Читать книгу Progressive Rock - David Weigel - Страница 6

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Die britische Musikpresse verstand es einfach nicht. In der zweiten Maiwoche 1840 erstrahlte in London der Stern des in Ungarn geborenen Piano-Virtuosen Franz Liszt, der hier seine erste Englandtournee beginnen sollte. Im Alter von 28 Jahren musste er auf dem Kontinent nichts mehr beweisen. Sein Status als Wunderkind war zu dem eines Genies erblüht. Später in dem Jahr trat er in Hamburg auf, wo im Publikum der Dichter und Märchenerzähler Hans Christian Andersen saß.

Andersen – sicherlich kein um Worte verlegener Mann – musste sich abmühen, um das Erlebte in vollständige Sätze zu fassen. Er schrieb: „Das Instrument schien sich in ein komplettes Orchester verwandelt zu haben, bewirkt durch lediglich zehn Finger, die eine Kunstfertigkeit besitzen, die man nur als obsessiv gesteuert bezeichnen kann. Als Liszt sein Spiel beendet hatte, regnete es Blumen um ihn herum: Wunderschöne junge Mädchen und alte Damen, die einst wunderschön und jung gewesen waren, warfen ihm Bouquets zu, denn er hatte ihre Herzen und Köpfe mit Tausenden Bouquets voller Töne erfüllt.“

Liszt arbeitete für London eine ähnliche Taktik aus. Nach einem Solodebüt in den Hanover Square Rooms – dorthin zu gehen, wo Bach einst hinging, dort zu spielen, wo Bach einst spielte – trat er in den erlauchten Kreis der großen Philharmoniker ein. Er adaptierte Carl Maria von Webers Konzertstück in f-Moll, wobei Passagen „gedoppelt, verdreifacht, invertiert und verwandelt wurden“. Das stellte sicherlich nicht die korrekte Darbietung der Komposition dar, wurde aber wie ein glorreicher Sieg zelebriert. „Die Philharmonic Society hatte Liszt mit einem üppigen und auf feinstem Silber gereichten Frühstück geehrt, für eine Spielweise, für die jeder junge Schüler aufs Schärfste getadelt worden wäre –

„nämlich einem grässlich harten Anschlag, mit dem er beinahe zwei wunderschöne Pianos zerstört hätte“, wunderte sich das kurzlebige Music Journal.

Europa hatte schon zuvor Wunderkinder erlebt. In Liszts Werk vereinte sich die gesamte Geschichte der ihm vorausgegangenen Komponisten. Wenn er sein Handwerk und seine Kunstfertigkeit erläuterte, ähnelte er einem Wahnsinnigen: „Im Laufe von zwei Wochen haben mein Bewusstsein und meine Finger wie zwei verlorene Seelen gearbeitet“, schrieb Liszt einem Schüler. „Homer, die Bibel, Plato, Locke, Byron, Hugo, Lamartine, Chateaubriand, Beethoven, Bach, Hummel, Mozart und Weber schwirrten alle um mich herum. Ich studiere sie, meditiere über sie, verschlinge sie mit einer unvergleichlichen Wildheit. Davon abgesehen, verbringe ich vier bis fünf Stunden mit Übungen (Terzen, Sexten, Oktaven, Tremoli, Tonwiederholungen, Kadenzen etc.). Ah! Vorausgesetzt, dass ich nicht durchdrehe, werden Sie in meiner Person einen wahren Künstler finden.“

So war er nun mal, und wo immer Liszt spielte, nahm der Trubel um ihn an Rasanz zu. „Sein Porträt wurde auf Broschen und Kameen getragen“, schrieb der Liszt-Biograf Alan Walker. „Beinahe in Ohnmacht fallende Ladys versuchten eine Haarsträhne zu ergattern, und wann immer ihm eine Pianosaite riss, drängten sie nach vorne, um daraus später einen Armreif herzustellen. Einige der wahnsinnigen weiblichen ‚Fans‘ trugen sogar Glasphiolen bei sich, in die sie Kaffeereste aus seiner Tasse träufelten. Andere sammelten seine Zigarrenstummel, die sie schnell in ihrem Dekolleté verschwinden ließen.“

Im folgenden Jahr, als Liszt in Europa eine Gastspielreise unternahm, bemühte sich der skeptische Kritiker O. G. Sonneck, das Neue an dem Phänomen zu verstehen. „Seltsam, dachte ich – diese Pariser, die schon Napoleon erlebt hatten. Dieser musste jedoch Schlacht nach Schlacht siegreich überstehen, um sich ihre Aufmerksamkeit zu sichern! Nun bejubeln sie unseren Franz Liszt.“ Sonneck konsultierte einen Arzt, Spezialist auf dem Gebiet der „Krankheiten des Weibes“, und bat ihm die Kraft und Energie der auf diese Art und Weise gespielten Musik zu erklären.

„[Er] lächelte auf die merkwürdigste Art“, schrieb Sonneck, „und erzählte zur selben Zeit alles nur Erdenkliche über Magnetismus, Galvanismus, Elektrizität, über die ‚Ansteckungsgefahr‘ einer geschlossenen Halle mit einigen Hundert parfümierten und schwitzenden Menschen und zahllosen Wachslichtern, über historische Epilepsieanfälle, das Phänomen des Juckreizes, über musikalische Kantharide und andere unanständige Befindlichkeiten.“

Dem guten Arzt gelang es nicht, den Zustand in Worte zu fassen. Der Autor konnte es. Es war eine „Lisztomanie“, ein von Musik ausgelöster und übermäßiger Erregungszustand – sicherlich das Anfangsstadium der Auswirkungen eines Ohrwurms.

