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Ein Neustart
Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Während Anna nun im Taxi sitzt und versucht, mit ihrer beschmutzten Jeans die Rückbank nicht dreckig zu machen, erkennt sie den Ernst der Lage. Das Taxi fährt sie wirklich zum Bahnhof Untermoscheln. Und die Verbindung, die sie sich mit Mühe herausgesucht hat, würde auch in weniger als zwanzig Minuten starten. Alles erscheint ihr so surreal. Immer noch spürt sie das harte Pochen in ihrer Brust sowie die Schwere ihrer Tränensäcke. Ihr ist immer noch einfach nur zum Heulen zumute. Aber gefühlt müsste ihr Körper schon komplett ausgetrocknet sein, nach all den Körperflüssigkeiten, die sie in den letzten Stunden verloren hat.
Am Bahnhof angekommen, drückt Anna dem altem Taxifahrer, der sie ein wenig an Horst Schlemmer erinnert, die geforderten zehn Euro in die Hand, um sich freundlich aber zügig von ihm zu verabschieden. Schnell rennt Anna zum Bahngleis, um sich zu vergewissern, dass der vor ihr stehende Zug wirklich nach Berlin fährt. Gott sei Dank hat unser Bahnhof nur zwei Gleise, denkt Anna leicht sarkastisch. So steht die Chance, das richtige Gleis zu erwischen, immerhin bei fünfzig Prozent.
Tatsächlich ist es ein Volltreffer: Anna hat richtig geraten. Nun steht sie vor einem weißgrünen Bummelzug der Marke „Wow, die fährt ja noch mit Dampf“ und atmet noch einmal tief durch. Stark bedrängt von der älteren Dame hinter ihr, wird Anna nun mehr oder weniger unfreiwillig durch die Tür hinein geschubst.
Erst einmal einen Platz finden, sagt sie zu sich selbst und sieht sich um. Alles frei. Erschöpft und müde lässt sie sich in ein leeres Viererabteil fallen und der Zug setzt sich in Bewegung. Es riecht, als wäre hier seit Jahren nicht durchgelüftet worden. Ein bisschen nach Frau Schiffers alter Schürze, denkt Anna leicht lächelnd, während das rhythmische Geräusch des Zuges sie in einen tiefen Schlaf fallen lässt.
Als sie das nächste Mal die Augen öffnet, steht ein in blauer Uniform gekleideter älterer Herr vor ihr. Sein Gesicht schmückt ein Siebzigerjahre-Pornoschnäuzer, so dass Anna grade noch das Lächeln darunter erkennen kann. „Aufwachen, junge Dame. Hier ist Endstation.“ Als sie sich langsam und behäbig aus dem Sessel löst, stellt Anna fest, dass sie sich auf die Schulter gesabbert hat. Und zwar nicht zu knapp ! Das erklärt auch das Grinsen des Schaffners, der ihr abschließend zuzwinkert und sich weiter Richtung Führerhaus begibt. Puh, Glück gehabt. Sie hat nämlich völlig vergessen, ein Ticket zu kaufen. Wofür so ein wenig Sabber doch gut sein kann! Den Trick sollte sie sich merken.
Noch leicht verschlafen und etwas wackelig auf den Beinen steigt Anna aus dem Zug aus, um Ausschau nach Alex zu halten. Ihre alte Freundin wollte sie hier auf dem Gleis abholen. Im Hintergrund tönen Ansagen durch die Lautsprecher und überall sind Menschen mit Koffern und Taschen. Ein bisschen hat sie das Gefühl, in einem Ameisenhaufen gelandet zu ein. Der Berliner Bahnhof ist schon ein wenig größer als der in Untermoscheln. Und hier gibt es auch mehr als zwei Gleise. Gar nicht so einfach, Alex unter all diesen Menschen zu finden. In klassischer Indianerpose hält Anna Ausschau nach langen blonden Haaren mit einem 1,70 Meter großen, schlanken Unterbau. Doch irgendwie scheint Berlin wohl mehrere Ausgaben von Alex zu besitzen.
