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Gestatten: Anna Müller

Untermoscheln – Was zunächst klingt wie eine ansteckende Krankheit, ist eigentlich ein kleines Achthundert-Einwohner-Kaff am Arsch der Welt. Achthundert Einwohner, aber mindestens tausend Kühe und Schweine. Bei achthundert Einwohnern gibt es logischerweise achthundert Geschichten. In diesem Buch geht es um die Geschichte eines Mädchens mit dem exotischen Namen Anna Müller.

Es ist fünf Uhr morgens. Wie sechs Tage in der Woche klingelt um diese Uhrzeit Annas Wecker. Und genau wie an jedem Morgen versucht Anna, mit ihrer Vorstellungskraft die Uhr eine Stunde zurückzudrehen. Erfolglos!

Noch schlaftrunken starrt sie mit halb geschlossenen Augen an die weiße Zimmerdecke und nimmt immer mehr die Geräuschkulisse war, die sich wie ein Presslufthammer in ihr Bewusstsein meißelt. Langsam dreht sie ihren Kopf nach links, um in das verschwitzte, schlafende Gesicht ihres Freundes Nils zu sehen.

Doch das nervtötende Schnarchen vom Nachbarkissen, das andere Menschen wahnsinnig machen würde, zaubert Anna ein Lächeln ins Gesicht. Dies sind die Momente, in denen ihr wieder klar wird, dass dieser 1,85 Meter große, gut gebaute, attraktive Mann ganz allein ihrer ist (inklusive Schnarchen). Sie dagegen – mit 1,68 Metern eher klein geraten, braune Haare mit langweiligem Pony, von dem sie sich, seit sie vierzehn ist, einfach nicht trennen kann, und wahllos verteilten Sommersprossen (was sich der liebe Gott wohl dabei gedacht hat) – hat es noch nie ganz verstanden, womit sie dieses Glück verdient hat.

Umso mehr stellt sie erneut fest, dass es nur fair ist, für diesen Glücksfang sechs Tage die Woche arbeiten zu gehen. Und ehrlich gesagt hat er sich auch eine Pause verdient, nach seinem fast abgeschlossenen Fernstudium der Betriebswissenschaften. Dass er dieses Studium frühzeitig abgebrochen hat, findet Anna zwar persönlich schade, ändert aber nichts daran, dass sie ihm bei seiner Entscheidung den Rücken stärkt.

Mist! Vor lauter Träumereien hat Anna die Uhrzeit aus den Augen verloren. In einer Stunde muss sie auf der Arbeit sein. Allein die Bergund Talfahrt auf dem Rad kostet sie jedes Mal schweißtreibende fünfundvierzig Minuten. Denn während in so ziemlich allen Nachbardörfern ein Bus das gängigste Verkehrsmittel ist, hat Untermoscheln die öffentlichen Fahrdienste vor acht Uhr morgens eingestellt. Doch jetzt schnell!

Vorsichtig zieht Anna die blaue Baumwollbettdecke von ihrem Körper, um Nils noch mehr damit einzukuscheln. Sie erhebt sich geräuschlos aus dem braunen Altholzbett und tippelt auf Zehenspitzen die vier Meter Richtung Badezimmer. Gar nicht so einfach in einer Vierzig-Quadratmeter-Wohnung, in der der Bodenbelag aus vierzig Jahre alten Holzdielen besteht, die bereits beim Anschauen knarzen. In den letzten zwei Jahren hat sie die Stellen gefunden, welche man gefahrlos betreten kann. Es ist ein wenig wie in einem Indiana-Jones-Film.