In dem Jahrhundert vor der Ära des Rock ’n’ Roll war die Musik pompöser und extravaganter als jemals zuvor. Zwar hatte es schon immer folkloristisches Liedgut gegeben, gekennzeichnet durch leichte Akkorde und eine bescheidene Instrumentierung, doch dieser Stil existierte außerhalb der starren Strukturen „professioneller“ Musik. All die Charakteristika der Folklore tauchten in der frühen Rockmusik auf, wohingegen die Wurzeln des Progressive Rock eindeutig und nachweisbar im 19. Jahrhundert und sogar noch früher liegen. „Der Klavierstil des Progressive Rock ist durch das virtuose Spiel diverser Tonleitern gekennzeichnet, fließenden Arpeggios der rechten Hand, mit Akkordzerlegungen oder melodisch hervorstechenden Begleitungen der linken, bombastischen Akkordmonumenten sowie lang anhaltenden und impressionistischen Akkorden, die zurückhaltend erklingen und bei denen das Dämpferpedal häufig zum Einsatz kommt“, schrieb der Musiktheoretiker Edward Macan in einem schlüssigen Versuch, den geschichtlichen Zusammenhang zu erklären.

Einige klassische Kompositionen fanden einen besonders lauten Nachhall in der Progressive-Rock-Ära. Die Jahrzehnte, in denen Liszt auftrat und komponierte, waren von zunehmend komplexen musikalischen Strukturen geprägt. Am Ende des 19. Jahrhunderts ließ sich eine Gegenbewegung erkennen. Vom Komponisten Hector Berlioz inspiriert, propagierte Liszt das sogenannte „Klanggedicht“, eine von der Klassik abgeleitete Musik, bei der Strukturen verlassen wurden, um einer melodischen Idee innerhalb eines Satzes zu folgen. „In der Klassik wird die Rückkehr zu und die Entwicklung von Themen von formalen Gesetzen bestimmt, die man als unabdingbar erachtet“, schrieb Liszt 1855. „Gegensätzlich dazu werden in der eher unterhaltenden Musik die Rückkehr, der Wandel, die Variation und die Modulation von den Motiven bestimmt, die in einem direkten Zusammenhang zu klangdichterischen Ideen stehen.“

Die Komponisten begannen nun bei folkloristischer Musik oder anderen Quellen nach leichter verdaulichen Melodien zu suchen. Modest Mussorgsky gehörte zu den ersten. 1874 komponierte er die Suite Pictures At An Exhibition (dt. Bilder einer Ausstellung). Die Melodie des Themas „Promenade“ entsprach nicht den gegebenen Gesetzmäßigkeiten, andere Abschnitte basierten auf massiven Akkordblöcken mit dem Klang und dem Ausdruck der Kirchenmusik. „Zum Teufel mit Mussorgskys Musik“, ereiferte sich Tschaikowsky in Anwesenheit eines seiner Brüder, der zufälligerweise auch den Vornamen Modest trug. „Es ist die wohl vulgärste und abscheulichste Parodie von Musik.“

Ein Verteidiger der „alten“ Musik – seine Intention war durchaus gut gemeint –

teilte diese Auffassung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In seinem als definitiv konzipierten Lehrwerk Summary Of The History And Development Of Mediaeval And Modern European Music warnte C. Hubert H. Parry die britischen Leser, dass die Stilistik von Mussorgskys Musik – also ekstatisch anmutende klassische Musik mit einem folkloristischen Hauch – kulturelles Gift sei.

„Die Charakteristika von Rassen, die sich nur wenig von primitiven, anlagebedingten Lebensformen weiterentwickelt haben, sind noch deutlicher in russischer Musik zu beobachten, die in den letzten Jahren des abschließenden Jahrhunderts beinahe die gesamte Welt, und besonders England, überschwemmte“, schrieb Parry niedergeschlagen. „Diese Musik sprach natürlich besonders die erwachende Aufmerksamkeit der Massen an, und zwar durch vehemente emotionale Spontaneität, orgiastische Ausbrüche, dem schwindelerregenden Effekt klanglicher Färbungen, barbarischer Rhythmen und einer zügellosen Hingabe zur physischen Erregung, die weniger entwickelten Rassen gemein ist.“

Das war ein Ansatzpunkt, wenn auch die Kritiker davon absahen, ihn allzu stringent weiterzuverfolgen. Die Extravaganz eines Liszt hat das Werk des Komponisten überdauert, und die Dekonstruktion klassischer Musik hielt auch im 20. Jahrhundert an, ohne dass man sich vom handwerklichen Können verabschiedete.

Das Jahr 1913 markierte einen Wendepunkt. Der Komponist Igor Strawinsky, gerade 31 Jahre alt geworden, hatte The Rite Of Spring geschrieben [in Deutschland eher bekannt unter dem Titel Le sacre du printemps] und brachte ein Orchester dazu, sein Unverständnis abzulegen und die Partitur zu spielen. Strawinskys Experimente mit Tönen und Melodien glichen einer Herausforderung und Provokation klassischer Musik, ohne diese jedoch völlig zu negieren. Der Progressive Rock, der erst mehr als 50 Jahre später geboren wurde, wuchs in den Nachwirkungen von Strawinskys Werk auf. Schon als Kinder mit dieser Musik konfrontiert oder als Erwachsene, die Stilistiken außerhalb der herkömmlichen Rock-Schemata suchten, sahen die Prog-Rocker Le sacre du printemps als Resultat von Experimenten. „Ich hatte und habe nicht die harmonietheoretische Qualifikation oder die Kapazität zu ‚wissen‘, was das Werk beeinflusste“, erinnert sich Robert Fripp 2001. „Möglicherweise sollten wir uns den jungen Strawinsky der Le sacre du printemps-Ära als Komponisten vorstellen, der auch nicht ‚wusste‘, was er gerade kreierte: Für ihn stellte es eher einen instinktiven und intuitiven Prozess dar.“

Ein Teil der Musik des frühen 20. Jahrhunderts verlief näher an den gegebenen Parametern der Klassik, doch fand durch sich wiederholende Klangmuster neue Energie und Kraft. Maurice Ravel begann mit der Komposition des Boléro, den er als „ein Stück für ein Orchester ohne Musik“ beschrieb, indem er einen Ton auf dem Klavier anspielte und ihn so lange wiederholte und variierte, bis er einen packenden und vereinnahmenden Melodiebogen gefunden hatte.