„ANNA!“, schreit es ihr leicht quietschend aus der Menschenmasse entgegen. Plötzlich steht vor ihr ein voll tätowiertes, schwarzhaariges Mädel mit Sidecut. Eine Verwechslung, denkt sich Anna. Anscheinend gibt es hier wohl auch mehrere Annas mit Ponyfrisur in Berlin. Mit mehr Kraft, als sie von dem schlanken Mädchen erwartet hätte, presst dieses Anna fest an sich. „Schön, dass du endlich da bist.“ Während sie leicht hin und her geschaukelt wird, wird die Luft langsam knapp. Mittlerweile wird Annas Gehirn wieder mit Strom versorgt und sie realisiert, dass es sich bei diesem Gesamtkunstwerk um ihre ehemalige „schüchterne graue Maus“-Freundin Alex handeln muss. Herzlich drückt nun auch Anna zurück und freut sich riesig, ihre Freundin wiederzusehen. Von außen müssen die beiden aussehen wie zwei zu schlank geratene Sumoringer, die sich gegenseitig aus dem Ring heben wollen. Doch das ist ganz egal – diese Umarmung hat Anna dringend gebraucht. Hinter dem neuen Look spürt Anna immer noch dieselbe Wärme wie früher.
„Wow, du hast dich ja total verändert. Ich hät te di ch bei nahe nicht wie dere rkannt“ , strahlt Anna Alex entgegen. „Ja, und schau dich erst mal an, du…. Hast du mehr Sommersprossen bekommen?“, beendet Alex schlagfertig den Satz. Woraufhin beide anfangen, herzlich zu lachen und sich erneut zu drücken.
Auf direktem Wege führt Alex Anna durch den Wust von Menschen zum Hauptausgang des Bahnhofs, um sich hier ein Taxi zu schnappen. Ehe Anna sich versieht, sitzen beide auf der Rückbank eines alten Mercedes, der sie wie zwei Prominente durch die Straßen Berlins kutschiert.
„Wie war deine Fahrt? Du warst ja jetzt bestimmt sechs Stunden unterwegs“, fragt Alex und stellt überrascht fest, dass es bereits achtzehn Uhr ist. „In Untermoscheln sind jetzt bestimmt schon alle Bordsteine hochgeklappt. Was gibt es denn so Neues aus der Heimat? Mensch, ich hab dir so viel zu erzählen“, rattert Alex einem Maschinengewehr gleich und ohne Luft zu holen los.
Anna hingegen hat sich bereits gedanklich ausgeklinkt und schaut mit herunterhängender Kinnlade aus dem Fenster. So etwas hat sie noch nie gesehen. Zumindest nicht im wahren Leben. Überall Autos, Menschen und Geschäfte. Ist da gerade ein erwachsener Mann in einem Damenrock vorbeispaziert? Mit voller Wucht prasseln Eindrücke, Geräusche und Bilder Berlins auf Anna ein. Mensch, ist das aufregend!
Verwundert stellt Anna fest, dass die Gegend mit der Zeit immer schöner wird. Moderne breite Bordsteine, schöne alte herrschaftliche Häuser zwischen gepflegten Grünanlagen. Doch bevor sie noch tiefer in die Stadt eintauchen kann, kommt das Taxi abrupt zum Stehen. „Ist schon etwas anderes als daheim, nicht wahr?“ Ihre Gedanken erahnend lächelt Alex Anna liebevoll an, während sie dem Taxifahrer einen zerknitterten Zwanzig-Euro-Schein reicht. Mittlerweile hat sie ihren Redefluss eingestellt, als sie sich kurzzeitig in Annas Lage versetzt. Ihr ging es damals ähnlich, als sie aus der Kleinstadt in die Metropole gezogen ist.
„Hier wohne ich“, sagt Alex stolz. Staunend blickt Anna auf die mit Marmor verzierten Eingangsstufen, die zu einem modernen Mehrfamilienhaus führen. Der Eingang ist gefühlt so breit wie das Haus, in dem sie mit Nils wohnt. Moment! Nein, gewohnt hat. Sanft schiebt Alex Annas Kinnlade nach oben und lächelt sie herzlich an. „Komm, du musst doch einen Bärenhunger haben.“
Alex zieht den Schlüssel aus ihrer Handtasche und führt ihn zum Schloss. Als Anna die Gunst der Stunde nutzt, um sich das Türschild genauer anzuschauen, fällt ihr auf, dass neben Alex‘ Namen ein weiterer auf dem Klingelschild steht. „Ach, du wohnst hier nicht alleine?“ Alex schaut verdutzt. „Natürlich nicht. Die Wohnung könnte ich mir nie im Leben alleine leisten.“ „Oh“, entgegnet Anna.
„Keine Sorge. Tom ist da entspannt. Ich habe ihn zwar noch nicht gefragt, aber das geht klar.“ Diese Aussage verunsichert Anna jetzt schon. Nicht nur, dass sie nicht weiß, ob dieser Tom damit einverstanden ist, auch der Gedanke, mit einem fremden Mann zusammenzuwohnen, lässt sie nicht gerade vor Freude jubeln. Aber nun ist es auch egal. Es lässt sich eh nicht mehr ändern.
