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DAS IMMANENZPROBLEM

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Erleuchtung ist nicht durch Imaginieren von Lichtwesen zu erreichen, sondern indem man sich die Dunkelheit bewusst macht.

Carl Gustav Jung

Nicht zuletzt als Reaktion auf den kosmologischen Dualismus zwischen Samsara und Nirvana wurde, besonders im modernen Buddhismus des Westens, eine nicht-transzendente Alternative populär: ein Verständnis des buddhistischen Pfades als Programm psychischer Entwicklung, das uns hilft, persönliche Probleme, zumal unseren »Affengeist« mit seinen lästigen Emotionen, zu bewältigen.

In allen Kulturen, in die er gelangte, beeinflussten sich der Buddhismus und die jeweils vorhandenen Glaubenssysteme gegenseitig, und das führte zu neuen Entwicklungen. Der Hauptschauplatz dieses Austauschs ist heute nicht die Begegnung mit der jüdisch-christlichen Überlieferung, sondern mit der Psychologie, und sie hat schon zu innovativen Ansätzen in der Psychotherapie sowie neuerdings zum außerordentlichen Erfolg der Achtsamkeitsbewegung geführt.

Es gibt mittlerweile eine umfangreiche, rasch wachsende Literatur über die Beziehung zwischen Buddhismus und Psychotherapie. Viele westlich ausgebildete Therapeutinnen und Therapeuten praktizieren auch den Buddhismus und integrieren Kontemplationstechniken in ihre Therapie. Manche von ihnen sind auch als buddhistische Lehrende autorisiert. Der Buddhismus bietet neue Sichtweisen auf die Natur psychischen Wohlbefindens und neue Praktiken, es zu fördern.

Es gibt viele individuelle Probleme, die anzugehen nie zuvor Aufgabe oder Ziel des Buddhismus war; dazu gehören das ganze Spektrum psychischer Krankheiten, von Angstzuständen bis zu Depression und Psychosen, sowie die praktischen Fragen von Paarbeziehungen.

Harvey Aronson

Andererseits haben westliche Praktizierende im Verlauf mehrerer Jahrzehnte ernsthafter buddhistischer Übung erkannt, dass Meditation alleine nicht immer genügt, um tief wurzelnde psychische Probleme und Beziehungsschwierigkeiten zu lösen. Psychotherapeutische Arbeit hat in ihrer noch recht kurzen Geschichte ziemlich weitreichende Einsichten in die Mechanismen der Leugnung, Rationalisierung, Regression, Projektion und dergleichen gewonnen. Das ermöglicht uns, zu verstehen, wie oder wo die buddhistische Praxis manchmal in die Irre geht. Als Beispiel kann die komplizierte Übertragung und Gegenübertragung dienen, durch die Beziehungen zwischen Therapeutin und Klient (oder auch Lehrer und Schülerin) verdreht werden können.

In ihrer ursprünglichen psychoanalytischen Definition gilt Übertragung als unbewusste Neigung von Patienten, Emotionen und Verhaltenstendenzen, die sie einer bestimmten Person (etwa einem Elternteil) gegenüber empfinden, auf eine andere Person (beispielsweise die Therapeutin oder den Guru) zu übertragen. Gegenübertragung tritt auf, wenn die Therapeutin (oder der Guru) sich in diese Übertragung verwickelt. Wenn spirituell Lehrende von einem Kreis begeisterter Anhänger umgeben sind, die zu ihnen aufblicken, als seien sie Götter, dann liegt eine Übertragung vor. Wenn die Lehrenden nun beginnen, ihnen darin beizupflichten, dann liegt eine Gegenübertragung vor – aus buddhistischer Sicht: eine mit dem gewöhnlichen Verständnis des Erwachens zwar unvereinbare, aber durchaus nicht seltene Art von Verblendung.

Traditionelle buddhistische Lehren haben solche Mechanismen nicht beschrieben, denn ihr Fokus war ein anderer. Die Praxis des buddhistischen Mahayana betont beispielsweise die Erkenntnis der »Leerheit« aller psychischen Phänomene; die Psychotherapie hingegen will verstehen helfen, wie diese Phänomene auf unsere Beziehungen einschließlich der Beziehung zu uns selbst einwirken. Die wichtige Entdeckung ist nun, dass beide Ansätze einander ergänzen können, denn es geht ihnen um dasselbe: um die Linderung persönlichen Leids.

