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EINFÜHRUNG: AUF DER SUCHE NACH EINEM MODERNEN BUDDHISMUS

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»Mögest du in interessanten Zeiten leben«, lautet eine angeblich chinesische Verwünschung. Für Menschen auf einem buddhistischen Pfad sind unsere Tage zweifellos interessant, sogar in doppelter Hinsicht. Auf seinem Weg in den Westen (oder die moderne Welt, denn »der Westen« wird zunehmend global) trifft der Buddhismus auf seine bislang größte Herausforderung: die erfolgreichste Zivilisation der menschlichen Geschichte, deren machtvolle Technologien und gewaltige Institutionen scheinbar unbegrenzte Möglichkeiten mitsamt beispiellosen Risiken schaffen.

Das naturalistische Weltbild und die materialistischen Werte der Moderne unterscheiden sich stark von dem, was der Buddhismus traditionellerweise zu bieten hat – sie wirken allerdings selbst zunehmend problematisch und verwundbar, denn die Moderne kann die selbst verursachten, tief wurzelnden ökologischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krisen anscheinend nicht meistern. Unsere Lage ruft nach neuen Sichtweisen, die viele ihrer Prämissen und Prioritäten infrage stellen.

Der britische Historiker Arnold Toynbee sagte kurz vor seinem Tod in einem Gespräch: »Die gegenwärtige Bedrohung des Überlebens der Menschheit ist nur durch einen revolutionären Herzenswandel in einzelnen Menschen zu beseitigen. Um die Willenskraft zu wecken, anstrengende neue Ideale zu verwirklichen, muss ein solcher Herzenswandel religiös motiviert sein.« Hilft uns dies, Tonybees bekannte Voraussage zu verstehen, die Einführung des Buddhismus in den Westen »könne sich durchaus als wichtigstes Ereignis des zwanzigsten Jahrhunderts erweisen«?

Wann immer der Buddhismus in eine neue Kultur gelangte, trat er in einen Austausch mit den verwurzelten Überlieferungen der jeweiligen Gesellschaft. Das Ergebnis dieser Begegnungen passte besser zu dieser Kultur. Solche Veränderungen sind wechselseitig, und wir haben keinen Grund anzunehmen, heute sei das anders: Wir können darauf setzen, dass das gegenwärtige Gespräch zwischen dem Buddhismus und der modernen Welt zur Entwicklung neuer Formen des Buddhismus führen wird, die den Mitgliedern der gerade entstehenden Weltkultur besonders gut entsprechen.

Dieses absehbare Resultat verdeutlicht selbst aber noch nicht die Rolle, die der Buddhismus in dieser Kultur spielen wird. Werden sich buddhistische Tempel und Dharmazentren in der Weise an moderne Lebensformen anpassen, dass sie uns helfen, den Stress, in einem sich verschlechternden ökologischen und ökonomischen Klima zu überleben, zu bewältigen? Oder werden wir buddhistische Lehren und Praktiken schätzen, weil sie eine radikal andere Weltanschauung mit einer alternativen Sicht auf das bieten, was gerade passiert und was zu tun ist? Oder brauchen wir vielleicht beides?

Diese Gedanken legen nahe, dass es nicht nur darum geht, was der Buddhismus der Moderne, sondern auch, was die Moderne dem Buddhismus zu bieten hat. Ehe der Buddhismus im Westen eintraf, kam der Westen – mithilfe des europäischen Imperialismus und missionarischer Bekehrungen – zum Buddhismus. Das war ein heilsamer Weckruf. Der Mahayana-Gelehrte Edward Conze meinte, seit tausend Jahren habe der Buddhismus keinen originalen Gedanken mehr hervorgebracht. Ich bezweifle diese Datierung – denn noch im dreizehnten Jahrhundert revolutionierte der Zen-Meister Dogen überlieferte Formen, das Dharma zu verstehen –, doch Conzes Anmerkung ist auch dann eine Herausforderung für den Buddhismus, wenn sie nur auf die letzten siebenhundert Jahre zutrifft. Ist die Begegnung mit der Moderne vielleicht das Beste, was dem Buddhismus seit langer Zeit widerfahren ist?

