Читать книгу Progressive Rock - David Weigel - Страница 7
ОглавлениеDie Formel war einfach: Gitarre, Bass, Schlagzeug, ein Sänger und eine Orgel. Im Sommer 1965 hatte die so kreierte Musik Hochkonjunktur in Großbritannien. Die besten (oder am besten „verpackten“) Bands überschwemmten Europa und die USA. Kids, die sich die von Seemännern manchmal versetzten Gitarren gekauft hatten, spielten nun in den Tanzsälen und coverten dabei amerikanischen Rhythm ’n’ Blues. The Paramounts übten die kompletten 45 Minuten des James-Brown-Albums Live At The Apollo und erweckten die Musik auf der Bühne wieder zum Leben. „Jede Abweichung von dem klar definierten Set – wie zum Beispiel ein zusätzlicher Drum-Fill – führte zu einem kleinen Bußgeld“, erinnert sich der Schlagzeuger Phil Wainman.
Die Moody Blues hatten mit „Go Now“ einen Hit, einem grundehrlichen, aber aufgeblasenen und „geweißten“ Cover eines verschollenen amerikanischen Rhythm ’n’ Blues-Songs. Es folgte eine Reihe von eher schlicht gestrickten Beat-Songs, doch ihr Label Decca hielt an der Band fest, wenn auch ohne große Erwartungen.
Die Musik, die das junge Großbritannien zum Rock ’n’ Roll mit seiner immanenten pulsierenden Gefahr gebracht hatte, und der Stil an sich wurden zahmer. Stattdessen entwickelte sich eine größere Lautstärke der Performance, die aber noch nicht den grundsätzlichen Ausdruck veränderte.
Keith Emerson, der 1965 die ersten Gigs mit seiner neuen Orgel spielte, entdeckte im Marquee, wie einfach es war, die Lautstärke zu manipulieren. „Ich verstand nicht, wie dasselbe Keyboard, das ich spielte, bei Manfred [Mann] wesentlich lauter war. Ein freundlicher Roadie gab mir den Tipp. Er hatte Manfred dabei beobachtet, wie er den Leslie-Lautsprecher kurz vor einem T-Bones-Konzert leiser stellte. Am letzten Abend riss ich den Lautstärkeregler voll auf. Wir kamen total gut an, und seitdem hat Manfred Mann nie wieder mit mir gesprochen.“
Bei einer Frankreichtour der V.I.P.s im Jahr 1966 brach im Publikum ein Streit aus. Eine andere Band hätte möglicherweise zu spielen aufgehört. Emerson hingegen traktierte seine Hammond und kreierte unwirkliche und brachiale Klänge. Statt der Musik der Gruppe hörten man nun „Luftschutzsirenen“ und den „Klang eines Maschinengewehrs“, alles Resultate von Emersons Experimenten mit seinem armen, geschundenen Instrument. Der Streit löste sich schnell in Luft auf.
Das geschah auf einer Tour. In einigen Clubs fanden die ersten nächtelangen Auftritte statt, bei der eine Band nach der anderen experimentierte und musikalische Barrieren durchbrach. Die Wilde Flowers hatten das schon bei ihren Canterbury-Auftritten beobachtet.
Diese Konzerte mündeten am 30. Januar 1966 in den [Underground]-Mainstream, denn an diesem Tag fand das erste die ganze Nacht lang dauernde „Happening“ im Marquee in London statt. Der Progressive Rock erwuchs aus der Gegenkultur, doch seine Wurzeln reichten tiefer. 1966 existierte für Bands noch kein offensichtliches Orientierungsmuster, um sich von den herkömmlichen Pop-Strukturen zu lösen. „Ich glaube, es war ein verdammtes Glück, dass wir nicht wussten, wie man covert“, erklärt Roger Waters, dabei die Gigs von Pink Floyd Sound im Jahr 1966 einschätzend. „Wir sahen uns gezwungen, einen eigenen Weg zu suchen.“
Psychedelische Musik, oftmals liebevoll Psychedelia genannt, entwickelte sich lange nach den ersten Versuchen eines Daevid Allen und erstreckte sich viel weiter, als er es jemals zu träumen gewagt hätte. Populäre Acts wie die Beatles setzten sich mit dem Stil auseinander, Labels kauften alles ein, was auch nur entfernt psychedelisch klang, und Bands, die den Sound verstanden, durften sich auf einen vollen Terminkalender freuen. Soft Machine und Pink Floyd, die den „Sound“ schnell verinnerlichten, gehörten bald schon zum „Inventar“ des Marquee und der Veranstaltungen des UFO-Clubs und wurden zum Anker der nächtlichen Shows. „Ich war im UFO drei Mal auf LSD“, erinnerte sich Pete Townshend und gestand dabei, dass er befürchtete, Waters könne ihm die Freundin ausspannen, während er „geschwächt vom Acid“ war.
Kevin Ayers beschreibt das Phänomen von Soft Machine: „Es drehte sich doch alles um Leute, die einen literarischen, gebildeten Background hatten und aus der Mittelschicht stammten. Plötzlich dachten sie sich: ‚Scheiß drauf, ich werde nicht Medizin studieren, weder Rechtsanwalt noch Arzt werden, mich nicht ins Arbeitsleben integrieren.‘ Was die Populärmusik anbelangte, geschah das damals nirgendwo anders [als in progressiven Kreisen].“
Zu dem Zeitpunkt orientierte sich ein Großteil der Bands aber immer noch am Songformat und den Melodien. The Syn hatten einen mehrwöchigen Gastspielvertrag in Cannes unterzeichnet, eine Zeit, an die sich Steve Nardelli gut erinnert. Der Veranstalter „erwartete eine Art von Kabarett-Truppe. Nach drei Wochen warf man uns raus, weil wir zu laut waren und die Stammgäste wegbliesen.“ Als sie als gut etablierte Motown-Cover-Band nach Großbritannien zurückkehrten, ging es ins Marquee zum Vorspielen. Der Song der Wahl: „I’ll Keep On Holding On“. Der Manager John Glee winkte ihnen anerkennend zu. „Ihr bringt es.“ Stück für Stück – wie bei einem Puzzlespiel – entstand eine Szene.
The Syn hatten mit Peter Banks einen neuen Gitarristen. Er wurde der gesamten Band vorgestellt, darunter auch dem Gitarristen John Painter, den er ersetzen sollte! „Ich erlebte erstmalig, wie kalt das Musikgeschäft sein kann.“ Nachdem Banks eingestiegen war, „erbte“ er Painters Rickenbacker. „Nicht nur habe ich ihm den Job ‚gestohlen‘, sondern auch noch seine Gitarre.“
Der Bassist Chris Squire fiel Banks als „talentiert, arrogant und selbstsüchtig [auf], was aber von einer umgänglichen und freundlichen Persönlichkeit abgemildert wurde“.
