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IMMER DU – DENN ALLES LEBEN IST BEZIEHUNG

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Die Erkenntnis, dass ich von Anfang an in ein Beziehungsnetz eingebettet bin, bereitet mich auf eine wichtige Einsicht vor: Schon das Wort „Ich“ drückt Beziehung* aus. Es wäre sinnlos, „Ich“ zu sagen, wenn ich dadurch nicht von einem Du unterschieden und zugleich auf dieses Du bezogen wäre. In meiner Umwelt begegnen mir andre, jeder das einzige Ich für sich selbst, jeder ein andres Du für mich. Da draußen begegnet mir unzählige Male ein mir noch unbekanntes kleines Du, in meinem Inneren erlebe ich jedoch darüber hinaus ein einziges, mir von Anfang an bekanntes großes Du – nicht zusätzlich zu all den kleinen Formen des Du, sondern irgendwie sie alle umfassend. Leidenschaft für ein menschliches Du erweist ihre Echtheit und Tiefe dadurch, dass sie zugleich – nicht zusätzlich! – auf das große Du gerichtet ist. Das gilt auch vom leidenschaftlichsten Liebesgedicht des Dichters Rainer Maria Rilke (1875–1926):

Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehn,

wirf mir die Ohren zu: ich kann dich hören,

und ohne Füße kann ich zu dir gehen,

und ohne Mund noch kann ich dich beschwören.

Brich mir die Arme ab, ich fasse dich

mit meinem Herzen wie mit einer Hand,

halt mir das Herz zu, und mein Hirn wird schlagen,

und wirfst du in mein Hirn den Brand,

so werd ich dich auf meinem Blute tragen.

Dass hier wirklich beide Du-Ebenen gemeint sind, beweist die Tatsache, dass Rilke diese Zeilen für Lou Andreas-Salome, die große Liebe seines Lebens, schrieb, sie aber kurz darauf in sein „Stundenbuch“ aufnahm – als Gebet.

Von Anfang an ist es dieses letztgültige Du, welches es mir möglich macht, im vollen Sinne „Ich“ zu sagen. Jede äußere Begegnung mit einem kleinen Du kann mein Verständnis des großen Du vertiefen und bereichern. Jedoch nur in Bezug auf dieses große Du hat es Vollgewicht, wenn ich sage: „Ich bin durch Dich so ich“ – „i am through you so i“. Das Wort stammt vom Dichter e. e. cummings (1894–1963), der darauf bestand, alles, auch seinen Namen, in Kleinbuchstaben zu schreiben.

Kann ich aber sicher sein, dass mein großes Du mehr ist als ein Sammelbegriff für alle meine kleinen Dus, mehr als nur ein verallgemeinertes Du? Steckt da wirklich mehr dahinter? Eine Beobachtung, die mir geholfen hat, das „Mehr“ meines inneren Du zu entdecken, ist folgende: Unser Lebenslauf wird uns nicht als eine unzusammenhängende Abfolge von Episoden bewusst, sondern als eine sich entfaltende Handlung, eine Geschichte, eben unsre Lebensgeschichte. Jede Geschichte will erzählt werden. Je näher ich einem lieben Menschen komme, desto mehr drängt es mich, ihm meine Lebensgeschichte zu erzählen. Aber hier stoße ich auf eine überraschende Tatsache: Ich kann diese Geschichte auch dem liebsten menschlichen Du nie vollkommen mitteilen. So sehr ich es auch versuche, am Ende fühle ich doch schmerzlich: Das Wichtigste scheint nicht ganz rübergekommen zu sein. Nur bei meinem inneren Ur-Du, das an jedem Schritt der Geschichte teilnimmt, während sie sich ereignet, ist das anders. Nur meinem großen Du kann ich meine Lebensgeschichte erzählen und fühlen, dass ich verstanden werde. Zu diesem Du spricht Rilke, wenn er sagt:

Ich geh doch immer auf dich zu

mit meinem ganzen Gehn;

denn wer bin ich und wer bist du,

wenn wir uns nicht verstehn?

Dieses Hingehen auf mein inneres Du ist meine Urbeziehung, auch wenn sie mir erst durch Nachdenken allmählich klarer bewusstwird. Sie schwingt mit, wann immer ich einem Du begegne. Anfangs mag dies kaum mehr sein als eine Ahnung, aber ich kann mir darüber Gedanken machen und einsehen, warum dies so sein muss: Mein Ur-Du ist das Herz des Geheimnisses*, das, wie Robert Frost sagte, in der Mitte sitzt, während wir rätselnd rundum im Kreis tanzen. Somit ist das große Du für uns alle ein und dasselbe. Diese schwerwiegende Einsicht können wir uns so tief zu eigen machen, dass sie unsre Haltung allen Mitmenschen gegenüber bestimmt, sie schwingt aber unterschwellig schon von Anfang an mit.