Alex und Anna steigen die sechs Marmorstufen im Treppenhaus hinauf, um vor einer modernen Sicherheitstür stehenzubleiben. Mit einem gezielten Dreh nach rechts öffnet sich die Tür wie von Geisterhand. Anna folgt Alex in die riesige Wohnung. „Schön hast du es hier“, sagt Anna und schaut sich neugierig um.
„Guck dir ruhig alles an. Tom kommt eh erst heute Nacht wieder.“
Anna schlüpft aus ihren roten Turnschuhen und tapst auf dem warmen Echtholzparkett in das anliegende Zimmer. Die Möbel sind alle ziemlich modern und sehen deutlich teurer aus als die Standard-Ikea-Ausstattung, die sie von zu Hause kennt. Die Decken sind so hoch, dass Anna sich fragt, wie oft sie sich selbst stapeln müsste, um sie berühren zu können.
„Willst du was trinken?“, unterbricht Alex Annas Rechnung. „Ja, aber wenn ich das hier sehe, will ich nur Champagner“, witzelt Anna und lacht. „Aber ich trinke ja keinen Alkohol, wie du weißt. Ein Wasser wäre toll.“ „Ist schon unterwegs“, ruft Alex, und mit einem lauten „Tadaaa!“ betritt sie den Raum. In der Hand balanciert sie ein silbernes Tablett mit zwei funkelnden Champagnergläsern und einer Flasche Mineralwasser. „Du bist die Beste!“, freut sich Anna und ihr wird es ganz warm ums Herz. Nun wird Anna doch neugierig. „Sag mal, wie kannst du dir das alles eigentlich leisten?“ „Och du, ich gehe seit zwei Jahren anschaffen. Davon lebt man echt gut“, erwidert Alex trocken.
„Was?!“ Annas Gesicht versteinert sich. Eine kurze Pause und Alex fängt lauthals an zu lachen. „Mensch, das war ein Scherz, Pünktchen. Du glaubst auch immer noch jeden Scheiß.“ Pünktchen. So hat sie seit Jahren keiner mehr genannt. Erleichtert und wieder mit einer gesunden Gesichtsfarbe versehen, fängt nun auch Anna tierisch an zu lachen. Was ihren Humor angeht, hat Alex sich anscheinend nicht verändert.
„Ich habe mich vor zwei Jahren selbstständig gemacht und arbeite als Grafikerin. Es läuft halt echt gut im Moment. Deswegen bin ich auch zwei Monate in London, um mich da weiterzubilden und den nächsten Schritt zu machen.“
Anna kehrt für einen kurzen Moment in sich und schaut sich noch einmal um. „Toll, was du dir alles aufgebaut hast. Ich beneide dich wirklich.“
„Ach komm“, entgegnet Alex ganz bescheiden. „Ich bin sicher, du wirst auch noch dein wahres Glück finden. Aber genug erstmal von mir. Erzähl du mir mal lieber ganz genau, was passiert ist…“ Beide setzen sich ins dreißig Quadratmeter große, mit weißen Fliesen ausgestattete Wohnzimmer und machen es sich auf der grauen Polstercouch gemütlich.
Anna zögert einen kurzen Moment, stellt ihr Glas auf den schwarzen Wohnzimmertisch und überlegt, wo sie am besten anfangen soll. Die nächsten dreißig Minuten berichtet sie von den Ereignissen des heutigen Tages. Alex sagt kein Wort. Als hätte man ihr die Fähigkeit zu sprechen genommen, konzentriert sie sich nur auf Annas Lippen und lässt das Erlebte auf sich wirken. „Na ja, und den Rest kennst du ja“, beendet Anna sichtbar mitgenommen ihre Geschichte.
„Ganz ehrlich, es ist das Beste was dir je passieren konnte“, unterbricht Alex plötzliche ihre eigene Stille.
Anna schaut skeptisch. Wie hat Alex das denn jetzt gemeint?
„Schau mal, du bist jung, du bist hübsch und du bist jetzt frei. Sieh es als eine Chance, einen Neustart zu machen. Wir sollten hier nicht sitzen und Trübsal blasen, sondern dich heute Abend feiern gehen. Und ich weiß auch schon ganz genau wo“, fährt Alex aus tiefster Überzeugung fort. Sie legt nun ein unglaubliches Tempo vor.
Annas Mund öffnet sich, jedoch bringt sie kein Wort heraus. Also, dass sie jung ist, würde sie ja sofort unterschreiben. Aber hübsch? So hat sie noch nie jemand bezeichnet. Nicht einmal Nils, fällt ihr gerade auf. Und mit dem war sie schließlich einige Jahre zusammen. Ob in Berlin Ponyfrisuren und Sommersprossen gerade „in“ sind?