Nachdem er von den V.I.P.s in den Pubs rund um das Marquee gehört hatte, stieg Emerson im August 1966 bei der von Chris Blackwell gemanagten Gruppe ein. „Für uns stellten Frank Zappa and the Mothers of Invention und Charles Lloyd die Vorbilder dar, was sehr stark mit PP Arnolds schwarzem Soul-Ansatz kontrastierte. Doch musikalisch gab es niemals ein Problem bei der Verschmelzung der unterschiedlichen ethnischen Herkunft.“
„‚A Whiter Shade Of Pale‘ wurde während einer Party in Guy Stevens Haus zum Leben erweckt“, erinnerte sich Keith Reid im Beisein eines Biografen. „Wir saßen in einer großen Gruppe zusammen, rauchten und amüsierten uns. Während eines Witzes, bei dem alle lauthals loslachten, versuchte Guy [seiner Frau] Diana zu verklickern, dass sie sehr blass geworden sei, und rang [bei dem ganzen Hintergrundlärm] um Worte.“ Wie sich verschiedene Partygäste erinnern, kam dabei der Satz heraus: „You’ve turned a whiter shade of pale.“ Somit hatte Reid seine Textzeile!
„Erst viel später – nachdem ich den ganzen Song geschrieben hatte – erzählte ich Guy von der inspirierenden Situation. Natürlich konnte er sich überhaupt nicht mehr erinnern, etwas gesagt zu haben, was mich hätte beeinflussen können.“
Reids Text, drei Strophen, die später zu zwei gekürzt wurden, fing einen unbedeutenden Moment bei einer Party ein und stellte ihn in einen eher unergründlichen Kontext. „Mir ist es schleierhaft, wenn Leute erzählen, sie verständen den Text nicht“, wundert sich Reid Jahrzehnte später. „‚We skipped the light fandango.‘ Das ist gerade heraus. ‚Turned cartwheels across the floor.‘ Für mich ist das eindeutig.“ Reid gehörte zu den Anhängern der französischen Nouvelle Vague sowie der Kunst des Surrealismus und hätte somit kaum einen Text geschrieben, der traditionellen Mustern entsprach. „Man kann eine Linie zwischen den narrativen Bruchstücken, der Atmosphäre der französischen Filme und ‚A Whiter Shade Of Pale‘ ziehen.“
Mystisch anmutende Texte waren nichts Neues in den Charts – nicht im Frühjahr 1967. Procol Harum setzten sich von anderen Bands ab, denn sie punkteten mit einer höchst einprägsamen, aus der Klassik stammenden und auf einer Hammond gespielten Melodielinie, die [durch die Produktion und den Ausdruck] geradezu einer Klangkathedrale glich. Die Melodielinie, basierend auf einer C-Dur-, a-Moll-, F-Dur-, d-Moll-, G-Dur- und e-Moll-Akkord-Progression mit einem absteigenden Bass wurde von Bachs Air [aus der dritten Orchestersuite in D-Dur] abgekupfert. Genauer gesagt, war es die luftigere und von Bässen dominierte Version, die Jacques Loussier aufgenommen hatte. Gary Brooker hatte sie bei einem Werbespot für Hamlet-Zigarren gehört, ein kurzer Sketch, bei dem sich ein junger Mann in einem Waschsalon bis auf die Unterwäsche auszieht und damit die weibliche Kundschaft schockiert. Nachdem der Mann seinen Anzug in die Waschmaschine gesteckt hat, dreht er sich um und steckt sich eine Zigarre an. Die Frauen beruhigen sich, froh, nicht mit einem Exhibitionisten konfrontiert zu sein. Dabei hört man die sich in der Intensität steigernden Akkorde von Bach. „Glückseligkeit“, summt der Erzähler, „ist eine Zigarre mit dem Namen Hamlet.“
„Der ursprüngliche Hamlet-Werbeclip, in dem die Komposition vorkommt, war schon immer einer meiner Favoriten gewesen“, erklärt Brooker. „Wenn der Typ sich seine Zigarre ansteckt, entspannt sich die gesamte Situation. Eines Tages setzte ich mich dann hin und versuchte das Air nachzuspielen.“
Matthew Fisher, der auf diesem Procol-Harum-Track tatsächlich die Orgel spielt, schreibt Brooker den Melodiebogen zu, verwahrt sich aber gegen die grundsätzliche Interpretation, wie der Hit zustande kam. „Er behauptet, dass er versucht habe, das Air nachzuspielen. Angeblich richtete er sich dabei nach der Jacques-Loussier-Version; ich glaube auch kaum, dass er sich jemals die Originalfassung von Bach angehört hat. Brooker versuchte die [neuere] Version zu spielen und dabei zu singen. Dabei hat er die Harmoniefolge aber nicht korrekt wiedergegeben, da ihm damals keine Platte zur Verfügung stand, und so entwickelte sich das Stück in eine andere Richtung. Ich hingegen kannte das Original und richtete mich danach, doch als ich mir das Solo zurechtlegte, integrierte ich eine Referenz an ein weiteres Bach-Stück, nämlich Wachet auf, ruft uns die Stimme oder wie auch immer man es nennt – und das stellte einen beabsichtigten Verweis dar. Letztendlich resultierte es in einem Mix aus beiden Kompositionen, mit einigen anderen Elementen, die nichts damit zu tun haben.“
Der massive und überirdische Sound kam durch einen simplen Trick zustande, den niemand vorher ausprobiert hatte. „Auf meiner Orgel gab es eine Voreinstellung mit einem bombastischen Kirchenorgel-ähnlichen Klang, und ich dachte, dass er gut zu einer Rockgruppe passen würde“, erläutert Fisher. „Es war einzig und allein meine Idee, ein fest umrissenes Solo zu komponieren und die beiden letzten Takte in eine zufriedenstellende und sich logisch auflösende Form zu bringen.“
Procol Harums Demo landete bei Tony Hall, der Bands für Deram unter Vertrag nahm, dem Progressive-Label der Decca. „A Whiter Shade Of Pale“ war exakt der Song, für den man Deram ins Rennen geschickt hatte – eine langsam fließende und melancholische Ballade, die nicht direkt wie ein Hit klang, aber deren Melodie man nicht aus den Synapsen „löschen“ konnten, hatte man sie einmal gehört. Hall erinnert sich: „Wir hörten das Demo den ganzen Abend und bis zwei Uhr am Morgen.“
Dieser Song sollte nicht bei der BBC debütieren. Nein, Hall würde ihn Radio London überlassen, einem der Piratensender, die die britische Zensur umgingen, weil sie von einem Schiff außerhalb der britischen Hoheitsgewässer aus sendeten. Die erstmalige Ausstrahlung fand am 17. April statt. Nur wenige Wochen darauf stand „A Whiter Shade Of Pale“ in den Plattenläden. Der bombastische „Kathedralenklang“ hatte seine Wirkung nicht verfehlt – Procol Harum waren eine Sensation. Am 12. Mai spielte die Band den ersten Gig bei einer Veranstaltung des UFO-Clubs, danach vor einem ausgewählten Publikum im Speakeasy. „Hendrix kam ins Speakeasy, um uns zu sehen“, berichtet Brooker. „Als wir gerade mit ‚Morning Dew‘ begannen, sprang er plötzlich auf die Bühne, schnappte sich das Instrument unseres Bassisten, drehte es um und spielte mit.“
Dieses eher unbedeutende Ereignis steht für die grundsätzliche Atmosphäre in London im Frühjahr 1967. Die am 3. Juni erscheinende Ausgabe von Disc and Music Echo erwähnte all die hochkarätigen Personen, die man bei der letzten Show von Procol Harum im Speakeasy gesehen hatte: „Alle vier Beatles, Georgie Fame, Chris Farlowe, Cat Stevens, Andrew Loog Oldham, Eric Burdon, Pete Townshend, Roger Daltrey und Denny Cordell.“ Paul McCartney hörte das Stück im Speakeasy und erklärte es zum „besten Song aller Zeiten“. An diesem Abend traf er eine Fotografin namens Linda Eastman. Später schenkte er ihr zur Erinnerung an die erste schicksalhafte Begegnung eine Single von „A Whiter Shade Of Pale“.