Karlheinz Stockhausen, ein deutscher Komponist, der ab den Fünfzigerjahren veröffentlichte, ging hinsichtlich des Verinnerlichens verschiedenster Einflüsse sogar noch weiter. 1958 traf er sich mit Freunden in einem Club, um Count Basie zu sehen. Er wunderte sich über die spontanen Einfälle und beobachtete Basie dabei, wie er einen Song so lange ausdehnte, bis seinem Sänger kein Text mehr einfiel und dieser rhythmisch passende Klangmalereien zur Musik intonierte. „Zwei Stunden hörte ich mir die Musik an, die mit unvergleichlicher Geschicklichkeit gespielt wurde“, erinnert sich Stockhausen, der die Erfahrung aufgeregt schildert. „Es lehrte mich viel, sowohl über die Instrumentierung als auch hinsichtlich der Spieltechnik.“

In Wie die Zeit vergeht, einem Essay aus dieser Phase, stellte sich Stockhausen einen technologischen Fortschritt vor, der die Komposition über die Begrenzungen der Analogtechnik erhöht. Er träumte von einer Taste, die „wenn sie leicht gedrückt wird, die Oszillation in einer konstanten Schwingungsphase hält, wobei die Tonhöhe dieselbe bleibt. Übt man mehr Druck aus, werden die Beziehungen zwischen den Phasen irregulärer, womit sich die Tonhöhe verschiebt und uneindeutig wird.“

„Es lässt sich schwerlich sagen, wie lange wir noch warten müssen“, fuhr Stockhausen fort, „doch man kann sicher sein, dass es eines Tages so ein Instrument geben wird.“

Christopher David Allen wurde im Januar 1938 in Melbourne geboren, einige Jahre und Tausende von Meilen entfernt vom Pop-Mainstream. „Als Teenager war ich in den späten Fünfzigern ein Jazz & Poetry-Performer der Beat-Generation in meiner Heimatstadt. Es gab nur wenige Auftrittsmöglichkeiten, abgesehen von denen, die wir selbst ins Leben riefen.“ Aufgrund der lokalen Beschränkungen des Alkoholausschanks wurden die Bars um 18 Uhr geschlossen, doch Allen zog die Künstlerszene im Swanston Family Hotel wie magisch an. „Eine jugendliche und unerschütterliche Germaine Greer [eine kampfeslustige Feministin] stellte das Haupthindernis gegen die maskuline Vorherrschaft dar. Bei jeder mit ihr begonnenen Diskussion zog ich den Kürzeren.“

Dieser deplatzierte Bohème suchte verzweifelt nach einem Ausweg und fand ihn auch. 1957 ergatterte er einen „makellos instand gehaltenen Lancia Convertible mit einem langen Chassis aus dem Jahr 1928“ und verkaufte ihn an einen Priester. Somit stand ihm ein Grundkapital für die Überfahrt nach Europa zur Verfügung. „Der Wagen gab bei seinem neuen Besitzer schon nach einigen Hundert Metern die Straße hinunter den Geist auf“, erinnert sich Allen. „Das Geschehnis verstärkte meinen angeborenen Atheismus immens.“

Doch Allen musst noch länger sparen und konnte sich erst 1960 eine Karte für den Ozeanriesen Patris leisten, der ihn von Australien nach Griechenland beförderte. „Meine einzige Ambition lag darin, durch das ‚zentrale Nervensystem‘ der schöpferischen Welt zu streunen, bis ich endlich die Stadt gefunden hatte, in der sich die Kreativität auf dem Siedepunkt befindet. Ich wollte über die unvorhersehbaren Wellen der zeitgenössischen Kunst gleiten und mich von den Früchten ernähren.“

Die Suche führte Allen nach Großbritannien, wo er unter dem neuen Namen Daevid (den er nie wieder ablegte) mit zwei weiteren Emigranten des Swanston Family Hotel zusammenzog, die als blinde Passagiere auf dem Schiff gereist waren. Sie alle konnten sich reibungslos in die Szene der Beats integrieren, und Allen traf sogar den Schriftsteller William Burroughs. Der blasse und große Allen war ein Naturmusiker – ohne reguläre Ausbildung, aber mit einem Ohr für das, was das Publikum hören wollte.

„Er [Burroughs] wollte, dass ich seine Lesungen musikalisch untermalte –

damals war ich noch Jazzer – und so schlug er vor, dass wir zuerst in sein Zimmer gingen, wo er sich hinter seinen Schreibtisch setzte und wie ein Versicherungskaufmann aus Brooklyn wirkte“, erinnert sich Allen. „,Nun ja, Daevid‘ ‚meinte er, ,es gibt zwei Möglichkeiten. Eine wird dich zehn Minuten kosten, die andere den Rest deines Lebens.‘ Ich schätze mal, dass die erste Wahlmöglichkeit was mit Sodomie zu tun hatte, woraufhin ich mich für die zweite entschied.“