Nichts könnte wichtiger sein, als die Beziehung zu unsrem inneren Du zu pflegen. Lass nur ruhig die Zyniker behaupten, dein inneres Du sei nichts andres als eine Neuauflage der imaginären Spielkameraden, von denen Kinder oft fantasieren. Du kannst den Unterschied ganz klar erkennen: Das, was deine Fantasie erfindet, tut, was du willst. Das große Du aber, das dir in jedem kleinen Du begegnet, stellt Anforderungen an dich – wortlose, aber beachtliche Anforderungen. Es verlangt Aufrichtigkeit, Ehrfurcht, Treue …

Auf unser inneres Du zu hören ist von entscheidender Bedeutung – nicht nur für unsre eigene innere Klarheit und Festigung, sondern auch für das Wohlergehen der Gemeinschaften, denen wir angehören. Je hellhöriger wir werden für unser innerstes Du, desto inniger werden wir uns andren verbunden fühlen und bereit sein, mit ihnen zu teilen, weil ja unser persönliches Ur-Du zugleich das uns allen gemeinsame Ur-Du ist.

Je inniger wir gegenseitige Zugehörigkeit zu einem andren Menschen erleben – etwa in tiefer Freundschaft oder in einer ausgereiften Liebe –, umso spürbarer scheint dabei unser Gegenüber über sich selbst hinauszuwachsen. Unser geliebtes menschliches Gegenüber verkörpert für uns das große Du, und das wird für uns im Vollsinn des Wortes maßgebend. Es begeistert uns zu einer inneren Größe, die wir uns nie zugetraut hätten. Beide Partner in einer so tiefgreifenden Beziehung können das gegenseitig so erleben, weil sie den andren anblicken und zugleich das große Du sehen.

Freilich gibt ihnen die Liebe dabei ungewöhnlich klare Sicht. Diese lässt sich aber auch durch Übung erlernen. Je mehr wir lernen, im Jetzt* zu leben, umso leichter fällt es uns, im vorübergehenden Du das bleibende Du zu sehen. Wenn wir diese Haltung erlernen, werden wir nicht nur in den uns Nahestehenden, sondern in allen Mitmenschen bewusst dem uns allen gemeinsamen Du begegnen, und das wird – darin liegt das Entscheidende – unsre Haltung allen andren gegenüber prägen. Es wird uns selbstverständlich werden, einfach durch unsre Lebensweise „Ja“ zu sagen zu diesem Zusammengehören im großen Du. Das aber ist gelebte Liebe.

Das Bewusstsein der Gemeinsamkeit ist bei einer Ich-Du-Begegnung meist viel deutlicher als bei einer Ich-Es-Begegnung. Aber unser Dichter begegnet dem großen Du, auf das er immer zugeht, auch in Dingen – und zweifellos auch in Tieren und Pflanzen. Daher sagt er im selben Gedicht, in welchem er vom Auf-Gott-Zugehen spricht:

Ich finde dich in allen diesen Dingen,

denen ich gut und wie ein Bruder bin;

als Samen sonnst du dich in den geringen,

und in den großen gibst du groß dich hin.

Es ist geradezu ein mystischer Blick, der hier den Dichter in allen Dingen das große Du erkennen lässt. Auch ein Mystiker aus der chassidischen Tradition des Judentums, Rabbi Yitzchak Berditchev, schaut alles mit diesem Blick an:

Wo ich auch gehe – Du!

Was ich auch sehe – Du!

Überall nur Du, immerdar Du. Du, Du, Du.

Wenn mir die Sonne scheint – Du!

Wenn alles in mir weint – Du!

Nur Du! Allezeit Du! Du, Du, Du.

Der Himmel nur Du! Die Erde nur Du!

Du oben! Du unten!

Wohin ich mich wende, so Anfang so Ende,

Nur Du, immerfort Du!

Aber verwischen wir hier nicht die Unterscheidung zwischen Menschen und Dingen? Nein. Diese Art, die Welt zu sehen, heilt den klaffenden Schnitt der Trennung zwischen zwei Welten – zwei Welten, die wir unterscheiden können, nicht aber trennen dürfen: Du-Welt und Es-Welt.

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