Während die Single den ersten Platz der Charts eroberte und dort sechs Wochen lang verharrte, betraten Brooker und seine Bandkollegen die Boutique Dandy Fashions in Chelsea. Die Beatles waren ihnen zuvorgekommen und „standen um ein Harmonium herum und sangen ‚A Whiter Shade Of Pale‘ exakt in dem Moment, in dem wir das Geschäft betraten“.
Die Wilde Flowers konnten sich nicht in der Musikwelt etablieren, Soft Machine hingegen – bis auf einige Fehltritte – durchaus. Wie auch die Beatles sicherten sie sich einen Gastspielvertrag für den Beat-Club in Hamburg. Ganz und gar nicht wie die Beatles wurden sie allerdings nach der ersten von drei Nächten aufgefordert, schnell nach Hause zu verschwinden. Der Zeitpunkt hätte nicht geeigneter gewesen sein können, denn die Softs ergatterten eine andere Auftrittsmöglichkeit, und zwar in der samstagabends stattfindenden Veranstaltungsreihe „Spontaneous Underground“ im Londoner Marquee.
Kevin Ayers fand darüber hinaus mit Mike Jeffery und Chas Chandler ein neues Management. Beide waren vorher bei den Animals tätig gewesen, Ersterer als Manager und Letztgenannter als Bassist. Der Club wollte anfänglich nur Kevin Ayers allein buchen, doch der Vertrag wurde für die gesamte Band abgeschlossen, und zwar für eine „Traumgage“ von 12 Pfund pro Woche. Noch unter dem Eindruck des Hamburger Flops stehend schrieb Ayers den auf die Charts abzielenden Song „Love Makes Sweet Music“, doch die Band fand ihr wichtigstes Publikum bei den immer größer werdenden Psychedelic-Shows. „Verglichen mit dem Mainstream-Pop und Rock ’n’ Roll klang unsere Musik sehr amateurhaft“, meint Ayers. Er liefert einen Erklärungsversuch: „Man konnte leicht erkennen, dass die Musiker aus unterschiedlichsten Referenzgruppen kamen.“
Im September 1966 hatte das Team Jeffery/Chandler einen neuen Klienten angeworben: einen 24-jährigen Gitarristen namens Jimi Hendrix. Während Soft Machine Aufnahmen machten, baute sich Hendrix mit einigen Gigs einen phänomenalen Ruf auf. Ein November-Konzert im Bag O’Nails zog Musikerpersönlichkeiten wie Pete Townshend, John Lennon und – Kevin Ayers an. „Die ganzen Stars waren da und ich hörte bierernste Kommentare wie ‚Scheiße‘, ‚Jesus‘, ‚Verflucht‘ und sogar noch unaussprechlichere Wörter“, erinnert sich Ayers.
Der psychedelische Boom wirkte sich auf die damaligen Musiker unterschiedlich aus. Die Softs standen unter anderem an vorderster Front und wurden zu Headlinern der „Be-Ins“ von variierender Größe und Bedeutung. Am 29. April 1967 gesellten sie sich im Rahmen des „14 Hour Technicolor Dream“ zu Pink Floyd, den Move, der Crazy World Of Arthur Brown, Creation und den Pretty Things. Die Veranstaltung im Londoner Alexandra Palace wurde von dem Underground-Magazin International Times gesponsert, das in den folgenden Monaten über alle neuen Trends berichtete. Zur „Lightshow“ zählte ein direkter Lichtstrahl, der aus dem Grubenhelm eines Bergarbeiters kam – getragen von Daevid Allen! Die Musik von Soft Machine wurde zu der Zeit zunehmend von einem Sound bestimmt, den Ratledge mithilfe eines Verzerrers aus seinem Lowrey-Keyboard herauskitzelte. „Wir konnten uns keine Hammond leisten, das eigentlich authentische Instrument, und so spielte ich mit dieser klapprigen Lowrey“, schmunzelt der Musiker. „Ich wollte diese Power nachahmen, die Hendrix auf der Bühne brachte, und fand es zum Kotzen, dass nur die Gitarristen immer die ‚harten Eier‘ hatten.“
The Syn entwickelten sich weg von den Motown-Covern und versuchten sich am Schreiben von epischen Songs, was in dem Fall längere und ausgearbeitete Kompositionsabschnitte und stilvolle Kostüme bedeutete. Dieser Trend befremdete Peter Banks, der nicht verstand, warum sich in Großbritannien von den USA inspirierter „Drogenrock“ manifestierte. Das mündete darin, „dass wir psychedelische Rockopern spielten“, erzählt Banks. „Eine handelte von Gangstern. Wir verkleideten uns in stilechten Gangster-Outfits – einer trug sogar einen gelben, zweireihigen Anzug, Chris einen grünen, und auch ein weißer wurde eingesetzt. Jeder verkörperte eine Rolle und wir sangen die Stücke wie in einem Musical – ja, wie in einer richtigen Rockoper. Wir hatten gelesen, dass Pete Townshend schon für ein ähnlich gelagertes Projekt Songs schrieb, was dann in Tommy resultierte. Wir zeigten uns fest entschlossen, die erste Band zu sein, die so ein Konzept auf der Bühne umsetzt. Möglicherweise waren wir das auch.“
Andere Acts fügten sich zwangloser in die Szene ein. Steve Howe stieg nach einigen Cover-Bands bei Tomorrow ein, deren Single „My White Bicycle“ ein radikales Programm zur gemeinsamen Nutzung von Verkehrsmitteln propagierte, aber nur allzu leicht für eine Drogen-Hymne gehalten werden konnte. Die Konzerte erstreckten sich bis tief in die Nacht, und Howe erinnert sich, dass sich die Atmosphäre zunehmend intensivierte. „ Die Hippie-Promoter traten an uns heran und schwärmten: ‚Wir standen voll auf die Show, ihr bekommt eine zusätzliche Gage.‘ Es war ein unglaublicher Wandel, weg von den alten Managern des Musikgeschäfts, die dich nur abziehen wollten.“
Jahrzehnte später erklärte Howe dem Journalisten Jim DeRogatis, dass der Stil, aber auch die Szene an sich, Bands wie Yes hervorbrachte. „Yes hätten niemals ihren eigenen Stil entwickeln können ohne die Erfahrung eines freiheitlichen und non-konformen Ansatzes, der von den Psychedelic-Bands kam.“