Schnell änderte Allen seine musikalische Ausrichtung. „Ich wollte eine billige Wohnmöglichkeit auf dem Land finden, um meiner Faszination für den Free Jazz freien Lauf zu lassen“, erklärt er. In dem Mitte-Links ausgerichteten New Statesman entdeckte er eine Anzeige aus dem nahe Canterbury gelegenen Lydden, einer kleinen ländlichen Stadt südöstlich von London. Das Wellington House, eine Wohngemeinschaft von Künstlern, vermietete ein Zimmer. Dort lebte auch ein fünfzehnjähriger Robert Wyatt mit seinen Eltern. „Ich fuhr dorthin, um mich vorzustellen und die Familie kennenzulernen und sah direkt Robert“, berichtet Allen einem Journalisten. „Als Erstes verglichen wir unsere Plattensammlungen und sie waren beinahe identisch.“

Allen hatte mit dem Teenager einen Seelenverwandten getroffen. Er erinnert sich „an eine intellektuelle Übereinstimmung“ mit Wyatt, der schon seit Jahren mit Musik experimentierte, sehr zur Verwunderung seines Vaters, eines Psychologen, und seiner Mutter, einer Journalistin. „Ich begann schon früh mit dem Geigenspiel“, erzählt Wyatt, „doch dann tauschte ich das Instrument gegen eine Trompete. Er [Wyatts Vater] war zutiefst entsetzt und sagte: ‚Es gibt nicht viele bedeutende Konzerte für Trompeten‘.“

Wyatt besuchte die Simon Langton Grammar School for Boys. Nach einem grundlos beginnenden und harmlos endenden Streit schloss er Freundschaft mit Hugh Hopper. „Seine Eltern waren Konservative, meine wählten Labour und so beharkten wir uns“, erzählt Wyatt. Er begegnete auch den zwei Jahre älteren Keyboarder Mike Ratledge, Vertrauensschüler an der Schule, der ihn bat, ihm ein Cecil-Taylor-Album auszuleihen, das Wyatt zufällig besaß.

Doch es existierte noch keine Band, nur ein Kreis von zusammenarbeitenden Künstlern, die sich die Nächte mit Partys im Wellington House um die Ohren schlugen. 1961 besuchte der siebzehnjährige Gitarrist Kevin Ayers das Haus, den es nach einer Festnahme wegen Drogenbesitzes in das kleine Örtchen verschlagen hatte. „Der Richter trug mir auf, London zu verlassen, da die Stadt offensichtlich einen schlechten Einfluss auf mich ausübte“, erzählt er.

Wyatt war gerade er 15 Jahre alt, als Daevid Allen mit seinem Gepäck durch die Türen des Hauses kam. Die beiden hatten „dasselbe intellektuelle Alter“, erklärt Allen und macht sich über sich selbst lustig, wobei er den jungen Musiker in aller Ernsthaftigkeit lobt.

„Ich verstand das Notenlesen nicht und wurde nicht besser“, erzählt Wyatt. „Ich dachte: ‚Ich schätze mal, ich kann das lernen, will es aber eigentlich nicht. Ich will jetzt damit aufhören‘. Es war ein pragmatischer Entschluss.“

Wofür er sich entschied? Für einen Selbstmordversuch, indem er die Schlaftabletten schluckte, die sein Vater gegen die Schmerzen seiner Multiplen Sklerose einnahm. Wyatt überlebte und besuchte daraufhin eine Kunsthochschule. Nichts änderte seinen psychischen Niedergang, doch dann besuchte er den Dichter und Autor Robert Graves, einen alten Freund, in seinem Haus auf Mallorca. „Dort hielten sich immer viele Besucher auf und irgendjemand musste sie bei all den Mahlzeiten unterhalten“, erzählt Wyatt. „Ich machte meist perkussive Gesangs-Duette.“

Nach seiner Rückkehr zog Wyatt nach London. Dort gab es eine Wohnung, die er gemeinsam mit unter anderem Kevin Ayers und Hugh Hopper nutzte. „Wir lebten in einem sehr großen Zimmer. Ständig nahm man den Geruch heißen Currys wahr, der die Treppe heraufzog, und in dem Zimmer nebenan lebte eine schwangere Prostituierte.“

Auch Daevid Allen war nach London gezogen. Schnell überzeugte er Wyatt und Hopper, das Daevid Allen Trio zu gründen, eine Avantgarde-Jazz-Gruppe, die von Managern unverzüglich aus den Büros geworfen wurde, die sich darüber wunderten, warum ein Sprecher Beat-Gedichte vor dem Hintergrund von Jazz rezitierte. Ein Publikum, das sich auf „Song Of The Jazzman“ einließ, hörte einen Shuffle-Rhythmus, den ein klar ertönender Knittelvers von Allen verwischte.

„I am a bird, with aching claws“, gab er im Sprechgesang zum Besten. „I am a moon and the evening stars and I can’t find the sky.“ Damit war Allen der psychedelischen Ära um ein halbes Jahrzehnt voraus. Allerdings gibt es ein Problem, wenn man sich zu früh auf die Bretter einer Bühne begibt. „Wahrscheinlich klangen wir verdammt schrecklich“, meint Hugh Hopper.

Als die Gruppe zerbrach, begab sich Wyatt wieder auf die „Wanderung“. Er traf sich mit Allen in Paris, wo der Poet-Jazzer erneut mit Burroughs arbeitete. Terry Riley, Minimalismus-Komponist und Neuzugang zum Zirkel, hatte sich dem Grüppchen angeschlossen und führte ein Leben, das „zwischen einem Hausboot und einem Beat-Hotel“ changierte. Riley übernahm den Job eines Zeitungsboten, nachdem Allen kein großes Verlangen mehr danach verspürte. Während Riley Allen alles über Tape-Loops beibrachte, erklärte Allen Riley ungefähr den Rest des Lebens.