In der Psychotherapie beginnen Klienten ihren Weg mit ähnlichen Absichten, wie der Buddha sie hatte, als er seine spirituelle Laufbahn begann. Was ist die Wahrheit meines Lebens? Wer bin ich, und warum handle ich so, wie ich handle? Warum bin ich weiter unglücklich, da ich doch alles habe? In einer Therapie geht es darum, realistisch zu werden. Wir beginnen damit, den aktuellen Zustand unseres Lebens und unserer Beziehungen hier und jetzt zu prüfen. Wir fangen mit unserem neurotischen Ich an und betrachten die Art und Weise, wie wir persönliche Freiheit, Liebe und Verbundenheit suchen und doch immer wieder leidend mit leeren Händen da stehen. Ähnlich wie zu Beginn des Meditierens können wir nur dort anfangen, wo wir sind.

Tina Fossella

Die Hauptschwierigkeit für beide Seiten in diesem Dialog besteht darin, der Versuchung zu widerstehen, die andere zu verschlingen. Aus therapeutischer Sicht ist es leicht, buddhistisches Erwachen als eskapistische Phantasie zurückzuweisen, und ebenso leicht können Buddhisten einen psychotherapeutischen Blick auf Beziehungsprobleme als Besessensein von vergangenen Ereignissen anstelle eines Lebens in voller Gegenwärtigkeit abtun. Die gewaltige kulturelle und historische Kluft zwischen beiden verstärkt diese Versuchung und ruft unseren Eurozentrismus oder eine Idealisierung des Ostens auf den Plan. Jeffrey Rubin, ein Therapeut mit langjähriger Meditationspraxis, definiert ersteren als »die intellektuell imperialistische Tendenz weiter Kreise der westlichen Gelehrtenwelt, davon auszugehen, europäische und nordamerikanische Maßstäbe und Werte seien der Nabel der moralischen und intellektuellen Welt«; in der Zentrierung auf den Osten sieht er eine »Idealisierung und Privilegierung asiatischen Denkens, das man als heilig behandelt, während man den Wert westlicher psychologischer Betrachtungsweisen zugleich vernachlässigt, wenn nicht gar abwertet«. Wenn wir uns selbst gegenüber ehrlich sind, haben die meisten von uns eine Vorliebe für diese oder jene Seite.

Zwischen ihnen zu navigieren ist nicht leicht, aber genau darum geht es: Gemeinsam können sie helfen, uns davon zu befreien, eine Art Sicherheit in der Identifikation mit einer besonderen Denkweise wie den Begriffen der Freud’schen Psychoanalyse oder den Paradoxien des Chan/Zen zu suchen. In Psychotherapy and Buddhism: Toward an Integration beschreibt Rubin diese Falle:

Ihre Anpassung an das institutionelle Ethos sowie eine Minimierung des Risikos eigener Verletzlichkeit ermöglicht es angehenden Therapeuten, ihre unsichere Stellung zu festigen. Das Festhalten an den Theorien jener Schule, mit der man sich identifiziert, vermittelt ein intellektuelles und emotionales Wohlbefinden … und darüber hinaus eine stabile Identität und soziale Zugehörigkeit. Zugleich aber nährt es unrealistische Ideale und Erwartungen in Bezug auf Selbsterkenntnis, persönliche Meisterschaft und selbstlosen Dienst sowie eine phobische Haltung gegenüber emotionaler Not und Verletzlichkeit. Dadurch finden es Psychotherapeuten möglicherweise sehr schwierig, ihre eigene Verletzlichkeit anzuerkennen und mit ihr umzugehen.

Wenn man den Ausdruck angehende Therapeuten durch buddhistisch Praktizierende ersetzt, zeigt der Absatz ebenso klar, wo und wie Buddhistinnen und Buddhisten stecken bleiben können.

»Dazwischen« zu verweilen – man könnte vielleicht von einer Stellung ohne feste Stellung sprechen – heißt nun nicht, dass man jede Perspektive ablehnt, sondern beide zu schätzen weiß. Man nimmt sie als heuristische Konstrukte, die je nach Umständen hilfreich sein können, ohne einen ausschließlichen Wahrheitsanspruch zu haben. Damit weitet sich eine unter Schwierigkeiten errungene therapeutische Einsicht in die Relativität voneinander abweichender psychologischer Schulen und Sichtweisen aus. Irvin Yalom schreibt treffend:

Therapeuten können ihren Klienten jede beliebige Zahl von Erläuterungen zur Klärung ein und desselben Problems anbieten. … Trotz vehementer Behauptungen des Gegenteils hat keine von ihnen einen alleinigen Anspruch auf Wahrheit. Schließlich gründen sie alle in vorgestellten »als ob«-Strukturen. … Sie alle sind Erfindungen, psychologische Konstrukte, die um ihres semantischen Nutzens willen geschaffen wurden, und sie alle rechtfertigen ihr Dasein einzig und allein durch ihre Aussagekraft.