Gründete sich eine Band neu, gab es immer „Hinterbliebene“. Diese Musiker wurden oftmals von gewieften Managern neu entdeckt. Der Agent Ian Ralfini ermutigte Pye Hastings, früher bei den Wilde Flowers, etwas Neues auszuprobieren. Der Begriff „Progressive“ hatte eine bestimmte Bedeutung gewonnen, nicht als klar umrissene Definition, sondern als Synonym für das Gespür von musikalischer Skalierung und etwas Neuem. „Er meinte: ‚Ich möchte eine englische Progressive-Band in die USA bringen und vorher mit ihnen ein klasse Album veröffentlichen‘, erinnert sich Hastings an Ralfinis Ambitionen. „Wenn ihr mir ein gutes Album abliefert und Engagement zeigt, bekommt ihr von mir alles, was ihr wollt. Einen Transporter, Klamotten, eine Ausrüstung – alles, was ihr ‚on the road‘ benötigt“, motivierte der Manager seine neuen Zöglinge. Hastings: „Zu der Zeit spielten wir immer noch mit Soft Machines Equipment –
Verstärker und so weiter. Sie hielten sich gerade in den USA auf, würden die Geräte aber nach der Rückkehr wiederhaben wollen. Der neue Deal kam also zur richtigen Zeit.“
Kurz darauf tourten Soft Machine wieder in Frankreich und spielten vor Zuschauern, die bereit für ein „Be-in“ waren. In Saint-Tropez verlängerte die Band eine simple Melodie auf eine Länge von über 40 Minuten. „Die dahintersteckende Idee basierte auf einem grundlegenden Zen-Konzept – wenn man etwas als langweilig empfindet, gewinnt es durch die kontinuierliche Wiederholung an Reiz und wird interessant“, erläuterte Ratledge dem Biografen Graham Bennett den Ansatz. „Durch die Wahrnehmung gewöhnt man sich entweder daran oder verändert den eigenen Standpunkt [wodurch die Melodie unterschiedlich anmutet]. Das ähnelt den Sachen, die Terry Riley macht. Kevin entdeckte das während seiner Zeit des spirituellen Liberalismus, und es war gleichzeitig ein Beweis dafür, wie hip wir waren.“
Im August hatte die Band die Rundreise auf dem Kontinent beendet und kehrte nach England zurück. Allerdings hielt man sie in Dover an. Die Einwanderungsbehörde sah einen berechtigten Grund dafür, Daevid Allens Arbeitserlaubnis zu prüfen. Allen wusste auch warum. „Mein Name stand auf einer Liste in ihrem großen schwarzen Buch. Aus dem Land ausgewiesen zu werden, war geradezu berauschend und befreiend, das Beste, was mir passieren konnte.“
Weiter geht es mit dem Gitarristen Davy O’List von der einflussreichen Band The Nice: „Wir hatten Glück, denn Jimi Hendrix kam zu einem unserer Gigs und überredete uns zu einer gemeinsamen Tournee.“ Es war die erste „psychedelische Tour“ in Großbritannien, bei der neben den drei erwähnten Gruppen noch weitere auftraten: 40 Minuten Hendrix, siebzehn Minuten Pink Floyd und zwölf für O’List und Kollegen, und trotz der kurzen Spielzeit wurden die Nice zu Headlinern. „Rondo“ war ein sprichwörtlicher Killer.
Das Debüt der Nice trug den Titel The Thoughts Of Emerlist Davjack, wobei sich der imaginäre Name auf Kürzeln der Nachnamen der Bandmitglieder bezog, der Titel an sich aber auf die Tatsache anspielte, dass Lee Jackson die Angewohnheit hatte, ständig die Mao-Bibel bei sich zu tragen. Das Album war ganz und gar nicht politisch, was auch das Cover ausdrückte, das die Musiker mit Cellophan zusammengebunden zeigte.
1967 erhielt Mike Pinder einen Anruf, der ihn zum Arbeiterclub der Dunlop-Fabrik bestellte. Dort holte der Musiker ein Mellotron ab, herabgesetzt um 300 Pfund von einem Ausgangspreis von 3.000 Pfund. Pinder fand ein Instrument vor, welches einem Keyboard ähnelte. Allerdings wurde mit jeder gedrückten Taste ein analoges Band mit einem bereits aufgenommenen Sound angesteuert. Die Länge des Bandes stellte den einschränkenden Faktor dar, da man es nur sieben bis acht Sekunden pro Anschlag spielen konnte „Auf meinem eigenen Instrument verfügte ich über zwei besonders für Soli geeignete Manuals“, erklärt Pinder. „Die Seite für die Sounds der rechten Hand wurden auf das linke Manual kopiert, womit ich Orgelklänge nutzen konnte. Mit der linken spielte ich also die Orgel-Sounds und mit der rechten Streicher, Flöten und Bläser. Ich konnte allen zeigen, dass jeder einzelne Ton von mir stammte.“
Die Moodies machten einen schwere Zeit durch, denn ihr Sänger Denny Laine hatte sie verlassen. Nun stieg der vom britischen Folk geprägte Justin Hayward als Ersatz ein. Decca wies der Band den neuen Produzenten Tony Clarke zu. Der 25-jährige Clarke hatte sich bislang als gesichtsloser Session-Musiker bewährt, doch kaum Erfahrungen als Produzent vorzuweisen. Er erzählt: „Es war ein wichtiges Instrument. Jeder, der damals etwas auf sich hielt, spielte es. Die Beatles besaßen, glaube ich, vier und sogar Prinzessin Margaret hatte eins, schwarz mit goldenen Verzierungen.“
Für Pinder stellte die kleine Orgel mit dem darin „gefangenen“ BBC-Orchester ein Geschenk des Himmels dar. „Man ist es einfach leid, auf allen Songs Klavier, Klavier, Klavier zu spielen.“ Nun konnte er auf einmal „die schon seit der Kindheit in meinem Kopf herumschwirrenden Ideen“ heraufbeschwören, die Gegenmelodien und Klangfarben, die ein Klavier niemals hervorzaubern kann.
„Notenfeste Musiker wussten, dass das Spielen einer C-Taste über einem E wie eine startende Rakete klingen konnte“, erläutert Graeme Edge. „Man nutzte diese Sounds, indem man sie wie eine normale Notation aufschrieb. Mike tüftelte herum und fügte Bläser hinzu, Streicher, Dudelsäcke und was sonst noch alles möglich war, womit das Mellotron an Natürlichkeit zulegte.“
Nun wartete Pinder auf ein Projekt. Die Decca hatte die zündende Idee. Das Label „wollte ein Orchester mit einer Rockband kombinieren, für eine Demonstrations-Schallplatte, um den Hörern den vom Deram-Label weiterentwickelten Stereo-Sound nahezubringen“, berichtet Pinder. Zuerst stand Antonín Dvořàks Aus der neuen Welt auf dem Spielplan.