„Daevid war ‚hipper‘ als ich“, berichtete Riley dem Journalisten Anil Prasad Jahre später. „Er hielt sich eher in der Beat- und Frühhippie-Szene auf. Ich war ein ganz normaler Absolvent der Berkeley-Universität, der ausgiebig mit schräger Musik experimentierte, und so entwickelte sich eine Beziehung zwischen uns. Ich erklärte ihm musikalische Konzepte, und er zeigte mir das freie Leben der Bohème, das man in Paris führte. Daevids Fantasiezeichnungen und Gedichte gefielen mir außerordentlich gut und auch die witzigen australischen Sprachelemente, die er einsetzte. Das vereinnahmte und packte mich. Er stellte für mich einen großen Einfluss dar und eröffnete mir einen neuen Lebensstil, obwohl sein [Leben] das reinste Chaos war.“

Paris erwies sich als weitaus offener für die musikalischen Improvisationen der Künstlertruppe. Wie sich Riley erinnert, konnte sich Wyatt mühelos integrieren. Riley: „Er hatte eine Trompete mit einem hochgezogenen Trichter mitgebracht, ähnlich der, die Dizzy Gillespie spielte. Mir stand ein kleines sogenanntes Spinett-Piano zur Verfügung, und soweit ich mich erinnern kann, verbrachten wir drei die Nachmittage mit Jams.“

Als Allen und Wyatt 1965 nach Großbritannien zurückkehrten, begann sich die Kultur zu öffnen. Die Musik war allerdings noch größtenteils vom Nachahmen und Kopieren gekennzeichnet. Doch das sollte sich ändern.

Sie wurden in den ersten Jahren nach dem Blitzkrieg geboren. Sie wuchsen im wachsenden Schatten eines in Trümmer liegenden London auf oder in ländlichen Regionen, die von einem ins Leben gerufenen Wohlfahrtsstaat neu besiedelt und neu organisiert wurden. In den meisten Fällen hatten ihre Eltern im Krieg gekämpft und für ihre Kinder Wohlstand und Entwicklungsmöglichkeiten gerettet. Sie waren Briten, exakt zu einem Zeitpunkt, an dem die Aussprache des Wortes nicht mehr länger Selbstvertrauen und Achtung mit sich brachte.

„Es gab nichts, gegen das man kämpfen oder rebellieren konnte – das ist der einzige Grund, der mir zu der Frage einfällt, warum wir Musiker wurden“, erinnert sich der erste King-Crimson-Drummer Michael Giles, aufgewachsen in dem südlich von London gelegenen Portsmouth. „Wir hatten eine andere Agenda, keine Form des Eskapismus. Es existierte nur noch ein Königreich des Nichts, und dem kann man nicht entfliehen.“

Viele Musiker, die „progressiv wurden“, erzählen von ähnlichen Beweggründen, von der Langeweile und Ziellosigkeit. Keith Emerson wuchs in dem nahe gelegenen Worthing auf, eine Stadt am Meer, bei der es bis auf eiskalte Strände, Algen und Pensionäre so gut wie gar nichts gab. „Die älteren Menschen kamen in Scharen und wollten hier sterben“, erzählt Emerson. „Erst mal angekommen, vergaßen sie bequemerweise diesen Beweggrund.“

Vergrößern wir den Radius. Nicht weit entfernt von Worthing liegt die Stadt Wimborne Minster, wo Robert Fripp zur Welt kam und „lernte“, wie man ein abgekapselt lebender, gelangweilter Jugendlicher wird. „Wenn man jung ist, empfindet man das Fehlen von Freunden als einen Makel“, erzählte Robert Fripp einem Interviewer mit einem Achselzucken. Schon in naher Zukunft sollte er das Manko korrigieren.

Gordon Haskell, ein Klassenkamerad Fripps mit eigenen musikalischen Ambitionen, „diagnostizierte“ das Leben des späteren Freundes als „seltsam“ und distanziert. „Es schien, als würden sein Vater und seine Mutter ihr Leben nicht mit ihm teilen, und so blieb er auf sich allein gestellt.“

Andere Kinder, die ungefähr zur gleichen Zeit aufwuchsen, verhielten sich extrovertierter und wurden problemlos in die Welt der Musik eingeweiht. Die beiden Shulman-Brüder Derek und Ray – sie gründeten später Gentle Giant – wuchsen auch in Portsmouth auf, wo ihr Vater während des Krieges stationiert war. Sie entschieden sich dafür, schnell auszuziehen, laut Ray in ein Haus „voller Musiker und Aussteiger mittleren Alters“. Tony Banks verbrachte die Kindheitsjahre in Sussex, wo seine Mutter ihm die Welt der Musik durch das Klavier erschloss. In Canterbury brachte George Ellidge seinem Sohn Robert die ersten Tonleitern bei, musste später jedoch tatenlos mit ansehen, wie der Zögling in die Welt des Jazz „abglitt“.

Jazz war einfacher erreichbar, verglichen mit den ersten Vorbeben des Rock ’n’ Roll. In Hounslow, einem unscheinbaren, anonymen Stadtbezirk von London, hörte der junge Phil Collins kommerziellen Pop auf Radio Luxemburg und spielte auch zu der Musik, die er im Fernsehen sah. „Wann immer es mir möglich ist, mache ich Musik.“ Peter Brockbanks bat seinen Vater, selbst ein Musiker, um ein Instrument und bekam eine Ukulele. „Wenn ein Gitarrist im Fernsehen auftauchte“, erinnert sich Brockbanks (der später seinen Namen zu Banks kürzte), „wie zum Beispiel Lonnie Donegan, klebte ich am Bildschirm, um zu beobachten, was er mit seinen Fingern veranstaltete.“

Das Fernsehen mit seinen sorgfältig selektierten Ausblicken auf die Welt der leicht verfügbaren Kunst verschaffte unzähligen jungen Briten einen Zugang zu den neuen Sounds.