An manchen Stellen muss sie ein wenig hüpfen, bei anderen darf sie nur leicht auftreten, um dann direkt weiter zu nächsten rettenden Diele zu gleiten. Jedoch wartet am Ende nicht ein verschollener Inkaschatz, sondern nur das mit türkischen Sechzigerjahre-Fliesen ausgestattete Badezimmer. Nun kommt eines ihrer größten Talente zum Einsatz, auf das sie sehr stolz ist. In den vergangenen Monaten hat Anna nämlich gelernt, das Multitasking der morgendlichen Aufbereitung zu perfektionieren. Wer sonst schafft es, mit nicht geputzten Zähnen und ungemachten Haaren den morgendlichen Toilettengang zu beginnen und ihn mit sauberen Zähnen und gemachten Haaren zu beenden? Ob das für den Hauptgewinn beim Supertalent reicht? Sie weiß es nicht. In Lichtgeschwindigkeit schlüpft sie leise in ihre blauen Jeans und zieht das weiße, ausgewaschene Poloshirt mit der Aufschrift „Tante Isabells Backstube“ über. Nur noch die zwei Meter vom Bad zur Wohnungstür trennen sie vom erfolgreichen Abschluss ihrer „Ich wecke meinen Nils nicht“-Mission. Gut gemacht, Dr. Jones, würde es dann heißen. Sich selbst auf die Schultern klopfend und mit einem breiten Lächeln führt sie gedanklich einen Freudentanz an der offenen Wohnungstür auf – um keine drei Sekunden später mit ihrer kleinen schwarzen Eastpak-Tasche wie der letzte Vollhorst die Vase von Nils bester Freundin Janine Richtung Erdboden zu befördern. Klirr! Ein schneller Blick auf Nils und vorbei ist es mit dem Inkaschatz.

Nicht gut gemacht, Dr. Jones. „Na, was ist es diesmal“, grummelt es Anna aus dem Bett entgegen.

„Die kleine grüne Vase von Janine“, flüstert Anna kleinlaut. „Tut mir total leid.“

„Okay“, entgegnet Nils wortkarg. „Hast es ja immerhin zwei Wochen ohne geschafft.“ Traurig über ihre Tollpatschigkeit (neben den Sommersprossen ein weiteres Laster) verspricht sie Nils, eine neue zu kaufen. „Ach ja, kümmerst du dich heute noch um die Bewerbung für den Ausbildungsplatz?“, fragt Anna zögerlich.

„Ein paar von den Jungs wollten nachher noch vorbeikommen“, gibt Nils zurück. „Aber wenn ich danach noch Zeit habe, kümmere ich mich darum.“

„Alles klar, Schatz.“ Mit diesen Worten und einem verliebten Lächeln verabschiedet sich Anna und macht sich daran, die Wohnung zu verlassen. Plötzlich fällt ihr auf, dass sie beinahe das Wichtigste vergessen hat. Schnell hopst sie die paar Meter auf den knarrenden Dielen Richtung Bett zurück, um sich noch von Mr. Brummbär zu verabschieden.

Mr. Brummbär ist ein verwaschener, etwa achtzig Zentimeter großer Stoffbär, den sie von ihrem Vater bekommen hat. Dieser ist vor sechs Jahren an Krebs gestorben, weswegen das Kuscheltier für Anna eine besondere Bedeutung hat. Das war die schwerste Zeit ihres Lebens, an die sie bis heute ungern zurückdenkt. Ihre Mutter hat sie nie kennengelernt, und so gab es immer nur ihren Vater und sie… und eben Mr. Brummbär, den Annas Papa ihr damals zur Geburt gekauft hat. Seit sie denken kann, verabschiedet sie sich, wenn sie das Haus verlässt, von Mr. Brummbär. Er bekommt jedes Mal einen Kuss auf die Nase und einen weiteren auf die Stirn und ein herzliches „Bis später, Mr. Brummbär“.

Nun aber wirklich los! Tür zu, das Treppenhaus herunter geflitzt, raus aus dem Haus und ab auf ihr rosa Fahrrad, das vor der Tür treu auf sie wartet. Bereits auf den ersten Metern beschleicht Anna das Gefühl, etwas weiteres Wichtiges vergessen zu haben. Doch nun ist es eh zu spät – die zehn Kilometer zur Bäckerei wollen in einer neuen Bestzeit zurückgelegt werden. Bereits auf den ersten Metern wird Annas Kondition auf die Probe gestellt. Völlig verschwitzt wird Anna wie jeden Morgen klar, warum Untermoscheln eben Untermoscheln heißt. „Der Mount Everest ist ein Scheiß dagegen“, versucht Anna sich ihre schlechte Kondition schönzureden.

Während Annas Beine immer langsamer und ihre Flüche immer lauter werden, hört sie neben sich ein freundliches und vollkommen entspanntes „Guten Morgen, liebe Anna.“ Völlig angenervt und rot wie eine Tomate dreht sie ihren Kopf nach links – die Richtung, aus der die Stimme kam. „Morgen, Frau… Lend… kühn“, versucht Anna erfolglos ihre Kurzatmigkeit zu verbergen. Kaum hat sie dies ausgesprochen, muss sie plötzlich an die Dokumentation vom letzten Dienstag denken, in der es um die Kurzatmigkeit von Möpsen ging – diese kleinen, niedlich sabbernden Hunde, die gefühlt nach drei Metern Laufen völlig erschöpft zu Boden gehen. Seltsam.