Die Band fand die Idee cool – Clarke fand die Idee cool. Was den Produzenten aber regelrecht packte – im Gegensatz zu einem Album mit der Interpretation eines klassischen Werks –, war das Demo eines Hayward-Songs mit dem Titel „Nights In White Satin“. Der Sänger hatte das Stück vor seiner Zeit mit den Moodies geschrieben. Die Inspiration dazu – kein Scherz – war Bettwäsche aus Satin. Hayward: „Eine Freundin schenkte mir weiße Satin-Bettlaken, die recht unpraktisch waren, da ich einen extrem starken Bartwuchs hatte. Somit kann es verdammt unangenehm sein, auf Satin Schlaf zu finden. Eines Abends kam ich nach einem Gig nach Hause, setzte mich auf die Bettkante und ließ meinen Gedanken freien Lauf.“
Die Band ignorierte den Ratschlag des Studios hinsichtlich der Nutzung der Räumlichkeiten und wählte Deccas Studio One aus. „Wenn das Licht abgedimmt oder ganz aus war, entstand ein unglaublicher, an Cinemascope erinnernder Bildschirmeffekt [durch die Kontrollleuchten]. Jahre später ließ ich tatsächlich eine Leinwand am hinteren Ende des Studios einbauen“, erinnert sich Clarke. „Die Projektoren [mit Paraffin vor der Linse] standen darunter und wir warfen bestimmte Muster auf die Wand, die sich langsam in andere Formen veränderten.“
Statt sich mit der Sinfonie eines anderen Komponisten abzumühen, kreierten die Moodies ihr eigenes Werk mit sieben Stücken, die Tageszeiten entsprachen. „The Day Begins“ kommt zum Beispiel vor „Dawn: Dawn Is A Feeling“, was letztendlich in „Nights In White Satin“ überführt wird. Neben einem Song über eine Mittagspause ist auch der Pop-Titel „Tuesday Afternoon“ zu hören.
Hayward: „Ich rauchte einige Joints, ging mit meiner Gitarre zu einem Feld, setzte mich hin und schrieb den Song. Er handelte von der Suche nach einer Art Erleuchtung, einer religiösen oder psychedelischen Erfahrung im Leben. Es lag gar nicht in meiner Absicht, dass man den Text allzu ernst nahm, aber sechs Monate später war es geschehen: Unsere erste Single in den USA. Bang! Man denkt [beim Komponieren] meist nicht daran, den Text zu analysieren oder danach gefragt zu werden.“
Laut Clarke überraschten die ersten Aufnahmen Deccas Manager. „Ich erinnere mich noch, dass ich zu spät zu einem Montagstreffen kam. Die verschiedenen Abteilungsleiter diskutierten mit ernsten Gesichtern über die Musik. Unser Manager meinte ablehnend: ‚Tja, darum habe ich aber nicht gebeten.‘ Wenige Wochen darauf gratulierte er mir! Bei dem beklemmenden Treffen stand plötzlich der Vorstand der Klassik-Abteilung auf und sagte: ‚Ich finde es großartig. Es ist ein mutiger Schritt.‘ Das war sehr nett.“
Das Label gab seine Zustimmung. Kurz danach traf die Band auf das London Festival Orchestra, um den Songzyklus komplett einzuspielen. Zum ersten Mal war ein Rockalbum als komplettes, ineinander verzahntes Werk geschrieben worden, bei dem jeder Song in den anderen überging, unterstützt von kunstfertigen Streichern und Bläsern. Clarke: „Die Musiker passten so gerade ins Studio. An der Aufnahme beteiligten sich drei Cellisten, die ihre Instrumente mit einem Bogen strichen, und einer von ihnen musste sich auf dem Flur platzieren. Ich empfand es als einen eindrucksvollen Anblick. Einige Orchestermitglieder trugen Kopfhörer – zum Beispiel die ersten Geigen – was für sie eine neue Erfahrung war.“
Die Decca veröffentlichte sowohl die Single „Nights In White Satin“ als auch das Album Days Of Future Passed am 10. November 1967. Über einen Umweg hatten die Moody Blues ein neues Konzept in die Welt gesetzt: Ein Popsong, der von einem klassischen Orchester getragen wird. Das Geheimnis dieser Innovation lag laut Graeme Edges Erinnerung darin, „einen Haufen Musiker zu versammeln, die zu blöd sind zu wissen, dass man sie für zu dumm hielt, so ein Ding durchzuziehen“.
Anfang 1968 bestimmte der psychedelische Boom die gesamte Londoner Szene –
und das Interesse der Rock-Labels. The Syn trennten sich, woraufhin Banks und Squire bei Mabel Greer’s Toyshop einstiegen. Die Auftrittsangebote flatterten ins Haus, und was das Songwriting anbelangte, hatte Squire gerade einen neuen Titel mit dem Titel „Beyond And Before“ geschrieben. „Wir spielten in vielen der angesagten Clubs und bei den Veranstaltungsreihen des UFO. All die Leute gingen durch die Läden, sahen die Paraffin-Lightshows und fragten sich, welcher Tag und welches Jahr denn sei“, beklagt sich Banks.
Im August 1968 stellte Squire seinem Kollegen Banks einen Sänger mit einer hohen und geschmeidigen Stimme vor – Jon Anderson. Banks kannte ihn als „einen der Leute, die ständig in Läden wie dem Marquee abhingen, dem La Chasse und einem kleinen Pub die Straße hoch namens Ship. Ich kam auf den Namen ‚Yes‘. Tatsächlich ging der mir schon seit Jahren – noch vor The Syn –
durch den Kopf. Ich mochte schon immer Bandnamen mit nur einem Wort und Yes war kurz und positiv – außerdem wirkte es auf Plakaten übergroß. Mit nur drei Buchstaben musste man es immer größer drucken.“
Die Band holte sich noch Bill Bruford ins Boot, einen mit Jazz aufgewachsenen Drummer, den die Musikszene zu diesem Zeitpunkt „fertiggemacht“ hatte und der mit Verbitterung reagierte. Auf seinen Schuhen stand der „ketzerische“ Slogan „MOON GO HOME“, womit er auf den Who-Drummer anspielte, der sonst mit positiver Kritik geradezu überschüttet wurde.
Tony Kayne, der sechs Monate warten musste, bis die Band seine Vox durch eine Hammond ersetzte, übernahm die Tastenarbeit.
„Die Proben konnten oft chaotisch sein, denn alle wollten gleichzeitig ihre Ideen vorstellen, was fast schon in Anarchie mündete“, schmunzelt Banks. „Es gab ganz schreckliche Tage, an denen das Zusammenspiel nicht funktionierte. Meine Gitarre gab den Geist auf, Bill wurde ärgerlich und drängelte mit einem ‚Los, mach schon, beeil dich‘, Chris war zu laut, Jons Ideen ergaben keinen Sinn und Tony dudelte auf der Hammond – und das stundenlang in voller Lautstärke. Keine vernünftige Organisation, keine Diskussionen, doch manchmal entstand aus der Kakofonie wunderschöne Musik.“
Als Yes – Banks Idee, für die er nie gewürdigt wurde – integrierten sich die Musiker wieder in die Szene. Zuerst bestanden die Sets überwiegend aus Coverversionen, da „wir glaubten, dadurch mehr Jobs zu bekommen“, erklärt Bruford.