„Mit ungefähr zwölf oder dreizehn packte mich der Jazz“, erklärt Bill Bruford. Er „wurde jeden Samstagabend im Fernsehen der BBC übertragen“.

Die Church of England war für die im Nachkriegs-Großbritannien aufwachsenden Kinder ein weiterer gemeinsamer Tutor. Ihr Erbe beinhaltete die bekannten sakralen Hymnen der Musik des vorhergehenden Jahrhunderts, verschmolzen mit Texten, deren Ausrichtung in der Zeitlosigkeit und im Spirituellen lag. Greg Lake, auch am Meer aufgewachsen, erinnert sich an die Kraft und Energie, die ein Stück wie „Jerusalem“ mit sich brachte, auch wenn ihn die grundlegendere [christliche] Botschaft nicht bewegte. „‚Bring me my bow of burning gold / Bring me my arrows of desire‘ – was für eine fantastische Textzeile“, schwärmte Lake. „Alle Briten lieben den Song.“

„Diese Lieder waren aufregend“, bewertet Bruford die Musik der Church of England. „Für mich sind sie es immer noch. Wunderschöne Textabschnitte, die der einfache Mann mitsingen kann.“

Tony Banks suchte täglich die Kapelle auf: „Sonntags sogar zweimal. Unter den klassischen Lobgesängen gab es für mich ungefähr ein halbes Dutzend Lieblingsstücke, mit wunderbaren Melodien wie ‚Dear Lord And Father Of Mankind‘ … Diese Kunstform stellte einen großen Einfluss auf den Kompositionsstil von Genesis dar, da gibt es gar keinen Zweifel! Die Hymnen haben etwas Besonderes. Sie sind simpel und direkt, stellen aber eine Verbindung [zwischen den Menschen] her.“

Greg Lake berichtet von Seeleuten der British Navy, die Gitarren mit an Land brachten. „Die Kids hier kauften sich die Gitarren wie auch Platten, da ein Großteil auf die Art importiert wurde. Und hier findet sich tatsächlich das Sprungbrett der britischen Rockmusik.“

Die ersten Schallplatten, die sich der junge Robert Fripp zulegte, waren typisch für die vorherrschenden Trends: „Hound Dog“ und „Singing The Blues“. Zu Weihnachten schenkte man ihm eine Gitarre, deren Spiel er mühelos lernte. „Rock mit elf, Traditionals mit dreizehn und Modern Jazz mit fünfzehn Jahren.“

Doch schon damals empfand er den Rockstil als Begrenzung. Fripp berichtet einem Interviewer von seinen ersten Erfahrungen: „Mit elf Jahren wusste ich, dass die konventionellen Lehrmethoden für Gitarre mehr als bescheiden waren. Gute Rock ’n’ Roll-Gitarristen haben den Unterricht immer verweigert. Das war ein Beleg für die Ineffizienz der Lehrwerke. Mit dreizehn Jahren unterrichtete ich selbst und mit vierzehn schrieb ich meine ersten

Übungen.“

Wo immer es ihm möglich war, suchte Fripp interessante Lehrer. „Ich nahm einige Stunden bei Don Strike, einem sehr guten Instrumentalisten im Dreißigerjahre-Stil. An irgendeinem Punkt legte ich mir eine Konzertgitarre zu und entschied mich für das Fingerpicking. Kurze Zeit darauf hatte ich zehn Stunden bei einem Jazz-Gitarristen. Trotzdem fühle ich mich nicht wie ein Jazz-Gitarrist, ein klassischer Gitarrist oder ein Rock-Gitarrist. Ich sah mich nicht imstande, in einem dieser musikalischen Idiome zu spielen, und darum war es für mich unabdingbar, etwas Eigenes zu kreieren, sozusagen mein eigenes Idiom.“

In den frühen Sechzigern erlebten Musiker, die sich mit dem Rock-Idiom anfreunden konnten, eine „besonders heiße“ Zeit. Der in Schottland geborene, aber in Blackpool aufgewachsene Ian Anderson erinnert sich an seine höchst lobenswerten Beweggründe, eine Band aufzuziehen. „All diese fantastischen Miezen – lange Haare, aufgebrezelt, künstliche Wimpern und so weiter – drängelten sich um eine Gruppe pickeliger Teenager mit unreiner Haut“, wundert sich Anderson immer noch.

Während professionelle Bands einen wichtigen Beitrag zu kulturellen Veränderungen lieferten, spielten die jüngeren Kollegen Coverversionen und füllten die Tanzsäle der Jugend. „Ich erinnere mich, dass ich eine Menge von dem Tamla-Motown-Zeug gespielt habe wie zum Beispiel ‚Knock On Wood‘, was für uns Mist war“, erzählt Tony Wilkinson, Saxofonist in Andersons Band.

Interessantere Sounds fand man beim Jazz, doch die erste Welle der Progressive-Musiker lernte diesen Stil in einer unterschiedlichen Geschwindigkeit kennen. Ian McDonald war einer der Ersten. Noch sehr jung, sah er Die Glenn Miller Story. Besonders die Szene, in der Miller – gespielt von James Stewart – eine Trompetenmelodie für Klarinette umschrieb, packte und fesselte ihn.

„Klar, das klingt jetzt ziemlich kitschig“, erinnert er sich Jahre später, „doch als Kind dachte ich mir: ‚Genau das will ich. Ich will meinen eigenen Sound finden, will so einen Moment selbst erleben‘.“ Es begann mit einer Anzeige in einer Musikzeitschrift, deren Text ungefähr lautete: ‚Musiker für eine Band gesucht, Alter: 15 Jahre.‘“ McDonald war fünfzehneinhalb, antwortete auf die Annonce und fand sich in einer Militärband wieder.