Dieses Buch umreißt Grundmerkmale eines zeitgenössischen Buddhismus, der seinen wichtigsten überlieferten Lehren treu bleiben, zugleich aber mit der Moderne oder wenigstens vielen typischen Kennzeichen des heutigen Weltbildes vereinbar sein will. Ungeachtet des ambitionierten Titels können die folgenden Seiten nur eine persönliche Sicht auf einige Aspekte des bisherigen Dialogs bieten. Sie greifen weder die Tragweite jüngster neurowissenschaftlicher Entdeckungen noch die Erkenntnisse der Kognitionsforschung auf. Und die Wechselwirkung, von der ich hier spreche, befindet sich natürlich nicht mehr ganz am Anfang, steckt aber wohl noch in den Kinderschuhen. Es geht jedenfalls nicht darum, eine neue Version des Buddhismus anzubieten, die die Zeiten überdauern wird. Bestenfalls dürfen wir darauf hoffen, etwas zum Gespräch beizutragen – im Vertrauen darauf, dass allmählich eine kollektive Weisheit hervortritt, die mehr als die Summe der einzelnen Stimmen ist.

Die Hauptschwierigkeit in der Entwicklung eines modernen Buddhismus liegt darin, ein echtes Gespräch zu führen, das nicht dazu neigt, die eine Seite im Sinne der anderen zu beurteilen.

Auf Seiten der Tradition war das Hauptbestreben seit einigen Generationen natürlich darauf gerichtet, einzelne Schulen des asiatischen Buddhismus in den Westen zu importieren und dort Unterstützung für sie zu gewinnen. Dieser konventionelle Ansatz lässt sich etwa so zusammenfassen: »Natürlich muss man einige Anpassungen vornehmen, darf aber keine bedeutsamen Veränderungen an grundlegenden Lehren und Übungsformen zulassen. Dass die Überlieferungen selbst aus vormoderner Zeit stammen, ist keine Schwäche, sondern ihre Stärke, zumal, wenn man betrachtet, was aus der modernen Welt geworden ist und wohin sie sich offenbar entwickelt. Die vorherrschende westliche Weltanschauung unterstützt Individualismus und Narzissmus, und die Gesellschaft als ganze steht sichtlich im Bann von Konsumsucht und Wunschdenken. Wir müssen diese alte Weisheit, die uns den richtigen Weg weisen kann, wiederbeleben.«

Auf der anderen Seite indes gibt es verschiedene Versuche, den Buddhismus für die heutige Gesellschaft relevant zu machen, indem man ihn säkularisiert und seine mythologischen Wurzeln aus der Eisenzeit{1} durch eine Weltsicht ersetzt, die mit der Wissenschaft und modernen Erkenntnisformen besser vereinbar ist: »Sicherlich hat die Moderne ihre Probleme, doch wir müssen auf ihren besten Entdeckungen aufbauen. Dazu gehören nicht nur exakte Wissenschaften wie Physik und Biologie, sondern auch Sozialwissenschaften wie Psychologie und Soziologie. Anstatt vormoderne Überzeugungen zu übernehmen, die heute nicht mehr plausibel sind, sollten wir auch das nutzen, was beispielsweise Anthropologie und Archäologie über antikes Denken herausgefunden haben. Nur mit einem solchen Ansatz kann man einen Buddhismus entwickeln, der direkt unsere heutige Situation anspricht: das Unbehagen moderner Menschen, die in einer sich globalisierenden Welt leben.«

Mit beiden Blickweisen kann man leicht sympathisieren. Hingegen ist es schwieriger, auf Messers Schneide zwischen ihnen zu balancieren. Können wir jede Sichtweise verwenden, um die andere zu befragen, ohne dabei schon diese oder jene als absolut zu setzen? Ein solches Herangehen könnte uns unbehaglich sein, denn es destabilisiert: Was wird dann noch von meinem Standpunkt übrig bleiben? Das Vorgehen beruft sich indes auf ein Verständnis buddhistischer Praxis, das im ersten Teil dieses Buches besprochen wird. Es betont die Verwirklichung eines »nichtverweilenden« oder »nichtankernden Geistes« – eines Geistes, der sich mit keinerlei Formen identifiziert, auch nicht mit Denkmustern wie beispielsweise religiösen oder weltlichen Ideologien.

So faszinierend viele von uns die asiatischen buddhistischen Überlieferungen auch finden mögen, ist es doch wichtig, das Wesentliche des Dharma deutlich von dessen kulturellen Drum und Dran zu unterscheiden, das weniger gut in die heutige Welt passt. Gehören dazu auch Karma und Wiedergeburt? Ein säkularer Buddhismus könnte gerade manche Dinge voraussetzen, die man aus traditionell buddhistischer Sicht als problematisch kritisieren würde. Drückt das vorherrschende materialistische Weltbild der modernen Wissenschaft die Wahrheit über die Welt aus, in der wir leben, oder ist das fragwürdig geworden – wie es einige berühmte Wissenschaftler, darunter auch Nobelpreisträger der Physik und Biologie, heute annehmen? Wenn man Wissenschaft als Methodologie vom herrschenden naturalistischen Paradigma unterscheidet, dann öffnet sich die Tür zu neuen Vorstellungen darüber, was diese Welt ist, sowie zu einem neuen Verständnis unserer Stellung und Rolle in ihr. Darum wird es im zweiten Teil gehen.