„Wir beklauten alle“, gibt Banks zu. Ein besonderes Highlight war das Cover von „Something’s Coming“ aus West Side Story. Das Original-Arrangement mit der aufsteigenden Melodie der Streicher wurde durch einen schlichten Rock-Rhythmus im 4/4-Takt ersetzt. „Ehrlich gesagt, ‚liehen‘ wir uns die Idee zu dem Arrangement von der Buddy Rich Big Band aus.“
Doch die Gruppe spielte mit den Strukturen der gecoverten Stücke, verwandelte simple Beatles-Songs in „Laut-leise-laut“-Dynamikübungen. Yes komponierten schnell, und der erste Song hieß „Sweetness“, eine Ballade, bei der aber die Improvisation grundsätzlich den Verlauf bestimmte. Bruford: „Statt sich als Drummer allein auf den Rhythmus zu beschränken, einigten Chris und ich uns auf eine Rhythmusfigur, die ein Gegenrhythmus zur Melodie war. Dadurch spielten wir verschiedene Rhythmen zu gleichen Zeit, was mehr Spaß machte und lebendiger wirkte.“
Einige Elemente des Yes-Sounds lassen sich hingegen als beständig beschreiben, wie zum Beispiel die Läufe eines Chris Squire, die man im Endmix immer an prominenter Stelle hörte. Durch die intensive Zusammenarbeit entwickelten sich die Melodien der Gruppe oft hin zu unerwarteten Bögen. Banks: „Wir schrieben alle, da jeder seine musikalischen Beiträge lieferte und Passagen veränderte.“
Der Song „Harold Land“ entstand durch diese Art der Kooperation. Das Zentrum des Stücks wurde von einem kryptischen, provokanten Text von Jon Anderson bestimmt, der von den Abscheulichkeiten des Kriegs handelte. Den penibel arrangierten Titel bestimmten der Gesang Andersons, der über den geblockten und massiven Akkorden von Kaye schwebte, während Banks, Bruford und Squire einen harten Rock-Rhythmus in verschiedenen Taktarten zum Besten gaben. „Mir war damals gar nicht klar, wie befreiend die Musik war, denn es gab nichts, mit dem man sie vergleichen konnte“, erinnert sich Bruford.
Procol Harum tourten auf den Wellen des Erfolgs von „A Whiter Shade Of Pale“ und kehrten mit der wenig beneidenswerten Aufgabe ins Studio zurück, einen Nachfolger aufzunehmen. Reid und Brooker kamen auf die Idee einer epischen Suite von Songs, ein langer Track mit den unterschiedlichsten Parts, der den Arbeitstitel „Magnun Harum“ trug. Alle passenden und geschmackvollen Fragmente sollten eingebaut werden, jeder gefundene Sound, dem man eine Bedeutung verleihen konnte. Das Resultat war „In Held ’Twas In I“, ein siebzehnminütiger Track und eine unvergleichliche Komposition in der damaligen Popwelt. Er bestand aus fünf Abschnitten: „Glimpses Of Nirvana“, „’Twas Tea-Time At The Circus“, „In The Autumn Of My Madness“, „Look To Your Soul“ und „Grand Finale“.
„Man muss keine psychedelische Drogen zur Bewusstseinserweiterung nehmen“, meint Gary Brooker. „‚In Held ’Twas In I‘ begann mit Sprachfragmenten, gefolgt von beschwörerischen Parts und dann Gesangsteilen. Und das war an sich schon bewusstseinserweiternd.“
Der Song funktionierte als Ankerpunkt für Shine On Brightly, veröffentlicht im September 1968, um bei der US-Tournee daraus Profit zu schlagen. Das Album erfüllte nicht die hoch gesteckten Erwartungen und stieg „nur“ auf Platz 24 in die Billboard-Charts ein. Zwei Monate später wurde es in Großbritannien auf den Markt gebracht, wo es sich besser verkaufte, allerdings die musikalischen Gefilde nicht in dem Maße bestimmte wie der Riesenhit „A Whiter Shade Of Pale“. Die Fans, die sich die Platte zulegten, fanden jedoch eine auseinandersetzungswürdige Arbeit vor. Leider wirkte „In Held ’Twas In I“ nicht in allen Belangen als eine Suite, doch die Idee eines ausgearbeiteten und zusammenhängenden Longtracks war wertvoll und sollte in naher Zukunft häufig als Inspiration dienen.
„Shine On Brightly ist für mich ein außergewöhnliches Album“, schwärmte Pete Townshend gegenüber Barry Miles 1969 in einem Interview, das sich hauptsächlich um Tommy drehte, die bevorstehende Who-Platte. „Es wird für mich ab diesem Zeitpunkt einen großen Einfluss darstellen.“ Der Interviewer wurde neugierig – warum sollte „kantige“ Musik wie die von Procol Harum dem Musiker irgendetwas sagen? „Ich finde, dass ihre Musik bezüglich der Basis stärker geworden ist. Mir ist klar, dass die Wurzeln in einer [aus heutiger Sicht] verschwommenen Ära liegen. Es waren die Tage der Kantaten und Gott weiß was – eine sehr, sehr langweilige Phase. In dieser Ära gab es nur vier oder fünf Stücke, die sich von den anderen abhoben, und darauf beschränkt sich der Nährboden der Band, [über den sie stetig hinausgeht].“
Zur gleichen Zeit – Stunden von der Londoner Szene entfernt, aber bestens über alles informiert – freuten sich Genesis über einen kleinen Durchbruch. Sie hatten zwischen den Kursen des Internats Charterhouse einige Songs aufgenommen, darunter die geschmackvolle Ballade „Hey“ mit einem offensiven Mittelteil. Das Demo von „Hey“ schickten sie an verschiedene Adressen. Niemand schien sich dafür zu interessieren, bis ein wenig älterer Charterhouse-Abgänger darüber stolperte.
Jonathan King, 25 Jahre alt, hatte den weltweiten Hit „Everyone’s Gone To The Moon“ (1965) geschrieben und den Erfolg als Karrieresprungbett für einen Job als TV-Gastgeber genutzt, der ihn dann zu seiner Tätigkeit als Scout für die Decca führte. King feierte mit einigen Charterhouse-Freunden, als ihm einer der Anwesenden vorschlug, sich mal das Band anzuhören, das die vielversprechende Teenager-Gruppe mitgeschnitten hatte.