„Im Swinging London passierte so viel. Da hörte man überall die neue Rockmusik, und ich wollte dazugehören“, sagte er. Stattdessen hockte er im Dschungel, brachte sich Musiktheorie bei und lernte Klavier und Saxofon. „Wir spielten Konzerte mit einer Bandbreite, die von klassischen Ouvertüren bis hin zu Stücken aus Shows reichte, Songs vom Broadway und Pop-Klassikern.“ Zuerst sah es also noch nicht so aus, dass er Rockmusiker werden würde.

Die beiden wichtigsten Protagonisten, die den Progressive Rock prägen sollten, entwickelten sich nahezu parallel, beinahe unbemerkt. Als Teenager lernte Keith Emerson die erste Disziplin bei einem weiterführenden Seminar im Worthing College kennen. Dem Worthing Youth Swing Orchestra beizutreten, war eine naheliegende Entscheidung und gleichzeitig eine Offenbarung. Allerdings konnte der Ausbilder eins nicht wissen – Emersons Unkenntnis hinsichtlich der Jazz-Notation. „Er nahm einen Piano-Chart von einem Haufen Blätter und bat mich, die Passage zu spielen. Ich hatte so etwas noch nie zuvor gesehen. Über den einzelnen Takten standen mir fremde und merkwürdige Zeichen. Was war denn ein Gm7?“

Emerson fand im Melody Maker eine Anzeige für einen Jazz-Piano-Kurs, woraufhin ihm wöchentlich neue Akkord-Charts per Post zugestellt wurden. Er entzifferte die Tonschichtungen, notierte sie, schickte sie wieder zurück und erhielt daraufhin die korrigierte Fassung. Es wäre kaum möglich gewesen, sich noch mit anderen Aktivitäten zu beschäftigen.

„Ich arbeitete zwei Jahre lang in einer Bank. Das reichte, um mich mental fertigzumachen. Ich ging dort jeden Tag hin und hörte, wie die Normalos prahlten: ‚Ich komm hier raus, Mann, Anfang des Sommers haue ich hier ab!‘ Ich habe niemals so einen verdammten Mist gequatscht. … Ich bin da einfach raus und verdammt glücklich, dass ich es geschafft habe.“

An einem Morgen in den frühen Sechzigern. Ort: Der Organ-Center-Shop in Portsmouth in Südengland. Keith Emerson tritt in den Laden, 200 Pfund in der Tasche, mit denen er sich ein Keyboard kaufen will. Es bieten sich ihm verschiedenste Wahlmöglichkeiten. Doch Emerson wird abgelenkt – von einem größeren und schöneren Instrument, das seine finanziellen Möglichkeiten übersteigt. „Dort stand sie“, schreibt der Musiker in seiner Biografie, „kunstvoll aus wunderschön glänzendem Mahagoni gebaut – die elektrische Orgel Hammond L-100. Ich spielte auf ihr.“ Emerson hört die warmen Töne, technisch so konzipiert, als kämen sie aus den Pfeifen einer Kirchenorgel, doch mit einem ganz eigenen summenden und weicheren Klang. „Das war der Sound!“

Der Keyboarder hatte schon zuvor auf einer Hammond „herumgedudelt“. Das 1961 erstmalig gebaute Instrument imitiert den Klang einer Kirchenorgel, wobei sich 96 sogenannte Tonräder vor elektromagnetischen Tonabnehmern bewegen. Durch die Rotation der Räder werden die Tonabnehmer unterschiedlich stark angesteuert, wodurch der Klang generiert wird. Neben den Tastaturen finden sich die Zugriegel zur Regulation der Lautstärke und Klangfärbung. Verändert man die Zugriegel, ändert sich der Klang beträchtlich.

Jazz-Musiker nutzten sie häufig, und auch (möglicherweise nicht so inspiriert) nette alte Damen, die die langweiligen Pausen bei Ballspielen am Sonntagnachmittag überbrückten.

Einige Musiker konnten die Kosten für das Instrument aufbringen, die tatsächlich an die für einen Kleinwagen heranreichten, doch Emerson nicht. Allerdings zeichnete ihn jahrelanges Üben aus, stundenlange Klavierübungen und intensive Musiktheorie. Das Royal College of Music hatte ihm einen Studienplatz angeboten, den er ablehnte und stattdessen in einer Bank arbeitete. Die ihm verbleibende Zeit spielte er mit Jazz- und Rockbands. Emerson überlegte. Was könnte er mit einer Hammond erreichen? Gelang es ihm möglicherweise, den Banker-Job an den Nagel zu hängen? Sein Vater, der ihn in das Geschäft begleitet hatte, riss ihn aus den Gedanken – „Die musst du haben!“ – und schoss ihm die preisliche Differenz zu.

Schnitt und Sprung nach Canterbury: Hier gründeten die von Mallorca wieder zurückgekehrten Musiker eine neue Gruppe mit dem Namen Wilde Flowers. Wyatt spielte Schlagzeug, Hopper Bass, Kevin Ayers sang und spielte Gitarre und Hoppers Bruder Brian übernahm die Rolle des zweiten Gitarristen. Die Formation vermied Daevid Allens manchmal düstere Blödeleien und das Bühnengezappel und setzte auf eher geerdeten Rock ’n’ Roll. Bei ihrem Debüt im Januar 1965 bestand das Repertoire der Wilde Flowers aus Songs wie „Johnny B. Goode“ und „You Really Got Me“, durchsetzt mit von Coltrane, Ellington und Monk inspirierten „Jazz-Häppchen“.