„Komm, ich bin doch nur noch bis morgen Nacht da. Wir sollten zumindest einmal richtig die Sau raus lassen!“, lässt Alex nicht locker. Noch gedanklich bei ihrer Ponyfrisur, weiß Anna nicht so recht, was sie von der Idee halten soll. Sie fühlt sich ein wenig überrumpelt. Doch bevor ihr das Wort „Nein“ über die Lippen kommen kann, zieht Alex sie in ihr Schlafzimmer vor ihren riesigen, braunen Altholz-Kleiderschrank. Alex macht wohl wirklich keine Scherze. Innerhalb von fünf Minuten steht Anna mit gefühlt hundert Kleidern auf beiden Armen gestapelt wie ein Packesel mitten in Alex‘ Zimmer.
„Los, probier alles an. Ich laufe eben noch kurz zum Supermarkt und besorge was zu trinken, und wenn du dann fertig bist, können auch wir direkt los“, ruft Alex bereits mit einem halben Bein aus der Wohnungstür.
„Und was ist mit dir?“, will der perplexe Packesel wissen.
„Ich brauche nur ein paar Minuten, um mich fertig zu machen. Ich weiß ja, was ich anziehen will. So, aber jetzt leg mal los, damit wir starten können, wenn ich wieder da bin.“ Wie ein Cowboy verschwindet Alex im Sonnenuntergang.
Anna hebt ihren Kopf, und schaut völlig ungläubig in den Spiegel des Kleiderschranks. Sie bewegt sich keinen Millimeter. Eigentlich ist ihr überhaupt nicht nach Feiern zumute. Die Minuten vergehen und Anna ringt mit ihren Gedanken. Wie das wohl sein wird, so ein Club in Berlin?
Bisher kennt sie ja nur das “Roxy“ bei sich in Untermoscheln. Und als Club kann man das Ganze nicht wirklich bezeichnen. Wenn, dann nur als den Club der verlorenen Seelen - die Menschen, die sich dort regelmäßig blicken lassen, zählen nicht gerade zu denen, die eine große Zukunft vor sich haben.
Anna selbst ist nur einmal da gewesen. Gut kann sie sich noch daran erinnern, wie sie sich zum Deppen gemacht hat, als sie vor lauter Rauch in die falsche Toilette gegangen ist. Als sie sich damals in ihrer Kabine eingeschlossen hat, brauchte sie aber ein paar Minuten, um zu realisieren, dass da irgendetwas schief gelaufen ist. Seit diesem Erlebnis schaut sie immer zweimal nach, bevor sie eine öffentliche Toilette betritt.
Aber was ist das? Anna hört einen Schlüssel aus der Diele, der wohl in die Haustür eingeführt wird. Ist das etwa dieser Tom? Doch nein. Mit einem „Bin wieder da!“ betritt Alex ihre Wohnung, um nach drei Schritten Richtung Schlafzimmer festzustellen, dass sie entweder in ein Paralleluniversum eingetreten ist, in dem die Zeit stillsteht, oder Anna sich in den vergangenen zwanzig Minuten keinen Millimeter bewegt hat.
Als beide eine Stunde später nun endlich bereit sind, umgezogen die Wohnung zu verlassen, ist es nun schon zweiundzwanzig Uhr. „Zum Downtown Club sind es nur zehn Minuten zu Fuß. Da brauchen wir kein Taxi“, plaudert Alex wild auf Anna ein.
Nachdem es tagsüber ziemlich heiß war, kühlt es jetzt so langsam ab. Ein frischer Sommerwind bläst Anna ins Gesicht und sie schließt kurz ihre Augen. „Komm schon, Pünktchen, nicht einschlafen“, zerrt Alex Anna weiter die Straße entlang. Es ist Freitagabend und allein auf den ersten hundert Metern kommen ihr mehr Menschen entgegen, als sie üblicherweise in Untermoscheln an einem ganzen Tag begegnet.
Sie zupft an ihrem beziehungsweise Alex‘ Rock, der ständig nach oben rutschen will. Für ihre Begriffe ist dieser Rock eh viel zu kurz. Das weiße Oberteil, auf welches sie sich mit Alex einigen konnte, lässt nicht viel Spielraum für die Fantasie. Dabei ist es noch das harmloseste Oberteil gewesen. So richtig wohl fühlt sie sich in ihren Leihklamotten nicht.
Einzig bei den Schuhen konnte Anna ihren Willen durchsetzen. Lächelnd schaut Anna auf ihre roten Chucks und freut sich, wenigstens eine Konstante im Leben behalten zu haben.