„Ich musste an die Träume und Hoffnungen während der Charterhouse-Zeit denken, die erst zwei Jahre zurücklag – wie ich selbst ein Star sein wollte –, und wollte mir das daraufhin mal zu Gemüte führen“, erzählt King. „Ich legte das Tonband auf, hörte es mir an und dachte: ‚Hm, die sind ja wirklich nicht schlecht‘.“
King überlegte nur kurz, und aus einem noch skeptischen Mann wurde ein glühender Befürworter und Strippenzieher. Er bezahlte laut Peter Gabriel die „unglaubliche Summe von 10 Pfund“, um ein professionelleres Demo aufzunehmen. Gabriel: „Wir hielten uns damals für Songwriter, doch bevor wir uns versahen, lagen Verträge mit einer Laufzeit von zehn Jahren auf dem Tisch. Nach einer Tasse Tee und ein wenig Geplauder unterzeichneten wir bereitwillig. Da standen wir nun, unter Vertrag bei Jonathans Verlag, der Aufnahmen an die Decca lizenzierte. Unsere Eltern zeigten sich entsetzt, als sie hörten, was wir gemacht hatten, doch glücklicherweise waren wir alle noch minderjährig, womit der Vertrag nichtig war. Mit Unterstützung und Unterschrift der Eltern schlossen wir für die Laufzeit von einem Jahr einen juristisch einwandfreien Vertrag ab.“
Die jungen Musiker veranstalteten mit King eine Art Tauziehen über die Ausrichtung der Band. Eine Idee sah vor, Gabriel, Banks und die anderen Musiker als Songwriter-Kollektiv zu formieren. King empfand Genesis als Band und wollte sie dementsprechend aufbauen. Die Studioaufnahme von „The Silent Sun“ wurde ihre erste Single und mit Streicher-Arrangements von Arthur Greenslade aufgepeppt. Sie klang noch nicht sehr individuell, aber doch professionell.
Erstmalig hörte man die mit einem leichten Tremolo gesungene und selbstbewusste Stimme Peter Gabriels auf Vinyl, wobei er Gefühlsduseleien zum Besten gab wie „Baby, you feel so close“ und „Baby, you changed my life“. Erstmalig besprach man den Song in der Fachpresse, ohne das Alter der Komponisten zu berücksichtigen. „Eine Platte mit zahlreichen Facetten und großer Tiefe, doch für den durchschnittlichen Fan möglicherweise ein wenig zu komplex“, schrieb ein Journalist im NME.
Hinsichtlich der Aussichten der Gruppe reagierte King überschwänglich und mit einer ansteckenden Begeisterung. Gabriel: „Jonathan King jubelte, dass wir bei Top of the Pops auftreten würden, und so machten wir uns alle zu einem Einkaufsbummel für neue Klamotten auf.“ Der Gruppe fiel sogar ein für die Zeit originelles Outfit ein. Die Garderobe der anderen Bands glich einer Farbexplosion. Genesis wollten in einem schwarzweißen Outfit auftreten, suchten sich entsprechende Bekleidung – und traten nirgendwo auf. Keine Top of the Pops-Performance! Nicht mal ein klitzekleiner Auftritt in Jonathan Kings Show. „[Durch die ersten positiven Nachrichten bestärkt] reagierten wir über“, meint Anthony Phillips. „Ich wollte wahrscheinlich genauso wie die anderen ein Star sein.“
Die Nice standen in der Anfangszeit für psychedelische Klänge, nicht zuletzt aufgrund der spacigen Texte und den von Jimi Hendrix inspirierten Soli eines O’List. Sie orientierten sich am Image des „golden schillernden Gottes des Underground“, nicht zuletzt wegen der Bekanntschaft mit Hendrix, doch änderten ihren Ansatz bald.
„Wir sind eine europäische Gruppe, das ist unsere grundlegende Bandpolitik“, erklärt Lee Jackson, Lead-Sänger der Nice, in einem Interview mit der International Times 1969. „Somit improvisieren wir auch vor dem Hintergrund europäischer Formen und Strukturen. Die Improvisation kann bei jedem Musikstil vorkommen und wir wählten die europäischen Werke als Grundlage. Wir sind halt keine amerikanischen Schwarzen und können nicht so fühlen und improvisieren.“
Trotz der leichten und merkwürdigen Allergie gegenüber Synkopen hielten die Auftritte von The Nice das ambitionierte Versprechen. Emerson, der ständig seine Hammond malträtierte, fand heraus, dass ein flaches Objekt, steckte man es zwischen die Tasten, diese unten, also „gedrückt“ hielt. Die angespielten Töne wurden lauter und klangen verzerrter, während der Musiker auf einer anderen Tastatur spielte. Emerson benutzte zuerst Löffel und danach Messer. In seinen Memoiren erinnert sich Emerson an einen ganz speziellen Roadie der Band, der „eine große Sammlung deutscher Messer besaß und mir zwei Dolche der Hitler-Jugend mit den Worten überreichte: ‚Für die britischen Boy Scouts hat’s gereicht. Wenn du eins brauchst, nimm ein richtiges.‘“ Der Roadie war kein anderer als Lemmy Kilmister, der Jahre später Motörhead gründete. Dank seines Ratschlags schien Emerson sein Instrument jeden Abend auf der Bühne zu ermorden.
„Es gibt eine neue Gruppe mit dem Namen Nice – die dem Wort entsprechen“, witzelte Nick Jones in der Septemberausgabe 1967 des Rolling Stone. „Die Band wird von dem Organisten Keith Emerson angeführt, der groovy wie ein Astronaut alles umkreist … Falls ihr eure Augen offen haltet, werden ihr schon bald auf diese Typen abfahren.“ Der Melody Maker präsentierte seinen Lesern ellenlange Abhandlungen über den Look der Band. „… Leder und Wildleder, Lederjacken mit Fransen und Hosen, die in engen Plateaustiefeln verschwinden.“ Damit erklärte das Magazin 1968 zum „Jahr der Nice“.
Die Band nahm sich selbst sehr ernst. Am 6. Juni, nach dem Attentat auf Robert F. Kennedy, dachte Emerson über die allegorische Energie des Stückes nach, das die Band gerade ausarbeitete – Leonard Bernsteins „America“ aus dem Musical West Side Story. Emerson stellte sich die Frage: „Warum sollten wir keine Protestsongs arrangieren, wenn Bob Dylan und sein Pendant Donovan Protestsongs machen? Es könnte das erste Protest-Instrumental sein.“
In den Händen von Emerson, Jackson, Brian Davison und O’List hatte „America“ eine Spielzeit von sechs Minuten, konnte aber auch wesentlich länger gespielt werden. Die ersten Sounds: düstere Orgel-Akkorde, ein klagender Chorus, gedämpfte Schüsse und Schreie. Die letzten Klänge: Ein dreijähriger Junge, der sagt: „America is pregnant with promise and anticipation, but is murdered by the hand of the inevitable!“ In der Mitte des Ganzen taucht eine Stakkato-Figur aus dem vierten Satz von Dvořàks Sinfonie Aus der Neuen Welt auf.
Der Broadway vereinte sich mit der Klassik, beide verschmolzen im Jahr 1968 mit Bombast und Sinnstiftung. Am 26. Juni, bei einem Konzert der Nice in der Royal Albert Hall, schrie Jackson die Zeile „America is pregnant“ und gab damit Emerson das Startzeichen, die amerikanische Flagge zu verbrennen.
