobs ab und an?, fragt er, und ich wisch die Frage weg, hör auf, ich bin mit sämtlichen Fabriken hier durch, das hat mich geschafft. Er zieht den Rauch seiner Zigarette mit der Nase ein, betrachtet mich. Und mit dem Boxen, kannst du damit was anfangen? Ich wiege den Kopf, frage mich, wie ich mich herauswinden kann, mir ist klar, dass Lahuiss sich nicht so leicht verarschen lässt. Hör zu, Digger, ich sag dir eins, du musst Schläge einstecken, und ich will nicht mit zertrümmertem Zinken, geschwollenem Gesicht und zu Brei geschlagenem Hirn enden. Die Boxer, die nach ihrer Karriere noch tadellos aussehen, sind dreifache Weltmeister. Du hast doch gesehen, wie ich lebe, wo ich trainiere, das ist vorbei. Lahuiss macht pfff, und was kommt stattdessen?, fragt er, und ich antworte, hey, suchst du heute Abend Streit, oder was? Poto prustet los, nee, meint er, Tatsache ist doch, Jonas is ’n guter Boxer, aber kein Athlet, er nimmt es nicht ernst, hat Sucré neulich ganz richtig gesagt, und ich halte dagegen, so ein Quatsch, was erzählst du, steig mit mir in den Ring, dann merkst du, wie ernst ich es nehme. Um das Thema zu wechseln, kommt Lahuiss auf sein Spezialgebiet, und sonst, sagt er, hast du gerade was am Laufen? Wenn er mich auf die Palme bringen wolle, antworte ich, müsse er nur so weitermachen, worüber er lachen muss und ich mit ihm, und Poto deutet auf Lahuiss, hab ich’s doch gerochen, du, Lahuiss, du hast uns was zu erzählen, yo, mischt Habib sich ein, sein Gesicht sagt alles. Lahuiss rückt seinen Stuhl zurecht, nimmt seine Erzählpose ein. Wirkt fast oberlehrerhaft. Ihm gefällt es, Zuhörer zu haben. Hat immer eine Geschichte im Ärmel. Leute, sagt er, ich sitze kilometertief in der Scheiße. Und ich habe mich da selbst reingeritten, ich stecke in einer verflixten Zwickmühle. Er drückt seine Kippe aus und zündet sich quasi mit derselben Bewegung eine neue an, nimmt einen Zug, saugt den Rauch durch die Nasenlöcher ein, ascht ab. Was los?, fragt Poto, geht’s darum, ein paar Typen zu verprügeln?, und Lahuiss antwortet, spinnst du, damit hat es nix zu tun. Er schnippt die Asche ab, ohne an der Kippe gezogen zu haben. Ich arbeite seit ’ner Ewigkeit mit einer Sis zusammen, Digger, sagt er, wir haben uns immer gut verstanden, aber da läuft nichts, wir sind Homies, doch, doch, Habib, isso, echt, ich schwör’s, und eines Tages, er nimmt einen Zug, eines Tages stellt mir die Sis ihre zwei Cousinen vor, er pafft Wölkchen, und so was wie diese Schwesterherzen hast du noch nicht gesehen, er ascht ab. Es kam, wie es kommen musste, ich hab mit beiden rumgeflirtet und schnell mitgekriegt, dass beide scharf auf mich sind, ich schwör’s, ich war der reinste Gockel, aber damals war ich noch mit Caroline zusammen, du erinnerst dich doch an Caroline? Jedenfalls hab ich mit beiden rumgemacht, aber mehr auch nicht, nur dass ich jetzt, da mit der Ische nix mehr läuft, wieder zurück im Spiel bin, du verstehst, was ich meine, und er nimmt einen Zug. Und?, fragt Poto, willst du jetzt beide flachlegen, oder was? Nein, meint Lahuiss und bläst den Rauch aus, Fakt ist, ich date die eine und flirte mit der anderen, die keine Ahnung von ihrer Schwester und mir hat, und er schnippt die Asche ab. So ein Bastard, sagt Habib, und Lahuiss nimmt einen Zug, er wirkt tatsächlich etwas gequält, Digger, anfangs stand ich auf die Kleine, er bläst den Rauch aus, die Große ist genau der Typ Frau, die jeder gern abschleppen würde, aber die Kleine, die hat was, ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, er ascht wieder ab. Und wo ist jetzt das Problem, frage ich, du brauchst bloß bei der Kleinen bleiben, wenn sie dir besser gefällt, und Habib sagt, yo, so isses, und die Große stellst du uns vor. Lahuiss bläst den Rauch aus, Leute, sagt er, und nimmt einen Zug, das Problem ist, dass ich mit jeder Faser Liebe bin, er bläst den Rauch aus, ich weiß nicht, und er ascht ab, wenn mich eine Frau anmacht, kann ich einfach nicht widerstehen, er ascht wieder ab, und ich spür es genau, wenn es so weitergeht, er nimmt einen Zug, ich spüre, wenn es so weitergeht, werde ich die Große auch noch flachlegen, er atmet tief aus, und am Ende bin ich das allerletzte Arschloch, er streift die Asche ab. Dann nimmt er einen Zug, ascht ab, bläst den Rauch aus, ascht ab, seufzt, ascht ab. Ich sehe