Читать книгу Prinzessin Arschloch - David Lowe - Страница 5

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Ein Scheißtag

Der Weg zur Arbeit hat sich ja richtig gelohnt, denkt Anna, während sie sich auf ihr rosa Rad schwingt. Auf geht es zurück nach Hause. Sie überlegt noch kurz, ob sie Nils anrufen soll, um ihm zu sagen, was gerade eben passiert ist, entscheidet sich aber dagegen. Wieder stellt Anna einen neuen Rekord auf ihrem Rad auf – doch diesmal eher in die andere Richtung. Langsam und schleppend tritt sie in die Pedale. Sie ist wütend. Richtig wütend. Doch nicht etwa auf Frau Schiffer, die Anna seit vielen Jahren schätzt, sondern auf sich selbst. Diese Scheißverpeiltheit hat sie einfach mal ihren Job gekostet. Und dann auch noch ihre Reaktion auf die Kündigung! Wie doof muss man denn sein, um den Sohn der Chefin zu kritisieren? Diese freche Art ist Anna gar nicht ähnlich, aber wohl einfach der Unbeholfenheit geschuldet. Erneut fährt sie bei mittlerweile leichtem Regen an den Kühen vorbei. Auch diesmal winkt sie hinüber. Doch was vor nicht einmal einer Stunde voller Leichtigkeit und Freude war, erinnert nun eher an die Schlussszene des Films Titanic… nur etwas weniger dramatisch. Sie ist todtraurig. Die ganze Zeit hat sie versucht, die Tränen zurückzuhalten und stark zu sein, doch nun platzt es aus ihr heraus. Keine Ahnung, warum es ausgerechnet hier und jetzt passiert, aber nun ist es auch egal. Anna weiß nicht, wann sie das letzte Mal so aufgelöst war. Langsam erwachen ihre Beine aus der Narkose. Sie nimmt nun mehr und mehr Geschwindigkeit auf. In Trauer verfallen möchte Anna nun einfach nur noch zu ihrem Nils und in den Arm genommen und getröstet werden – ist er doch der einzige echte Freund, den sie noch hat. Ihr Clyde. Ihr Fels in der Brandung. Hoffentlich ist er noch allein zu Hause, damit sie ihm beichten kann, was passiert ist. Das ist nun wirklich kein Ereignis, bei dem sie Publikum braucht. Nun fließen die Tränen wie bei einem aufgedrehten Wasserhahn. Wie peinlich. Zum ersten Mal in ihrem Leben freut sich Anna darüber, dass es regnet. So sieht niemand, dass das kleine Mädchen auf ihrem rosa Rad heult. Klein, genauso fühlt sie sich gerade.

In dieser Stimmung erreicht sie endlich ihr Zuhause. Mittlerweile klitschnass und einem begossenen Pudel ähnelnd, stellt sie ihr rosa Fahrrad an der grauen Hauswand ab. Sie atmet noch einmal tief durch und blickt zögerlich auf die Haustür. Tausend Gedanken schießen ihr durch den Kopf. Wie soll sie Nils nur erklären, dass sie jetzt kein Einkommen mehr hat? Immerhin gehört Nils ja die Wohnung. Diese hat er zu seinem achtzehnten Geburtstag von seinen Eltern geschenkt bekommen. Insofern leistet er ja seinen Beitrag. Und was ist mit ihr? Jetzt kann sie nichts mehr beisteuern. Einige Minuten im Regen vergehen, bevor sie sich endlich entschließt, es zu wagen. Augen zu und durch! Schnell noch die Haustür geöffnet und dann nähert sie sich mit kleinen, zaghaften Schritten ihrem Zuhause.

Einem wandelnden Gespenst gleich schleicht sie durch das Treppenhaus und steht dann vor ihrer Wohnungstür. Bitte, bitte, lieber Gott – lass Nils alleine sein. Mit zittriger Hand sucht sie ihren Wohnungsschlüssel und findet diesen in ihrer Tasche. Immerhin ein Schlüssel, den sie heute nicht vergessen hat. Sie öffnet die Tür und betritt ihre Wohnung.