Der Keyboarder entschied sich zum Schreiben einer Sinfonie. Sie sollte Ars Longa Vita Brevis genannt werden, Latein für „Das Leben ist kurz, die Kunst dauert an“ und zugleich Leitsatz von Lee Jacksons Grammar School. Das opulente Werk, das die zweite Seite der LP-Ausgabe einnahm, verknüpfte verschiedene Elemente, wie einen Teil aus den Brandenburgischen Konzerten von Bach, einen beinahe 20-minütigen, psychedelischen Freak-Out mit dem Titel „Ars Longa Vita Brevis“ und einen exzellenten Hook mit sieben Noten, gespielt vom Gitarristen Davy O’List.
Doch O’List, sicherlich eine Schlüsselfigur des alten Nice-Sounds, wurde während der Album-Aufnahmen gefeuert, weil er bei einem Gig nicht auftauchte. (Emerson erinnert sich daran, dass O’List zu einem Zeitpunkt so „drogig“ war, „dass er Schokolade statt des richtigen Zeugs in seinen Tabak bröselte“.) In der Band dominierte nun die ernsthafte Seite. Ernsthaftigkeit bedeutete in dem Fall eine strukturierte Komposition, mit einem Präludium, vier Sätzen und einer Coda.
Auf Ars Longa Vita Brevis erklingt zuerst ein Moll-Akkord, gespielt von einem englischen Kammerorchester. Es folgt ein Lauf mit sechs Tönen auf Emersons Hammond, dann zwei düstere Akkorde des Orchesters und danach geht es wieder zurück zur Hammond. Die einzelnen Töne fließen schnell ineinander über, angetrieben vom Mann mit den Lederhosen, der die Fliegenträger des Orchesters zu hoher Geschwindigkeit anstachelt.
Emerson empfand seine ganz spezielle Freude beim Spielen schneller Passagen. Während der Aufnahme des Albums hockte er bei einer Pause auf der Toilette und hörte zufällig zwei Orchester-Mitglieder, die sich über die Würdelosigkeit des Jobs beklagten. „Ich kann es nicht fassen – das Tempo, mit dem sie die Brandenburger spielen“, seufzte ein Klassiker. „Das ist doch viel zu schnell.“ Emerson erledigte sein Geschäft, kehrte zur Orgel zurück und drehte die Lautstärke voll auf.
Das Präludium schloss nach circa zwei Minuten, ausgeleitet von einem Gong. Der erste Satz „Awakening“ war ein ungefähr vierminütiges Schlagzeugsolo. Ambitioniert und vollkommen ungewohnt, entriss es den Hörer aus der Welt der Melodien und führte ihn in ein Traumland aus Pauken und sich wiederholender Wirbel. Danach folgte O’Lists Gitarren-Lick, der noch ins Stück integriert wurde, obwohl man ihn aus der Band geworfen hatte. Das zweite Movement „Realisation“ war ein Popsong mit Gesang und einem Text, den Jackson sarkastisch interpretierte. Er handelte „von einem Leben voller Glückseligkeit“.
Es war bitterer Sarkasmus, für Hörer „psychedelischer“ Platten eher ungewohnt, doch sie hatten Glück, denn kurz darauf folgte ein wahrer Ohrenschmaus. Nach drei weiteren Minuten übernahmen Emersons Orgel und sein Keyboard die tragende Rolle, dabei ein auf sieben Noten basierendes Thema spielend, gefolgt von einer Bach-Melodie bei „Acceptance (Brandenburger)“. Beim Konzertabschnitt traten Orgel, Bass und Schlagzeug in Aktion und nun auch Teile des Orchesters.
Für einen Hörer, der sich wunderte, was die Nice denn hier veranstalteten, war das exakte Ende des Parts schwer feststellbar, der mit „Denial“ fortgesetzt wurde. Wenn er es erkannt hatte, tauchte das grundsätzliche Thema erneut auf. Emerson und seinen Kollegen war es gelungen, die Komposition logisch zu verknüpfen, womit die Sinfonie schließlich endete.
Immediate Records, das Nice-Label in Großbritannien, entschied sich, die Aufnahmen als ernsthaftes Kunstwerk zu vermarkten – mit einem Keith Emerson als Genie und kreativem Kopf hinter der Sinfonie.
„Das erste Newton’sche Gesetz besagt, dass sich ein Körper in einem Ruhezustand befindet oder einer gleichförmigen Bewegung auf einer Linie, wenn dieser Zustand nicht durch eine Krafteinwirkung verändert wird“, stand auf der schwarzen Cover-Rückseite in hervorstechenden weißen Buchstaben – Emersons Kommentar! „Nun entsprang diese Kraft einer europäischen Quelle. Unser Werk ist eine Fortsetzung des ursprünglichen Allegros aus dem 3. Brandenburgischen Konzert.“
„Würde Bach heute leben“, erläuterte Emerson einem Journalisten vom Melody Maker, „würde er wie ein Keith Jarrett spielen.“
Davy O’List hätte sich über so eine These aufgeregt, denn er empfand die prätentiöse spätere Inkarnation als Beweis dafür, dass die Band den Bezug zur Realität verloren hatte.
Seine Gitarre füllte einst das Klangbild der Gruppe. Zudem konnte Jackson laut O’Lists Meinung keine „Rock“-Songs singen, zumindest nicht so gut wie er. „Den Part von Ars Longa, der tatsächlich schlüssig war, haben wir als Gruppe gemeinsam geschrieben“, erklärte er gegenüber dem Autor dieses Buchs. „The Nice erreichten den Höhepunkt ihres Erfolgs, als ‚America‘ ein Hit in den Charts war“, erzählte er einem anderen Interview-Partner. „Ich glaube nicht, etwas verpasst zu haben.“
Allerdings kann man den Sound der Nice ohne einen Gitarristen tatsächlich als neu bezeichnen. Wenn die Band Ars Longa live darbot, wurde das komplexe Schlagzeugsolo mit Standing Ovations gefeiert. The Nice gaben sowohl in den USA als auch in weit entfernten Winkeln Europas größere Konzerte. Es stimmt, dass „Brandenburger“ als Single nicht in die Top 10 kam wie zuvor „America“. Doch die Single-Umsätze verloren zu der Zeit mehr und mehr an Bedeutung. 1968 war das erste Jahr, in dem der Albumabsatz den der Singles in Großbritannien und den USA überstieg. Die Hörer hatten genügend Pop-Singles gekauft, nun waren sie bereit für Pomp und Bombast, gespielt von Musikern, die mit Messern nach ihren Hammond-Orgeln warfen.
Ars Longa Vita Brevis lautete der Titel der zweiten Scheibe von Nice. Das Cover zeigte Emerson, O’List und Jackson als übereinander liegende Skelette mit knallig kolorierten Organen. Um das Foto aufzunehmen, injizierte man den Musikern vor dem Röntgen eine leicht radioaktive Substanz. Nach der Entwicklung von Emersons Aufnahme erfuhr dieser, dass er sich früher mal zwei Rippen gebrochen hatte.
„Man bricht sich beim Keyboardspielen die Rippen?“, fragte der verblüffte Arzt. „Ich hätte das niemals als eine so risikoreiche Tätigkeit eingestuft.“
„Kommt ganz drauf an, wie man Keyboard spielt“, lautete Emersons Antwort.