ihn an und verziehe den Mund, und er sagt, Jonas, ich schwör’s, das war keine Absicht, und dennoch liegt ein zweideutiges Lächeln auf seinen Lippen, dadurch ist es schwierig zu sehen, wo er steht, man weiß nie, ob er ein leichtsinniges Unschuldslamm oder ein waschechter Hurensohn ist. Er hat es raus, Schandtaten wie eine Arglosigkeit wirken zu lassen. Du bist ein verdammter Schakal, sagt Poto, der aussieht, als habe er seine eigene Meinung dazu, auch wenn man darauf wetten kann, dass er gern an Lahuiss’ Stelle wäre. Abaschen, einen Zug nehmen, Rauch ausblasen, abaschen, einen Zug nehmen, er drückt die Kippe aus, pustet und sagt, Scheiße noch mal, ich bin echt ein Dreckskerl. Während er spricht, beobachte ich ihn. Er gestikuliert viel beim Sprechen, besonders mit seinen Händen, an denen Goldringe stecken, drei an jeder Hand, darunter ein Siegelring an der rechten, den ich ihm abluchsen wollte, als wir klein waren. Damals war er ihm zu groß, deshalb schloss er immer seine Hand zur Faust, damit er nicht herunterrutschte. Er ist ständig in Bewegung, wenn er spricht, aber seine Gestik ist harmonisch, nichts wirkt plump bei ihm. Lahuiss ist keine Dumpfbacke, er drückt sich gewählt aus. Proll genug, um sich nicht selbst zu verleugnen, fein genug, um nicht darin unterzugehen. Ich kann mir vorstellen, dass er in anderen Kreisen nicht so spricht wie mit uns. Sein Besuch bei uns hinterlässt keinen Fleck auf ihm. Während wir uns Veilchen und verklebte Lungen holen und hier und da mal ausrasten auf einem Weg, der eine Endlosschleife ist.
Die Gangster am Couchtisch haben ihr Gespräch offenbar beendet. Untel verkündet, er gehe jetzt. Er schaut Romain an und sagt, Digger, das ist voll die Unordnung bei dir, schon mal erlebt, dass ’ne Perle auf dem Absatz kehrtgemacht hat und davongerannt ist? Er ist der Einzige, der lacht. Dann bietet er Romain noch einmal an, er könne ihm Gartengeräte besorgen, was mich zum Lachen bringt, typisch Untel, hat immer was in petto. Wenn er ein paar Sneaker anbietet, begreife ich das noch, aber das letzte Mal hatte er elektrische Gitarren. Und jetzt redet er von einer Heckenschere, die er nicht an den Mann bringt und deren Vorteile er auf eine Art anpreist, dass Romain glauben muss, er habe es mit einem Vertreter für Gartengeräte zu tun. Apropos Garten, jetzt wird er neugierig, wie der hintere Teil aussieht, und er geht zur Verandatür hinaus, gefolgt von Lahuiss, der schon Witze reißt, wie man hier ein Survivaltraining machen könnte. Ixe und ich wechseln einen Blick, uns beiden ist klar, dass sein Geheimnis auffliegen wird, und keine dreißig Sekunden später ist Untel zurück im Wohnzimmer und wendet sich aufgeregt an Romain, hey, ist das deins da draußen?, und, hallo, schon ist er dabei, ihm zu erklären, wie sie den Verkauf organisieren könnten, und Ixe gleich: Mach mal halblang, Untel, das ist mein Gras. Untel bricht in lautes Gelächter aus, Mensch, Ixe, träum ich, oder was, das hätt ich dir nicht zugetraut. Wo Ixe seinen Homies einfach was zukommen lassen will, sieht Untel vor allem die Gelegenheit, schnelles Geld zu machen. Wir könnten bloß einen Teil verkaufen, schlägt Miskine vor, aber Ixe will nichts davon hören. Lahuiss, der mit einer erloschenen Kippe auf seinen Daumennagel klopft, erhebt sich vom Stuhl, und mit dem Gesichtsausdruck eines Typen, der megastolz auf seinen Gesprächsbeitrag ist, verkündet er, man könne zumindest festhalten, dass dies durchaus eine Möglichkeit sei, seinen Garten zu bestellen. Meine Fresse, sagt Habib, was quatscht der denn? Sag bloß, du kennst Voltaire nicht, erkundigt sich Lahuiss mit gespielter Empörung. Verdammt, Leute, ist keiner von euch aufs Gymnasium gegangen? Seinen Garten bestellen ist aus Candide. Groschen gefallen? Candide?, wendet er sich an Habib, jep, antwortet der, sagt mir was, ich glaub, meine Schwester hat das für die Schule gelesen. Volltreffer, sagt Lahuiss, bestimmt hat deine Schwester es in der Schule gelesen, ist ja auch die Einzige aus der Familie, die bis zum Abi durchgehalten hat. Was für ein Mistkerl, lacht Habib laut. Na gut, werfe ich ein, was ist das für eine Geschichte mit dem Garten. Lahuiss zündet seine Kippe an. Mann, was zündest du dir noch ’ne Kippe an, wir gehen, hab ich gesagt, drängt Untel. Klappe, erwidert Lahuiss, ohne ihn anzusehen.