„Grüße an … Herrn Lendkühn“, japst Anna atemlos. Doch Frau Lendkühn ist bereits außer Hörweite hinter der nächsten Bergkuppe verschwunden. Echt deprimierend. Vor allem, wenn man bedenkt, dass die Frau bereits Anfang Siebzig ist und eine Beinprothese hat. Doch bevor Anna den Gedanken weiter verfolgen kann, kommt sie auch schon an ihre Lieblingsstelle: die Kuppe des Berges. Von hier aus kann man das ganze Tal überblicken. Man kann über Untermoscheln ja behaupten, was man will, aber die Aussicht ist atemberaubend. Alles, was das Licht berührt… Ach nee, falsche Story. Aber der Ausblick erinnert in seiner Schönheit tatsächlich an einen bekannten Disneyfilm. Der Beginn der grünen Wälder auf der einen Seite, die weiten gelben Kornfelder, die leicht im Wind hin und her schwanken auf der anderen, und die gefühlt unendlichen Kuhweiden.

„Hallo, ihr Lieben“ winkt Anna fröhlich den Kühen zu. Das ist ein weiteres ihrer Morgenrituale. Anna kann es sich bis heute nicht erklären, aber seitdem sie ein kleines Kind war, hat sie schon immer etwas für Kühe übriggehabt. Dieser Teil der Strecke ruft bei Anna stets glückliche Erinnerungen hervor. Über mehrere Jahre winkte sie den Kühen jeden Tag mit ihren Freundinnen Clara und Alex zu, mit denen sie lachend und kichernd auf dem Weg zur Schule hier vorbeigeradelt kam. Clara und Alex. Von beiden hat sie schon lange nichts mehr gehört. Nils hat ihre Freundschaften aus unerklärlichen Gründen nie für gut befunden. Er sagt immer, dass er Anna ganz für sich alleine haben will. Anna hat sich anfangs schwergetan, das zu akzeptieren, jedoch hat es auch einen gewissen Charme. Wie Bonnie und Clyde. Nur eben ohne wilde Verfolgungsjagden mit der Polizei und einen grausamen Tod in einem von Schüssen durchsiebten Auto.

Traurig ist sie über die verlorenen Freundschaften trotzdem hin und wieder. Denn ein schlechter Einfluss, wie Nils es behauptet, waren Alex und Clara nun wirklich nicht. Clara, Klassensprecherin, Messdienerin und treuestes Mitglied des Untermoschelner Kirchenchores. Und Alex war seit jeher die unscheinbare graue Maus, die nicht wirklich für Partyexzesse bekannt war. Das Wildeste aus Alex‘ Strafregister war der Versuch, mit dreizehn Jahren ihre ersten Zigaretten zu kaufen. Dafür ist sie extra zwei Dörfer weiter in das Kaff Beuel gefahren, um nicht erkannt zu werden. Alex hat sich nach eigener Aussage zwar fast in die Hose gemacht, war aber in ihrer Mission erfolgreich. Stolz kam sie mit den Zigaretten wedelnd zu ihrem Versteck am Bach geradelt. Keine zwei Minuten später versuchte sie vergeblich, mit zitternder Hand ihre erste Zigarette anzuzünden. Die Zigarette wollte einfach nicht angehen, aber dafür roch es plötzlich irgendwie ziemlich nach Erdbeere. Alex, die dusselige Kuh, hatte in ihrer Aufregung das Rot der Marlboro-Zigaretten mit dem Rosa der Erdbeerkaugummi-Zigaretten verwechselt. Das erklärte dann auch, warum ihr der Kioskverkäufer die Zigaretten so bereitwillig ausgehändigt hatte. Die drei entschieden sich nach diesem Erlebnis, gemeinsam mit dem Rauchen aufzuhören.