Als sie instinktiv nach rechts schaut, stellt sie erschrocken fest, dass Nils nicht alleine ist. Aber seine Kumpels, von denen Nils vorher gesprochen hat, sind es definitiv nicht. Diese liegen nämlich in der Regel nicht nackt in seinem Bett. Es ist Janine, Nils‘ „platonische“ Freundin. Mit aufgerissenen Augen starren sich Anna und Janine an. Keiner bewegt sich. Totale Stille. So etwas nennt man wohl einen Bilderbuch-Schockzustand.

Bevor Anna auch nur ein Wort sagen kann, wird die Stille von der Klospülung unterbrochen. Die Klotür öffnet sich und Nils betritt das Zimmer und erblickt Anna. Auch sein Gesichtsausdruck spricht Bände. Schockzustand. „Hä? Warum bist du denn schon hier? Bist du nicht sieben Stunden zu früh?“, eröffnet Nils das Gespräch unerwartet vorwurfsvoll.

Mittlerweile kreidebleich, ist Anna total überfordert. „Du hast recht. Tut mir leid“, stammelt sie unsicher vor sich hin. Sowohl Nils als auch Janine, die sich zwischenzeitlich mit Annas grüner Bettdecke die Brüste bedeckt hat, schauen Anna verwirrt an. Diese geht nun langsam zwei Schritte zurück Richtung Wohnungstür und verlässt schweigend die Wohnung. Total skurril. Wie? Kein Rumgeschreie? Kein zerbrochenes Porzellan? Nils und Janine können nicht fassen, was gerade passiert ist.

Anna übrigens auch nicht. Langsam steigt sie die Treppe hinab und hält vor der Haustür kurz inne. Sie starrt mit glasigen Augen ins Nichts. Sie hat immer noch nicht realisiert, was sie gerade gesehen hat. Ihr Körper zittert. Ein Kloß schnürt ihr die Kehle zu. Eine unerklärliche Angst steigt langsam in ihr auf. Panik! Sie muss hier weg. Einfach nur weg. Plötzlich kann es sie nicht mehr halten. Sie fängt an zu rennen. Die alte Hauptstraße von Untermoscheln entlang, vorbei an den vergilbten Vorhängen der Wohnhäuser, die ihr jetzt gar nicht mehr vertraut vorkommen, sondern aus einer anderen Zeit zu kommen scheinen. Sie läuft und scheint überhaupt nicht müde zu werden. Durch die kleine Gasse, an dem grünen Stahltor vorbei und raus Richtung aus der Stadt. Einfach nur weg von hier. Entlang des Feldwegs, wo die Buslinie Zwölf einmal alle drei Stunden fährt, kommt sie langsam an dem gelben Schild mit der Aufschrift „Sie verlassen Untermoscheln“ zum Stehen.

So weit ist sie noch nie gelaufen. Müde und erschöpft sinkt sie an dem grauen Pfahl des Schildes hinab. Ihr Hintern wird nass von dem noch immer mit Tau bedecktem Gras. Sie kann die Spannung nicht mehr halten. Die Tränen brechen aus ihr heraus. Schon das zweite Mal heute. Womit hat sie das verdient? Als sie heute Morgen aufgestanden ist, war doch noch alles in Ordnung. Und nun sitzt sie mit nasser Hose und völlig verheulten Augen unter dem Stadtschild von Untermoscheln. Was hat sie nur falsch gemacht? Sie dachte immer, sie wäre eine gute Freundin. Plötzlich spielt sich die eben erlebte Szene erneut vor ihrem geistigen Auge ab. Sie muss sich übergeben. Wieder zeigt sich der Vorteil ihrer Ponyfrisur: Niemand muss einem beim Kotzen die Haare halten. Jippie. Aber selbst das kann sie nicht trösten. Was soll sie denn jetzt machen? Sie kann doch jetzt unmöglich wieder nach Hause.