Ein wichtiger und strittiger Punkt im zeitgenössischen Buddhismus ist die Erleuchtung, auf Pali nibbana, auf Sanskrit nirvana: Erwachen, Befreiung, Erkenntnis, Verwirklichung und so weiter. So schwierig es auch ist, sich einen Buddhismus (wörtlich: »Erwach-ismus«) ohne Erleuchtung vorzustellen, gibt es doch hinsichtlich des Wesens von Nirvana und Erleuchtung eine Mehrdeutigkeit, die mit der Globalisierung und Modernisierung des Buddhismus zunehmend problematisch wird.

Einigen frühen Formen des Buddhismus zufolge ist unsere Welt des Samsara von Natur aus von Begierde, Verblendung und der von ihnen verursachten Unzufriedenheit befallen. Es heißt, die einzige wirklich befriedigende Lösung sei, dem zu entfliehen, indem man Nirvana erreiche und damit ein erneutes Geborenwerden in Samsara beende. Diese Auffassung ist mit anderen Religionen der Achsenzeit (einschließlich der abrahamitischen wie Judentum, Christentum und Islam) vereinbar, die gleichfalls die Transzendierung (vom lateinischen transcendere, »übersteigen, überschreiten«) dieser Welt betonen.

Im Gegensatz hierzu verstehen einige zeitgenössische buddhistische Schulen den Pfad als Programm für die psychische Entwicklung, das hilft, persönliche Probleme und hier vor allem den rastlosen »Affengeist« und seine quälenden Emotionen zu meistern. Der Einfluss der Psychotherapie hat unter Buddhisten zu größerer Aufgeschlossenheit für tief verwurzelte mentale Probleme und Beziehungsschwierigkeiten geführt, für die es seitens der überlieferten Lehren nicht immer angemessene Lösungsansätze gibt. Eine viel versprechende Entwicklung ist auch die Achtsamkeitsbewegung, doch ganz ähnlich wie die Psychotherapie betonen alle diese Blickwinkel auf den Buddhismus gewöhnlich eher ein Annehmen dieser Welt und Anpassen an sie. In diesem Buch werde ich solche Ansätze durchweg als immanent (vom lateinischen in + manere, »innewohnen, innerhalb bleiben«) bezeichnen. Obwohl die therapeutischen und achtsamkeitsbasierten Praktiken zweifellos viel zu bieten haben, stellt sich doch die Frage, ob sie nicht andere wichtige Dimensionen des Dharma aus dem Auge verlieren.

Der erste Teil dieses Buches legt dar, weshalb angesichts dessen, was wir heute wissen und brauchen, weder ein transzendentes noch ein immanentes Verständnis des Buddhismus befriedigen kann. Er stellt eine weitere Variante des Pfades und seines Zieles vor: Unser Selbstsinn – die Art und Weise, wie wir uns erleben und über uns nachdenken – ist ein psychisches und soziales Konstrukt, das wir dekonstruieren und rekonstruieren, also abbauen und umbauen können. Wir können es nicht nur, wir müssen es sogar, denn der Irrglaube an ein getrenntes Selbst ist die Quelle unseres bedrückendsten dukkha oder »Leidens«. Es geht nicht etwa darum, etwas anderes zu erreichen, sondern die wahre Natur dieser Welt (einschließlich unserer selbst) hier und jetzt zu erkennen – und das schließt eine eher nichtduale Art des Erlebens ein, die etwas ganz anderes ist, als diese Welt einfach so anzunehmen, wie sie ist oder zu sein scheint.

Dass das Selbst ein Konstrukt ist, stimmt mit den Entdeckungen der Entwicklungspsychologie überein. Ein buddhistischer Konstruktivismus öffnet überdies die Tür zu Möglichkeiten, die man in der Moderne nicht ernsthaft erwogen hat, weil sich diese Potenziale mit der naturalistischen Sichtweise nicht vereinbaren lassen. In diesem Sinn kann man eine erwachte Art, diese Welt zu erfahren und in ihr zu leben, durchaus als ein Transzendieren auffassen, denn die vom Buddhismus gebotene Alternative »übersteigt« tatsächlich unser gewöhnliches dualistisches Verständnis der Welt und uns selbst darin.