Die roten Highheels waren ihr nicht geheuer. Allein die Vorstellung, diese heute Abend zu tragen, verursacht bei Anna schon einen gedanklichen Bänderriss.
Memo an Anna, denkt sie sich: Morgen wird erst einmal geshoppt. Auf Dauer will sie so nämlich nicht herumlaufen müssen. Wenigstens kennt sie hier keiner, geht es Anna durch den Kopf, während die beiden in ein noch belebteres Viertel eintauchen. Bars mit Neonreklame, schicke Restaurants und weniger schicke Kioske reihen sich aneinander. Überall stehen gut gelaunte Leute, die sich anscheinend auf ihr Wochenende freuen.
Bei näherer Betrachtung fällt Anna auf, dass sie mit ihren Klamotten gar nicht so heraussticht, wie sie anfangs vermutet hat. Nur ihre Ponyfrisur kann sie bisher nirgendwo entdecken. Wenn sie ehrlich ist, kann sie sich Erikas Friseursalon in dieser hippen Gegend auch nicht vorstellen. Apropos Erika: Den Rabat t für den z ehnten Bes uch auf ihrer Kundenkarte wird sie jetzt wohl nicht mehr einlösen können.
„Siehst du da drüben die lange Schlange? Da ist der Downtown Club.“ Alex klingt nun noch aufgedrehter. Anna fragt sich, ob das an der Vorfreude oder der halben Flasche Sekt liegt, die sie sich während der privaten Modenschau gegönnt hat.
Während die beiden Freundinnen vor dem Club warten und ihnen die laute Musik entgegen dröhnt, steigt Annas Aufregung stetig. Nach einigen Minuten steht das Gespann auf einmal vor einem zwei Meter großen Muskelschrank, der sie von oben bis unten kühl mustert. Für die Fertigstellung seiner Frisur ist wohl die ganze Packung Gel drauf gegangen, denkt Anna und fängt an zu schmunzeln. Abgerundet wird sein Outfit von einem weißen Muskelshirt und einer engen Lederhose.
Als er Alex erkennt, löst sich seine versteinerte Miene. „Hey, Zuckerbienchen, lange nicht mehr gesehen. Habe gar nicht mitbekommen, wann du gestern abgedampft bist.“
„Kennst mich doch. Immer unterm Radar“, sagt Alex und zwinkert dem Muskelberg schelmisch zu.
Gestern war Donnerstag, denkt sich Anna und schaut ungläubig zu Alex hinüber. „Wer ist denn deine hübsche Freundin?“, wendet sich der Türsteher nun Anna zu, die sich daraufhin interessiert umschaut, wen er wohl meinen könnte. Oh, wie peinlich – anscheinend hat er wohl sie gemeint.
„Das ist meine alte Schulfreundin Anna. Sie ist heute in Berlin angekommen.“ Alex drückt Anna fest an sich.
„Tja, Zuckerbiene, wenn du noch einen Platz zum „Schlafen“ brauchst, in Broncos Armen ist immer Platz für eine süße Maus wie dich.“ Und erneut mustert er Anna von oben bis unten, aber nun eher wie ein Raubtier, das sich sein nächstes Mittagessen ansieht.
Anna wird plötzlich ganz anders. Sie weiß nicht, was sie gerade mehr anwidert: die Gänsefüßchen, die Bronco mit seinen Riesenpranken bei dem Wort „Schlafen“ gemacht hat oder der Blick, den er ihr danach zugeworfen hat. Mal ganz abgesehen davon, dass er anscheinend alle Frauen hier als Zuckerbienen betitelt.
„Bronco, du bist unmöglich“, gibt Alex diesem darauf kopfschüttelnd zurück und zerrt Anna an ihm vorbei Richtung Eingang. Schweigend gehen die beiden eine enge Treppe hinunter und erreichen den Hauptsaal. Vor ihnen tummeln sich jede Menge cooler Leute, die losgelöst zur Musik tanzen. „So, jetzt sind wir in Sicherheit. Sorry dafür. Der Typ ist echt unmöglich“, entschuldigt sich Alex energisch. Anna, noch sichtlich verwirrt von der Begegnung der dritten Art, winkt lächelnd ab. „Idioten gibt es doch überall.“ Auch wenn sie solch ein Exemplar in freier Wildbahn noch nicht gesehen hat.