Also, Leute, um es kurz zu machen, Candide ist die Geschichte eines kleinen Spießers, der in einem Schloss mit Hauslehrer aufgewachsen ist, und der hat ihn in Philosophie und so weiter unterrichtet mit dem Grundgedanken, dass dies die beste aller Welten sei und alles zum Besten in ihr stehe. Candide geht es also super, er führt ein geruhsames Leben, nur dass er eines Tages die Tochter des Barons flachlegt, bei dem er lebt. Sie heißt Kunigunde, meine Fresse, wir sind im achtzehnten Jahrhundert. Deshalb schmeißt man ihn kurzerhand mit ein paar Tritten in den Arsch hinaus, und er landet als Outlaw auf der Straße. Von da an lässt der Typ nichts aus: Als Soldat zieht er in den Krieg gegen die Bulgaren, er geht nach Paraguay, erlebt das genaue Gegenteil, als er Eldorado entdeckt, doch ich halte es kurz und erspare euch all den Mist, der ihm passiert. Aber, ich sag’s euch, der Typ legt Leute um, es gibt ein Erdbeben, sein Lehrer landet am Galgen, er krepiert beinahe, weil ein Arzt ihn bescheißt, er lässt sich von einem Priester seine Kohle klauen, er lebt echt in der Scheiße, es ist unglaublich. Das klingt jetzt etwas durcheinander, aber ich erinnere mich nicht mehr an die genaue Reihenfolge, ist bekanntlich lange her, dass ich es gelesen hab. Sehr viel später trifft er dann die Alte wieder, seine Kunigunde, nur hat sie inzwischen fett was einstecken müssen, weil sie Lepra oder was weiß ich hatte, jedenfalls hat die Alte ’ne völlig zerknautschte Fresse, ein Gesicht wie ’n Cookie, könnte man sagen, aber Candide ist halt ein gutmütiger Typ, also schlägt er die Ehe nicht aus. Und dann findet er auch seinen Lehrer wieder, der gar nicht gestorben war, ohne dass man wüsste, warum. Und am Ende, nachdem er alle denkbaren Nöte überstanden hat, legt er einen Gemüsegarten an, und nun gibt’s in seinen Augen nix anderes mehr, nur das zählt, der Rest geht ihm am Arsch vorbei. Er zieht an seiner Kippe. Und der letzte Satz im Buch fällt, als der Lehrer ankommt und grosso modo zu Candide meint, das Leben sei doch bestens, hätte nämlich Candide nicht alles das erlebt, wäre er jetzt nicht da, wo er ist, und würde heute keine Radieschen anbauen, woraufhin Candide erwidert, er habe zwar recht, aber das Wichtigste sei, seinen Garten zu bestellen. Poto meint daraufhin, er habe so einen Typen gekannt, der alles sausen ließ und Landwirt wurde, aber Lahuiss meint, das sei es nicht, worum es wirklich gehe. Ehrenwort, Leute, ihr solltet das Buch lesen, sagt er, und klar, dass wir anfangen herumzualbern wie die Irren, jep, ist gebongt, klaro, worüber Lahuiss sich ein wenig empört, ich meine das ernst, Leute, ich bin mir sicher, es würde euch nicht schaden. Mann, ’ne Geschichte von einem Typen, der Gemüse anbaut, ist mir scheißegal, meint Untel, dem Kerl mit seinem Garten fress ich die Tomaten weg, worauf Lahuiss erwidert, yo, doch da steckt mehr dahinter. Und was steckt dahinter?, will ich wissen. Euch muss man aber auch alles erklären, sagt Lahuiss und schnippt die Asche weg, bevor er ausholt. Candide ist am Anfang ein Typ, der mit einem Paket von Gewissheiten lebt, während er nichts vom Leben weiß. Durch seine Reisen, die Begegnungen mit anderen sieht er, wie es anderswo läuft, und erweitert dadurch seine Repräsentationen. Seine Repräsentationen?, fragt Habib, und Lahuiss antwortet, yo, die Weise, wie er die Dinge sieht, wenn du es so ausdrücken willst, und Habib darauf, ach so, okay. Im Grunde genommen, fährt Lahuiss fort, geht es darum, über die Erfahrung nachzudenken, der Gedanke dahinter, deinen Garten zu bestellen, meint so viel wie, dein Bewusstsein zu erweitern. Wenn du immer nur in deinem Aquarium im Kreis herumschwimmst, bist du irgendwann überzeugt, das Aquarium sei die Welt. Wenn du deinen Garten nicht bestellst, wirft er nichts zu essen ab. Ist eigentlich ganz einfach. Der Garten ist nur eine Metapher, um von deinem Leben, deinem Bewusstsein zu sprechen. Darum geht es im Großen und Ganzen. Ich nicke zum Zeichen meiner Zustimmung, doch aus Angst, was Dummes zu sagen, halte ich lieber die Klappe.