Diese Art, den buddhistischen Pfad und seine »Frucht« (wie die Überlieferung es ausdrückt) zu beschreiben, wirft weitere wichtige Fragen auf. Ist die im ersten Teil entwickelte nichtdualistische Sicht mit dem vereinbar, was die zeitgenössische Wissenschaft erforscht? Es scheint schwierig, einen spirituellen Pfad mit dem materialistisch-reduktionistischen Paradigma zu versöhnen, das die Welt so erfolgreich unserem Willen unterworfen hat – einem Weltmodell, das viele Wissenschaftler, wie schon gesagt, heute selber problematisch finden.

Eine andere Frage, die sich angesichts dieser Auffassung des buddhistischen Pfades stellt, betrifft ihre soziale und ökologische Tragweite. H. G. Wells zufolge ist Geschichte »ein Wettlauf zwischen Bildung und Katastrophe«, und beide Seiten steigern das Tempo. Vielleicht ist »Katastrophe« kein zu starkes Wort für die Zukunft, die ja schon begonnen hat. Alldieweil die Erderwärmung (das Wort ist ein Wohlfühlbegriff für die Klimakatastrophe) schneller steigt als von den meisten Klimaforschern vorausgesehen, bleiben unsere kollektiven Bemühungen, sie anzugehen, völlig unangemessen. Falls Sie weder Banker noch Spekulantin sind, werden Sie sich von der großen Rezession, die 2008 begonnen hat, kaum oder gar nicht erholt haben, und für Schul- und Hochschulabsolventen der letzten Jahre sieht die wirtschaftliche Zukunft eher düster aus. (Mein Autoaufkleber: »Wäre die Umwelt eine Bank, dann hätten wir sie schon gerettet.«) Auch scheint es unwahrscheinlich, dass die politische Lähmung in Washington und Brüssel bald enden wird, denn sie spiegelt eine Spaltung in unserem Bewusstsein wider.

Zur gleichen Zeit aber kämpft etwas anderes darum, das Licht der Welt zu erblicken. Paul Hawken schrieb sein Buch Wir sind der Wandel: Warum die Rettung der Erde bereits voll im Gang ist – und kaum einer es bemerkt aus der Erkenntnis heraus, dass heute etwas historisch noch nie Dagewesenes passiert: Viele kleine und große Organisationen sprießen auf, um für Frieden, soziale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit zu arbeiten. Hawkens ursprüngliche Schätzung ging von einer bis eineinhalb Millionen aus, doch inzwischen hat er ermittelt, dass es wohl weit mehr als zwei Millionen sind. »Aufsprießen« trifft das Geschehen, denn diese Bewegung ist nicht von oben nach unten organisiert: Die meisten Gruppen sind unabhängig, mit ihrer jeweils eigenen Leitung und ohne einheitliche Ideologie. Das spiegelt einen Wandel in unserem kollektiven Bewusstsein wider, der wohl gerade erst beginnt und zu dem auch der sich globalisierende Buddhismus gehört – und in dem er vielleicht sogar zu einem wichtigen Teil wird.

Wenn Erwachen heißt, diese leidende Welt zu transzendieren, dann dürfen wir deren Probleme getrost ignorieren, denn wir sind ja für einen besseren Ort bestimmt. Ist der buddhistische Pfad hingegen – ganz immanent – Psychotherapie, dann können wir uns weiterhin unseren persönlichen Neurosen widmen. Beide Auffassungen unterstellen und verstärken aber die Illusion – das Grundproblem an der Wurzel unserer Unzufriedenheit –, dass jede und jeder wesensmäßig von allen getrennt sei und deshalb gleichgültig für das sein könne, was den anderen und der Welt allgemein widerfährt.

Die Aufgaben, vor denen wir heute stehen, verlangen mehr von uns, als anderen Individuen zu helfen, ihr persönliches Gefühl von Getrenntheit aufzulösen (das wäre die klassische Aufgabe der Bodhisattvas). Das höchste Ideal der modernen westlichen Überlieferung war, die Gesellschaften so zu gestalten, dass sie sozial gerechter werden. Das wichtigste buddhistische Ziel ist, zu erwachen und (in einer Zen-Formulierung) die eigene Natur zu verwirklichen. Heute wird zunehmend offenbar, dass wir beides brauchen: nicht nur, weil diese Ideale einander ergänzen, sondern weil beide Arten von Befreiung einander benötigen. Der dritte Teil erörtert diese Beziehung zwischen persönlichem und gesellschaftlichem Wandel.

Erleuchtung, Evolution, Ethik

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