Noch in Erinnerungen schwelgend, verpasst Anna beinahe das gewünschte Ziel. Das war knapp! Fast wäre sie vom Schwung des Abbremsens über den Lenker geworfen worden, während ihr treues rosa Fahrrad mit quietschenden Reifen vor Isabells Backstube zum Stehen kommt. „Sie haben Ihr Ziel erreicht!“

Schnell lehnt sie noch das Fahrrad an die mit grauem, altem Putz verarbeitete Wand der Bäckerei. Völlig stolz und total verschwitzt stellt sie fest, dass sie es doch noch pünktlich geschafft hat. Jetzt nur noch das Schloss an dem roten, vergilbten Sechzigerjahre-Kaugummiautomaten mit dem Alf-Aufkleber anbringen. So kommt keiner mehr an die alten, steinharten Bonbons. Das ist aber vielleicht auch gar nicht so schlimm, denn Anna ist sich ziemlich sicher, dass das immer noch die gleichen Bonbons sind wie zu der Zeit, als Anna hier vor vier Jahren angefangen hat. Dabei hatten die damals schon nicht mehr ihre ursprüngliche Farbe.

Endlich an der Tür angekommen, stürzt Anna in die Bäckerei, um Frau Schiffer freudestrahlend zu begrüßen. „Guten Morgen, Frau Schiffer!“

Frau Schiffer ist eine fünfundsechzigjährige, stets gut gelaunte, leicht untersetzte Dame. Unter der Bäckereischürze trägt sie stets eine bis zur Perfektion gebügelte weiße Rüschenbluse mit Schulterpolstern. Auf dem für ihren Körper recht schlanken Hals sitzt der Kopf mit den weißen, zu einem Zopf gebundenen Haaren und einem liebevollen Gesicht, das… sie ernst und traurig ansieht? Moment mal. Was ist hier los?

„Hallo Anna, bitte schließe mal die Tür hinter dir, ich würde gerne mit dir sprechen“, fordert Frau Schiffer den verschwitzten Neuankömmling auf. Auweia. Selten fängt eine gute Nachricht so an.

Frau Schiffer nimmt an dem schwarzen Tisch, der eigentlich für Gäste gedacht ist, Platz und bittet Anna mit einer Handbewegung, es ihr gleichzutun. Anna wird ganz mulmig. „Du weißt ja, es läuft aktuell nicht so rosig.“

Nicht so rosig ist gut, denkt Anna, gestern waren fünf Kunden da und einer davon wollte einen Döner bestellen.

„Ja“, entgegnet Anna zögerlich. Nach einer kurz en Pause fährt Frau Schiffer traurig blickend fort: „Na ja, und… mir fällt es echt total schwer. Aber ich muss dich leider entlassen. Ich hoffe, du kannst das verstehen.“

Anna schnürt sich plötzlich die Kehle zu und sie hat das Gefühl, als ob ihr der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Noch völlig geschockt und ohne groß nachzudenken sprudelt es aus Anna heraus: „Ehrlich gesagt nicht. Jakob ist ein lieber Kollege, aber er kann bis heute keine Brötchen schmieren, kriegt den Kunden gegenüber höchstens einen geraden Satz heraus und ich bin mir ziemlich sicher, dass er die Kasse auch nicht beherrscht.“

Verwundert legt Frau Schiffer den Kopf zur Seite und schaut Anna stirnrunzelnd an. „Anna, dir ist schon bewusst, dass Jakob mein Sohn ist, oder? Und wenn ich ehrlich bin, hast du dir in den letzten Wochen und Monaten auch das ein oder andere erlaubt. Unter anderem hast du letzte Woche zweimal vergessen abzuschließen. Ich bin froh, dass wir nicht bestohlen wurden.“

Was soll man denn hier bitte stehlen, denkt Anna plötzlich. Die drei Brötchen vom Vortag oder die 5,50 Euro aus der Kasse? „Ja, ich gebe zu, letzte Woche habe ich mal was vergessen, aber das war echt eine Ausnahme. Also, dass ich grundsätzlich vergesslich bin, das stimmt einfach nicht.“ Frau Schiffer schaut bedrückt zu Boden. „Anna. Liebes. Mach es mir doch nicht schwerer, als es eh schon ist. Du kannst ab heute frei machen und bekommst dein Restgehalt natürlich ausgezahlt. Lass mir einfach die Schürze und deinen Kassenschlüssel da.“

Anna realisiert, dass es sinnlos ist, dagegen anzukämpfen und greift traurig in ihre Tasche, um den Schlüssel herauszuholen. Doch wo eigentlich ein kleiner, metallener Schlüssel mit lustigem Giraffenanhänger sein sollte, ist nur ein leerer Platz -und die Erkenntnis, was sie heute Morgen tatsächlich noch vergessen hat. Scheiß-Timing!

Prinzessin Arschloch

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