Wir benötigen derartige Erfindungen, denn unser Geist operiert nicht in einem Vakuum, sondern wird durch seine Konstrukte aktiviert. Auch der Buddha achtete sorgsam darauf, seine Lehren nicht als die einzige Wahrheit hinzustellen; im Canki-Sutta sagt er: »Für weise Menschen ist es nicht richtig, … die Schlussfolgerung zu ziehen, dies allein sei die Wahrheit, alles andere sei falsch.« Er vergleicht seine Lehren mit einem Floß, das man nutzt, um über den Strom des Leidens ans »andere Ufer« der Erleuchtung überzusetzen – um es dann aufzugeben, nicht aber auf dem Rücken weiter mit sich zu schleppen. Wenn alle psychotherapeutischen Erklärungen vorgestellte »als ob «-Strukturen und nur aufgrund der Art legitimiert sind, wie sie bei Veränderungsprozessen helfen, und wenn buddhistische Wahrheiten Finger sind, die man nicht mit dem Mond verwechseln sollte, auf den sie deuten – oder wenn sie, mit einem besseren Bild, Landkarten sind, die den Weg zeigen –, dann öffnet sich das Tor zu einer aufrichtigen interkulturellen Erkundung mit tiefgreifenden Auswirkungen darauf, wie wir uns verstehen und verändern.

Ein solches Tor mag sich zwar öffnen, wir dürfen aber die Schwierigkeiten nicht herunterspielen, die ein Dialog zwischen zwei so verschiedenen Ansätzen mit sich bringt. In seinem wichtigen Buch Buddhist Practice on Western Ground: Reconciling Eastern Ideals and Western Psychology bringt Harvey Aronson einige von ihnen auf den Punkt:

Buddhistische Lehrer raten uns, Ärger aufzugeben, Geduld zu entwickeln, Anhaftung loszulassen und das Nichtvorhandensein des Selbst zu verstehen. Das alles wird in einem Kontext disziplinierter gemeinsamer Übung – in der Sangha – gelehrt. Im Gegensatz dazu ermutigen Therapeuten jene, die emotional verschlossen sind, Gefühle von Wut zu erleben, und sie fördern das Streben nach Beziehung und Intimität. Dies geschieht in einem Rahmen, der Selbstbehauptung und Individualität unterstützt. Wie sollen wir beiden Herangehensweisen folgen?

Die von Aronson angeführten Gegensätze betreffen ein und denselben Grundunterschied: Traditionelle psychotherapeutische Ansätze wollen helfen, das Selbst zu heilen, wohingegen das buddhistische Modell des Wohlbefindens die befreiende Einsicht in die Selbst-Verblendung und die Entwicklung dessen betont, was Rubin als »nicht-selbstzentrierte Subjektivität« bezeichnet. Nach Rubin zeichnet keine der Überlieferungen für sich genommen ein umfassendes Bild davon, wer wir sind, welches Problem wir haben und wie wir uns ändern. In Psychotherapy and Buddhism führt er aus: »Buddhistische Modelle der Gesundheit könnten beispielsweise die Psychoanalyse lehren, dass es Möglichkeiten emotionalen Wohlbefindens gibt, die weit über die von psychoanalytischen Modellen beschriebenen Grenzen hinausgehen, während die Psychoanalyse dem Buddhismus helfen könnte, einige der unbewussten Störungen in der Meditationspraxis und in spirituellen Wachstumsprozessen zu verstehen.«

Erfreulicherweise wird man sich im blühenden Garten buddhistischer (und weiterer transpersonaler) Psychotherapien des Unterschiedes zunehmend bewusst und beginnt, die Beziehung zwischen den beiden zu erkunden. Der Buddhismus hebt das Nichtanhaften hervor: Wenn während der Meditation Gedanken oder Emotionen aufkommen, sollen wir sie gehen lassen. Eine der wichtigsten psychoanalytischen Entdeckungen seit Freud ist hingegen die Erkenntnis der lebenswichtigen Rolle gesunder Bindungen in der Kindheit.

Zahlreiche Studien und Untersuchungen der westlichen Psychologie zeigen, wie machtvoll sich eine enge Bindung und liebevolle Gewöhnung aneinander – das, was man »Bindungssicherheit« nennt – auf jeden Aspekt der menschlichen Entwicklung auswirken. Bindungssicherheit hat gewaltige Auswirkungen auf viele Dimensionen der Gesundheit, des Wohlbefindens und des Vermögens, wirksam in der Welt zu funktionieren: darauf, wie sich das Gehirn ausbildet, wie gut das endokrine und das Immunsystem funktionieren, wie wir mit Emotionen umgehen, wie stark wir zu Depressionen neigen, wie unser Nervensystem arbeitet und Stress bewältigt und wie wir mit anderen in Beziehung treten. Aufgrund ihrer Kindheit und der Einwirkungen der modernen Kultur leiden viele Menschen an Symptomen von Bindungsunsicherheit: Selbsthass, Körperferne, mangelnde Erdung, fortwährende Unsicherheit und Besorgtheit, hyperaktives Denken, ein Unvermögen, tief zu vertrauen, und ein tief sitzendes Gefühl innerer Unzulänglichkeit. Damit leiden die meisten von uns an einem extremen Grad der Entfremdung und Unverbundenheit, der früher ganz unbekannt war: Entfremdung von der Gesellschaft, der Gemeinschaft, der Familie, den älteren Generationen, der Natur, der Religion, der Tradition, unserem Körper, unseren Gefühlen und unserer Menschlichkeit selbst.