„Auf den Schock trinken wir erst einmal einen“, schlägt Alex vor und zieht Anna hinter sich her zu einer Bar auf der anderen Seite. Hinter der Bar steht ein Regal mit diversen Flaschen in den buntesten Farben. Darunter hantieren drei gut gelaunte Barkeeper, die mit den Gästen plaudern und Behälter aus Aluminium schütteln. Alex steuert den mittleren der drei an und winkt diesem zu. Den scheint sie wohl auch zu kennen, denkt sich Anna. Schnell zupft sie Alex am Arm, bevor sie eine Bestellung abgeben kann: „Für mich nur eine Cola, bitte.“
„Ja ja, ich weiß“, entgegnet Alex beruhigend. Kurze Zeit später steht Anna mit einer Cola an der Bar und Alex mit einem grünlichen Getränk mit Strohhalm, in dem aber kaum Alkohol sei, wie sie Anna zweimal beteuert. Nun machen sie sich auf den Weg zur Tanzfläche. Mittlerweile wird Anna lockerer. Das Tanzen tut ihr richtig gut. Einfach mal abschalten. Alex ist schon eine Wucht, stellt Anna fest und ist froh, nach Berlin gekommen zu sein. Die Zeit vergeht wie im Flug.
Diverse Songs, Colas und grüne Getränke mit Strohhalm später verschwindet Alex angeheitert Richtung Toilette. Zehn Minuten. Fünfzehn Minuten. Keine Alex in Sicht. Ob sie unterwegs verloren gegangen ist?, fragt sich Anna besorgt. Gerade als sich Anna aufmachen möchte, um nachzusehen, was auf zehn Metern Weg passiert sein kann, erscheint Alex wieder auf der Tanzfläche. Doch nicht allein! An ihrer Seite klebt ein 1,70 Meter großer, hagerer junger Fast-Mann, der wie ein vielversprechender „Jugend Forscht“-Teilnehmer wirkt. Seine Hornbrille ist leicht verrutscht und das, was in seinem Gesicht an Flaum vorhanden ist, soll wohl mal ein Bart werden. Gekrönt wird das Gesamtkunstwerk durch zu hoch gezogene Hosenträger. Kurz gefasst: Steve Urkel hat wohl doch einen verlorenen Zwilling.
„Hallo, ich bin Cornelius“, stellt sich der Fast-Mann leicht verlegen vor und streckt Anna die Hand entgegen. Einen viel zu laschen Händedruck später zieht Alex Anna kurz zur Seite und flüstert ihr ins Ohr: „Der Wahnsinn, der Typ – ist der nicht heiß?“
Alex strahlt Anna erwartungsvoll an. Doch diese blickt Alex nur verdutzt und vollkommen perplex ins Gesicht. In diesen grünen Cocktails muss wohl doch etwas mehr Alkohol gewesen sein als angekündigt, denkt Anna kritisch. „Bist du sicher, dass alles bei dir in Ordnung ist?“, fragt sie sorgenvoll.
„Ehrlich gesagt nicht. Cornelius hat eine Eins-A-Briefmarkensammlung, die ich mir heute Nacht unbedingt anschauen muss. Und du weißt ja, wie sehr ich auf Briefmarken stehe.“ Nun ist Anna komplett verwirrt. Gedanklich versucht sie sich zurückzuerinnern, wann Alex jemals etwas von einer Leidenschaft für seltene gezackte Papierschnitzel erzählt hat. Oh! Jetzt hat sie es auch gerafft. Briefmarken…
„Oh ja, verstehe“, gibt Anna zurück und schaut ungläubig zu Cornelius hinüber. Zu Annas Verwunderung hat dieser denselben Gesichtsausdruck. Beide scheinen nicht glauben zu können, was gerade passiert. „Kann ich dich hier wirklich alleine lassen?“ Alex blickt Anna mit großen Rehaugen an und hält ihr die Schlüssel unter die Nase. „Ich komme schon zurecht. Ich trinke noch eine Cola und mache mich dann auch langsam auf den Heimweg.“ Nach einer innigen Umarmung reicht sie auch Cornelius die Hand. Dieser scheint im Laufe des Gesprächs noch etwas blasser geworden zu sein. Wahrscheinlich realisiert er gerade, dass das Ganze doch kein Aprilscherz ist. Burschikos führt Alex ihren Hauptgewinn wie einen gewaltigen Teddy von einer Losbude im Arm Richtung Ausgang.
Wie spät ist es eigentlich? Anna kramt ihr Handy aus der Handtasche, um nach der Uhrzeit zu sehen. Entsetzt starrt sie auf das Display. Zwanzig Anrufe in Abwesenheit. Alle vom selben Anrufer. Nils. Genervt legt sie das Handy zurück in ihre Tasche, ohne auf die Uhr gesehen zu haben.