Sie bemerkt in ihrer Hosentasche das Vibrieren ihres Telefons. Immer und immer wieder. Vermutlich ist es Nils, aber in diesem Moment ist er der allerletzte Mensch, mit dem sie sprechen möchte. Aber sprechen muss sie mit jemanden. Nur mit wem? Enge Familie hat Anna nicht. Sie kann ja jetzt schlecht Frau Schiffer anrufen und diese mit ihren Liebesproblemen nerven. Auf einmal hört sie von der rechten Seite ein lautes und kräftiges „Muuuh!“. Die Kühe! Natürlich. Der Weg zur Schule mit ihren Freundinnen, fällt es ihr wie Schuppen von den Augen: Clara und Alex! Hastig zieht sie ihr altes schwarzes Smartphone aus der Tasche und wählt wie von Geisterhand Claras Nummer.

Kann sie das wirklich bringen? Nach so langer Zeit und einfach aus dem Nichts sich wieder melden? Diese und viele andere Fragen gehen ihr durch den Kopf. Doch während die Zweifel immer größer werden, ertönt bereits eine freundliche Stimme aus dem Telefon. Aber es ist nicht Claras Stimme. Eher eine zirka vierzigjährige Dame, die Anna darauf aufmerksam macht, dass die gewählte Nummer nicht vergeben ist.

Enttäuscht, aber auch irgendwie erleichtert, stellt Anna fest, dass sich Clara nach den Jahren der Funkstille wohl eine neue Nummer zugelegt haben muss. „Warum bin ich nur so ein Schisser?“, ärgert sich Anna lautstark und tritt mit ihren roten, leicht abgenutzten Turnschuhen gegen das Stadtschild, unter dem sie noch vor wenigen Minuten zusammengesackt ist.

Allerdings lassen Verzweiflung und Wut manchmal Menschen über sich hinauswachsen. Entschlossen nimmt sie erneut das Handy in die Hand und wählt auch diesmal wie aus der Pistole geschossen Alex‘ Nummer. Ganze fünf Sekunden hält die soeben neu entdeckte Entschlossenheit, bevor Anna wieder daran zweifelt, ob sie sich einfach so aus dem Nichts bei Alex melden kann.

„Anna?“, klingt es plötzlich und völlig überraschend aus dem anderen Ende der Leitung. „Hallo Alex, ja, ich bin es. Ich…“ Doch bevor Anna auch nur den Satz zu Ende sprechen kann, unterbricht sie Alex euphorisch. „Anna, wie geil ist das denn? Dass ich dich noch mal höre… Das hätte ich nie gedacht! Wie geht es dir?“ beendet Alex fast schon kreischend ihren Monolog mit einer Frage.

„Du, um ehrlich zu sein, nicht so gut. Ich habe Nils gerade mit einer anderen erwischt und wusste einfach nicht, wen ich anrufen soll“, antwortet Anna mit leiser und beschämter Stimme.

„Was? Das ist ja das Letzte! Du Arme! Und dann rufst du mich als erstes an?“

Anna zögert kurz einen kleinen Moment und geht gedanklich durch, wie schlau es jetzt ist, Alex zu beichten, dass sie eigentlich Clara zuerst angerufen hat. Doch sie möchte die vielleicht neu aufgewärmte Beziehung zwischen ihr und Alex nicht gleich mit einer Lüge beginnen. „Um ehrlich zu sein, hatte ich zuerst Clara angerufen. Aber nicht, weil ich nicht mit dir zuerst sprechen wollte.“ Bevor Anna ihren Satz zu Ende bringen kann, reagiert Alex schon gelassen: „Hey, ganz egal, ob erste oder zweite. Hauptsache, ich bin in deinen Top Ten.“

In genau diesem Moment erkennt Anna wieder, warum Alex schon immer eine so tolle Freundin gewesen ist. Niemals schlecht gelaunt, nie beleidigt und einfach unkompliziert.

„Sag mal, was willst du denn jetzt machen? Hast du dir das schon überlegt?“, fragt Alex nun neugierig.