John Welwood

Wie ist das buddhistische Ideal des Nichtanhaftens mit der Wichtigkeit menschlicher Bindungen in der kindlichen Entwicklung vereinbar? Es lohnt sich, Welwood ein weiteres Mal zu zitieren, weil er dies sehr gut erklärt:

Im Rahmen der menschlichen Evolution ist Nichtanhaften eine fortgeschrittene Lehre. Ich bin überzeugt, dass wir fähig sein müssen, befriedigende menschliche Bindungen zu formen, ehe echtes Nichtanhaften möglich ist. Andernfalls werden Menschen, die an Bindungsunsicherheit leiden, Nichtanhaften wahrscheinlich mit einem vermeidenden Bindungsverhalten verwechseln. Für Vermeidungstypen ist Bindung oder Anhaften tatsächlich unheimlich und bedrohlich. Die Heilung liegt für Vermeidungstypen darin, dass sie willens und fähig werden, ihre Bedürfnisse nach menschlicher Verbundenheit zu spüren, anstatt ihnen spirituell auszuweichen. Erst wenn das geschieht, kann Nichtanhaften zu etwas Sinnvollem werden.

Welwood verwendet den Begriff spiritual bypassing (spirituell ausweichen), um darauf hinzuweisen, dass man spirituelle Praktiken verwenden kann, um Gefühle und psychisch schwierige Dinge zu vermeiden: »Eine ›gute‹ spirituelle Praxis kann zu einer kompensatorischen Identität verhelfen, die eine tiefer liegende unzulängliche Identität, in der wir uns als schlecht, nicht gut oder grundlegend mangelhaft empfinden, überdeckt und abwehrt. Obwohl wir eifrig üben mögen, benutzen wir unsere spirituelle Praxis dann vielleicht im Dienst des Leugnens und Abwehrens.« Jack Engler, Psychotherapeut, Meditationslehrer und zugleich ein Pionier der transpersonalen Psychologie, gibt hierfür einige Beispiele: »Man kann Lehren über das Nicht-Selbst benutzen, um ein mangelhaft integriertes oder zusammenhängendes Selbst zu rationalisieren; Erleuchtung lässt sich als eine Art idealisiertes, aufgeblähtes Selbst missbrauchen; und Hingabe an die Lehrerin oder den Lehrer kann uns dazu bringen, uns selbst in spiegelnder Nachahmung der idealisierten Person als etwas Besonderes zu fühlen und dadurch innere Minderwertigkeitsgefühle zu verbergen.«

Hinsichtlich der zukünftigen Entwicklung dieses Dialogs gibt es Grund zur Hoffnung, denn er wurzelt empirisch in dem, was wirklich hilft, das Dukkha von Psychotherapie-Patienten und buddhistisch Praktizierenden zu verringern. In Anbetracht der vormodernen Wurzeln der buddhistischen Überlieferung stellt sich aus psychotherapeutischer Sicht die Frage, ob buddhistische Lehren den Entwicklungsprozess mythologisieren, indem sie das höchste Ziel als Transzendierung dieser Welt des Leidens und der Verblendung verstehen. Soweit es um die weltlichen Wurzeln und pragmatischen Ziele der Psychotherapie geht, können wir aus buddhistischer Sicht fragen, ob solche Therapien noch ein zu beschränktes Verständnis des menschlichen Potenzials beibehalten und Möglichkeiten ignorieren, die über die modernen Grundannahmen, was Menschsein bedeutet, hinausgehen.

Gerade die Spannung zwischen diesen Fragen macht das Gespräch zwischen beiden Perspektiven so faszinierend. In der Achtsamkeitsbewegung mit ihren außerordentlichen Erfolgen findet sich von dieser Spannung bisher aber noch kaum etwas.

Das bloße Nichtvorhandensein einer psychoneurotischen Erkrankung mag wohl Gesundheit sein, aber noch nicht Leben. … Wir sind wahrlich arm, wenn wir bloß normal sind.

Donald Winnicott

Erleuchtung, Evolution, Ethik

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