Scheiße, Anna! Jetzt stehst du hier allein in einer fremden Stadt in einem überfüllten Nachtclub, ohne Mann und ohne Job. Läuft auf jeden Fall bei dir, denkt sich Anna nicht ohne eine Spur von Galgenhumor. Jetzt bloß nicht wieder herunterziehen lassen, ermahnt sie sich, während sie sich durch die Menschenmenge Richtung Bar begibt.
Dort angekommen, fällt ihr eine große, mit grüner Neonkreide beschriebene Schiefertafel ins Auge: „Das unschuldige Einhorn. 2 zum Preis von 1.“ Ach komm, Anna, zur „Feier des Tages“ kannst du dir einen alkoholfreien Cocktail gönnen, sagt sie sich und winkt dem Barkeeper schüchtern zu. Kurze Zeit später stehen zwei übergroße Cocktailgläser mit Früchten am Rand und Schirmchen in der Mitte vor ihr. Na dann Prost, denkt sie sich. Noch durstig vom Tanzen kippt Anna den ersten Cocktail wie ein Glas Wasser nach dem Sport auf Ex herunter. Lecker! Hätte sie gewusst, dass alkoholfreie Cocktails so gut schmecken, hätte sie schon öfter welche getrunken.
Um sicherzugehen, dass der zweite Cocktail nicht „kalt“ wird, wendet sich Anna daraufhin diesem zu. Geschafft, stellt Anna zufrieden fest und reißt triumphierend die Arme hoch. Hoppla. Vom Schwung ihrer eigenen Arme mitgerissen, hat sie fast das Gleichgewicht verloren. Kurz verwirrt hält sie sich an der Kante der Theke fest und fängt an zu kichern. Eigentlich wollte sie ja jetzt nach Hause, aber das unschuldige Einhorn hat es ihr wirklich angetan.
„Noch ein unschuldiges Nashorn, bitte“, ruft sie dem Barkeeper zu. Dieser blickt zunächst verdutzt, realisiert aber schnell, was Anna gemeint hat, und nach wenigen Minuten stehen zwei weitere Cocktails vor ihrer Nase. Überzeugt, auch diese genauso schnell wie die ersten beiden erledigen zu können, schwingt sie sich auf einen silbernen Barhocker. Anna schaut euphorisch auf die Theke vor sich. Hat er ihr versehentlich vier Cocktails serviert? Ach nee, sind doch nur zwei. Anna kichert erneut, um dann, diesmal den Strohhalm ignorierend, komplett mit der Nase im Glas zu verschwinden.
Während ihr diverse Cocktailfrüchte im Gesicht kleben, beginnt Anna den heutigen Tag zu rekapitulieren. Eine Szene geht ihr immer wieder durch den Kopf. Hat sie sich wirklich dafür entschuldigt, dass sie ihren Freund beim Fremdgehen erwischt hat? Andere hätten ihn zur Rede gestellt, eine Szene gemacht und diversem Porzellan ein Ende bereitet. Und was macht sie? Sie entschuldigt sich! Beim nächsten Mal kann sie den beiden ja im Dienstmädchenoutfit noch Frühstück ans Bett bringen. „Haben die Herrschaften wohl genächtigt?“, spricht Anna den Satz mit verzogener Miene in bester Imitation eines englischen Butlers vor sich hin.
So langsam kommt sie richtig in Fahrt. Starr blickt sie geradeaus ins Nichts, während sich ihre Hände zu Fäusten ballen. Wenn Blicke töten könnten! Wie versteinert sitzt Anna auf ihrem Hocker, während ihre rechte Hand in Zeitlupe Richtung Gesicht fährt, um dort mit einer zurückgebliebenen Ananas abzurechnen.
Wütend beißt sie in die Cocktailfrucht. Erst einmal an die frische Luft! Anna hüpft etwas übermütig vom Barhocker. Torkelnd verliert sie das Gleichgewicht und stürzt in zwei helfende Arme. Noch im Rettungsgriff verharrend, starrt Anna an die alte Stuckdecke des Clubs. Nicht nur die glitzernde Discokugel, sondern der ganze Laden scheint sich zu drehen. Langsam und vorsichtig wird sie von den helfenden Armen aufgerichtet und an beiden Schultern fixiert.
„Hoppla, meine Liebe. Aber ist ja nichts passiert“, tönt eine charmante Stimme in ihrem Rücken. Nachdem Anna sich gefangen hat, dreht sie sich langsam um. Die Stimme und die helfenden Arme gehören zu einem dunkelhaarigen, sportlichen Typen in einer braunen Lederjacke. Dieser lächelt sie freundlich durch einen Dreitagebart an und deutet auf ein zerbrochenes Glas am Boden. „Da hole ich mir wohl eine neue Cola. Pass beim nächsten Mal einfach besser auf“, zwinkerte er Anna zu.