„Nein, ich habe keine Ahnung. Ich weiß gerade eigentlich überhaupt nichts mehr.“ Annas Stimme wird immer leiser. „Das ist einfach der zweitschlimmste Tag meines Lebens. Erst werde ich gekündigt und dann erwische ich auch noch Nils mit dieser blöden Janine.“

„Mit Janine?! Seiner alten Schulfreundin?“, regt Alex sich nun tierisch auf. „Die habe ich ehrlich gesagt noch nie gemocht. Ich hoffe, du hast ihr wenigstens richtig die Meinung gesagt und die Hölle heiß gemacht.“

Annas Blick spricht Bände. Nur gut, dass Alex sie nicht durchs Telefon sehen kann. Gedanklich geht Anna noch einmal durch, wie sie in ihrer Wohnung steht und sich, wenn man es genau nimmt, auch noch bei den beiden entschuldigt, dass sie zu früh nach Hause gekommen ist. Wie oberpeinlich.

„Nun, ich habe ihre Vase kaputt gemacht!“, stellt Anna mit einem kleinen Geistesblitz fest.

„Sag mal, wenn du doch gerade eh keinen Job hast und sowieso ein wenig Abstand brauchst, warum kommst du nicht einfach für eine Weile zu mir? Ich bin für längere Zeit im Ausland, aber meine Wohnung ist frei – und ein paar Tage bin ich ja auch noch da“, zeigt sich Alex begeistert von ihrem Einfall.

Diese Idee überrascht Anna sehr und bringt sie ernsthaft ins Grübeln. Es ist ja nicht so, als ob sie viele Optionen hätte. „Hmm, ich weiß nicht. Meinst du das wirklich ernst?“, fragt Anna nun mit leicht skeptischer Stimme.

„Ja klar. Ein Tapetenwechsel wird dir richtig gut tun“, freut sich Alex auf der anderen Seite des Telefons.

„Wohnst du denn immer noch in der Frankenstraße 13, wie früher?“, will es Anna jetzt genauer wissen.

„Hahaha…“, lacht Alex amüsiert ins Telefon. „Nein, du. Ich wohne schon seit fast drei Jahren in Berlin. Ich musste irgendwann einfach mal raus aus dem Dorf und meinen Horizont erweitern.“

Berlin? Da gibt es bestimmt ganz andere Tapeten als in Untermoscheln, denkt sich Anna. Nie hat sie daran gedacht, ihr Heimatdorf zu verlassen. Um genau zu sein, hat sie es auch bis heute kein einziges Mal verlassen. Zwar gibt es in Untermoscheln einen kleinen Bahnhof und somit die Möglichkeit, in die weite Welt zu reisen, aber bisher hat Anna nie einen Grund dazu gesehen.

„Na komm schon. Das wird bestimmt ganz lustig, und wir haben uns ja schon Jahre nicht mehr gesehen. Du bist bestimmt total gewachsen“, witzelt Alex nun ins Telefon.

„Aber ich habe noch nicht mal Klamotten mit und muss dann irgendwie noch in die Wohnung kommen, um die zu holen.“

„Quatsch, du kriegst alles von mir!“, unterbricht Alex Anna, bevor diese noch weitere Gründe nennen kann, weswegen sie nicht kommen möchte.

Annas Herz fängt nun richtig an zu rasen. Soll sie es wirklich wagen? Nach Berlin? Das ist ja nun nicht mal eben um die Ecke. Das ist hunderte von Kilometern entfernt! Und sie kennt ja auch niemanden da. Anna weiß nicht, was sie machen soll.

In Gedanken fragt sie sich, warum ihr niemand diese Entscheidung abnehmen kann. Wenn Anna nur ein bisschen mehr zuhören würde, würde sie feststellen, dass Alex seit gefühlt zehn Minuten versucht, genau dies zu tun.

Kleine Schweißperlen bilden sich auf Annas Stirn. Sie erhebt sich nun vom Boden und zieht sich langsam an der grauen eisernen Stange hoch, auf der das Stadtschild zu sehen ist. Moment mal. Wie hat Anna dies denn die ganze Zeit übersehen können? Das ist kein Stadtschild. „Alex… Ich komme“, kommt es plötzlich völlig überraschend aus Annas Mund.

„Echt jetzt?“, wirkt Alex fast schon entsetzt.

„Ja, ich habe soeben ein Zeichen bekommen, dass ich zu dir kommen soll…“


Prinzessin Arschloch

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