Vorbei waren die Zeiten des richtungslosen „Gedudels“ hinter Gedichtvorträgen und die wütenden Blicke zutiefst verwirrter Manager. Die neue Gruppe schrieb und spielte Popsongs, die meist den gängigen Strukturen folgten. „Ich hatte mich noch nicht mit den Vorstellungen der Bourgeoise angefreundet –

dem exakten Timing oder tonal geradem Gesang“, witzelt Wyatt.

Ayers, dessen lange Haare und charismatisches Erscheinungsbild ihn naheliegenderweise zum Frontmann machten, verfügte über eine Gesangsstimme, deren Begrenztheiten unverkennbar waren. Nach dem vierten Gig der Band flüchtete er – erneut nach Mallorca.

Mit dem neuen Sänger Graham Flight nutzte die Band jede Chance, um groß rauszukommen. Am 10. Juli traten die von (diesmal) Allen und Wyatt „angeführten“ Wilde Flowers in einem „nahezu leeren“ Kingsmead Stadium auf, und zwar im Rahmen des Canterbury Jazz und Folk Festivals. Unbeeindruckt verfolgte die Band ein vom Jazz inspiriertes und von Hopper forciertes Konzept: Das „kontinuierliche Set“. Hierbei flossen die Songs ineinander über, und man verzichtete auch auf Pausen für das Stimmen, da sie die Vorwärtsbewegung abgewürgt hätten.

„Die ursprüngliche Idee basierte auf der Verbindung von Jazz-Nummern mit ähnlichen Riffs und Mustern“, erläutert Hopper. „Dann übertrugen wir den Ansatz auf andere Songs, womit die einzelnen Sets zunehmend deutlicher zusammenhingen.“ Es gab einen Grund, dass dieser Ansatz funktionierte und zudem notwendig wurde. Es waren die Gigs, die die Wilde Flowers ergattern konnten. Sie spielten „bis tief in die Nacht, wo es nur natürlich erschien, dass eine Nummer in die andere überging, um die Feierlustigen und Tanzenden auf dem [Parkett] zu halten“.

Dieser Trick stellte sich als perfekt für die Auftritte heraus und kaschierte zudem den mangelnden Erfolg der Band bei dem Versuch, einen Plattenvertrag abzuschließen. „Jahrelang haben wir mit Daevid und seinen Freunden experimentelle Musik gemacht“, erinnert sich Robert Wyatt. „Dann versuchten wir es mit Popmusik, was uns auch nicht sonderlich lag, woraufhin wir unsere eigene Musik erfinden mussten.“

Am Ostersonntag 1966 begrüßte Robert Graves eine kleine Reisegruppe. Zu den äußerst freudig Empfangenen gehörte Wes Brunson, ein Optiker aus Oklahoma, der wie auch der Rest der sich spontan gefundenen Clique die Insel aus einem Grund besuchte – er wollte zu sich selbst finden. Der Reporter Graham Bennett berichtete: „Die Reise ermutigte Wes dazu, Kevin [Ayers] in aller Ausführlichkeit von einer Vision zu erzählen, durch die er instruiert wurde, Gott zu dienen. Er sollte seine Finanzen dazu nutzen, überall das neue Zeitalter zu verkünden.“

Daevid Allen hatte eine ähnliche Vision, doch er benötigte Geld, um in England eine New-Age-Band ins Leben zu rufen. Unverzüglich kontaktierte er Hugh Hopper und unterbreitete ihm das Angebot: „Wir starten eine Popgruppe und machen tausend Pfund“, versuchte Allen den Bassisten mitzureißen. „Willst du einsteigen?“

Das machte er. Gemeinsam mit Larry Nowlin, einem Gitarristen der Mallorca-Szene, gründeten Allen, Wyatt, Ayers und Hopper die Gruppe Mister Head. Sie traten erstmalig im August 1966 beim Midsummer Revels in Coombe Springs auf, wo sich Mike Ratledge an den Keyboards zu ihnen gesellte. „Die harmonischen Möglichkeiten der Band begannen sich zu öffnen und zu erweitern“, erklärt Wyatt.

Ayers: „Die Franzosen schätzen kunstvolle Projekte. Ein Artikel in dem Nouvelle Observateur brachte uns groß heraus. Ich glaube, man beschrieb uns so positiv, weil Mike mit dem Journalisten fickte. Wir hatten also eine gute Besprechung und damit war es erledigt. Plötzlich öffnete sich Südfrankreich unserer Musik. Wir waren zudem Lieblinge der Literaturszene.“

Die Band zog dann wieder nach Großbritannien, doch ohne Nowlin, der sich nicht mit auf die Reise machte. Die neue fünfköpfige Gruppe änderte den Namen in Soft Machine, ein Tribut an den bekannten Roman von William Burroughs. Obwohl beinahe jeder ein enges Verhältnis zu Burroughs pflegte –

drei Mitglieder hatten ihn bei Lesungen begleitet, Ratledge sogar kurz mit ihm zusammen gewohnt –, benötigten sie sein Einverständnis zum Bandnamen. Allen wurde ausgesandt, um sich die Erlaubnis von Burroughs zu holen. Er traf ihn an einer Straßenecke in Paddington, wo er sich wieder mit einer unnötigen Aura des Rätselhaften umgab.

„Er kam aus einem Geschäft, den Hut über die Augen gezogen, und sah wie ein zerknitterter Versicherungsverkäufer von der Lower East Side in Manhattan aus. Als ich ihm vom Grund unseres Treffens berichtete, blinzelte er wie ein alter Alligator und meinte mit gedehnten Worten: ‚Wüsste niiicht, waaas dagegen spriiicht.‘ Als ich ihn fragte, was er als Nächstes vorhabe, antwortete Burroughs: ‚Hm, werd mir ’ne neue Frisur zulegen und dann verschwinden!‘ Tatsächlich bin ich ihm nie wieder begegnet.“

Progressive Rock

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