„Wie bitte?!“ Perplex schaut Anna in zwei dunkelbraune Augen.
Das war zu viel. Erst soll es ihre Schuld sein, dass sie im Rennen um ihren Job gegen Jakob verliert. Dann ist es angeblich ihre Schuld, wenn sie daraufhin zu früh nach Hause kommt, um ihren Freund mit der vertrottelten Janine im Bett zu erwischen. Und NUN ist es also auch noch ihre Schuld, wenn dieser Zac-Efron-Verschnitt für Arme sie von hinten anrempelt und dann seine Cola nicht halten kann!
Anna stemmt ihre Hände in die Hüften und nimmt so eine kampfbereite Pose ein. „Ich soll aufpassen? Bei Dir piept’s wohl!“, eröffnet Anna den Kampf und deutet, den Abstand falsch einschätzend, mit dem ausgestreckten Zeigefinder in das Gesicht des „Retters“.
Es fehlt nicht mehr viel und Annas Finger würde Bekanntschaft mit dem Innenleben seiner Nase machen. Gong! Ring frei zur ersten Runde. Sichtlich verwundert, welche Wendung seine Rettungstat genommen hat, entgegnet der Helfer in Lederjacke: „Ich glaube, du hast ein wenig zu viel getrunken, Kleines. Du solltest besser nach Hause gehen.“
Anna läuft rot an. „Ich, betrunken? Du tickst ja nicht sauber. Ich habe noch nie Alllohol getrunken!“ Anna schwankt hierbei leicht von rechts nach links. „Du hast zu viel getrunken. Überhaupt war das deine Schuld. Du bist genauso schuld wie das schuldige Nashorn da.“ Anna deutet auf die inzwischen leere Theke.
Realisierend dass dieses Gespräch keinen Sinn ergibt, verabschiedet sich der Fremde an das andere Ende der Bar. Richtig in Fahrt gekommen, erweitert Anna ihr Feindbild auf die gesamte Männerwelt. „Ihr seid doch alle gleich! Wir Frauen tun alles für euch. Und am Ende betrügt ihr uns mit eurer „platonischen“ Janine, mit schlechtem Vasengeschmack. Wer unter Fünfzig schenkt den bitte einem Freund eine Vase? Wisst ihr denn überhaupt, was platonisch heißt?“
Mittlerweile vor einem kleinen, sichtbar amüsierten Publikum performend, bemerkt Anna die Abwesenheit ihres Kontrahenten nicht. Dieser erscheint nach wenigen Minuten mit einem weiteren unschuldigen Einhorn in der Hand zurück im Ring.
„Hör mal zu, Kleines. Nimm es nicht persönlich, aber ich kann schon verstehen, warum dein Freund dich betrogen hat. Hier noch einen Drink auf mich, Prinzessin Arschloch!“
Sprachlos bleibt Anna mit dem Einhorn in der Hand zurück, während der edle Spender sich lächelnd umdreht und verschwindet. So langsam wenden sich auch die letzten Schaulustigen von der Szene ab und wieder ihrem eigenen Treiben zu.
„Prinzessin Arschloch? Du bist eine Prinzessin Arschloch, du Arschloch“, lallt Anna, während sie den Cocktail ansetzt, um ihn mit einer dramatischen Bewegung herunterzukippen. Als sie fertig ist, liegt die Hälfte der Cocktailfrüchte auf dem Boden. Oh, das war wohl ein Schluck zu viel. Das, was soeben hereingezwungen wurde, möchte nun auf direktem Wege wieder heraus. Panisch stellt sie das leere Glas auf der Theke ab und hastet Richtung Ausgang. Sie rempelt sich durch die Menschenmenge bis zur Eingangstreppe, während sich ihr Mund langsam mit einem Cocktail der anderen Art füllt. Einem Kugelfisch gleich stürzt die pausbäckige Anna durch die Tür und wird ruckartig am Arm gepackt. Es ist Bronco, Annas Lieblingstürsteher. „He, Zuckerbiene. Wir müssen doch noch die heutige Abendgymnastik besprechen.“
Bei diesem Satz bricht es aus Anna heraus: Mindestens ein Liter des unschuldigen Einhorns ergießt sich über Broncos vormals weißes Shirt. Regungslos schaut der Türsteher an sich herab und ist sprachlos. Anna, dagegen sichtlich erleichtert, löst sich aus seinem Griff und wischt sich verbleibende Reste aus dem Gesicht. „Jetzt hast du ein Hawaiihemd, Bronco!“