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DAS ES – IN ALLEM DEN ZAUBER DES DASEINS ENTDECKEN

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Wir können die Welt unter zwei verschiedenen Blickwinkeln betrachten. In der Grammatik spricht man von der Perspektive der Zweiten Person und der Perspektive der Dritten Person. Ich werde sie mit Ferdinand Ebner (1882–1931) und Martin Buber (1878–1965) die Ich-Du-Perspektive und die Ich-Es-Perspektive nennen. Sie zeigen uns zwei verschiedene Ausblicke auf die eine Welt und entsprechen zwei verschiedenen Arten, mit ihr umzugehen. Wir alle kennen die typische Art und Weise, mit der Welt der Dinge unter der Ich-Es-Perspektive umzugehen. Man geht mit einer unpersönlichen Haltung an sie heran – ähnlich wie die Wissenschaft mit ihren Objekten umgeht und wie die Technologie sie für ihre Zwecke nutzt. In dieser Perspektive verstehen wir uns als Subjekte und die Dinge als Objekte, die wir kennenlernen können, indem wir sie in ihre Bestandteile zerlegen. Wir versuchen, Kontrolle über sie zu erlangen, sie zu manipulieren und für uns zweckdienlich zu machen. Wir sind es gewohnt, uns dem größten Teil unsrer Umwelt mit dieser unpersönlichen Haltung zu nähern.

Aber inmitten dieser Umwelt der Gegenstände gibt es die Mitwelt der Begegnungen. Im Gegensatz zur Ich-Es-Welt verlangt diese Ich-Du-Welt von uns einen andren, einen persönlichen Ansatz, einen Ansatz in der Perspektive der Zweiten Person. Hier geht es nicht um ein Handhaben und Nutzen von Gegenständen, sondern um Begegnung mit einem Gegenüber. Die Mitwelt werden wir nie kennenlernen, indem wir sie objektiv beobachten und analysieren, sondern nur, indem wir uns auf persönlicher Ebene mit ihr einlassen. Dies schließt bei allen Beziehungen zwischen Menschen Manipulation und Kontrolle aus und fordert stattdessen Ehrfurcht“ vor der Würde* des Gegenübers in seiner Einzigartigkeit.

Je mehr wir uns der Würde jedes menschlichen Gegenübers bewusstwerden, desto mehr werden wir auch die Würde von Dingen als Gegenüber entdecken. Aber das wird immer seltener. Wir erleben heute eine zweifache Katastrophe. Einerseits haben wir der Ich-Es-Perspektive erlaubt, alle unsre Ich-Du-Beziehungen zu überwuchern. Wozu das führt, werden wir im Abschnitt über „das System“ näher betrachten. Andrerseits haben wir die Ich-Du-Perspektive und die Ich-Es-Perspektive nicht nur unterschieden, sondern gewaltsam getrennt. Die Ganzheit der Welt zerfällt durch diese extreme Spaltung. Überall um uns herum wird dadurch die Natur zum Objekt und wir erdreisten uns, sie beliebig zu manipulieren.

Wer aber je in den Bergen gewandert ist, das Schweigen des Waldes erfahren hat oder auch nur einen Baum im Park als Freund hat, weiß, dass die Natur mehr ist als nur Objekt. Sie steht uns zugleich auch als Subjekt gegenüber. Martin Buber beschreibt dies am Beispiel eines Baumes, den er nicht als Gegenstand, sondern als Gegenüber zu sehen beginnt.

Ich betrachte einen Baum. Ich kann ihn als Bild aufnehmen … Ich kann ihn als Bewegung verspüren … Ich kann ihn einer Gattung einreihen und als Exemplar beobachten … als Ausdruck der Gesetze, nach denen die Stoffe sich mischen und entmischen. Ich kann ihn … zum reinen Zahlenverhältnis verflüchtigen … In all dem bleibt der Baum mein Gegenstand …

Es kann aber auch geschehen, durch Entscheidung und Geschenk zugleich, dass ich, den Baum betrachtend, in die Beziehung zu ihm eingefasst werde, und nun ist er kein Es mehr … Er hat mit mir zu schaffen, wie ich mit ihm – nur anders … Beziehung ist Gegenseitigkeit. So hätte er denn ein Bewusstsein, der Baum, dem unsern ähnlich? Ich erfahre es nicht … Mir begegnet keine Seele des Baums und keine Dryade (ein Baumgeist), sondern er selber.

Was hat sich hier ereignet? Hat der Philosoph Martin Buber einfach sein eigenes Bewusstsein auf diesen Baum projiziert und ihn so personifiziert? Auf die Frage nach dem Bewusstsein des Baumes antwortet Buber bescheiden: „Ich erfahre es nicht.“ Es geht gar nicht darum, was der Baum erfährt oder nicht erfährt: Es geht darum, was wir erfahren. Uns wird das Einbezogenwerden in eine Beziehung bewusst. Beziehung ist Gegenseitigkeit. Bei dieser Gegenseitigkeit spielt aber mehr mit als dieser einzelne Baum, so wie bei der Begegnung mit einem Menschen mehr mitspielt als dieses einzelne Du. So wie mir in dem Du eines andren das Ur-Du begegnet, so in der Gegenseitigkeit mit dem Es eines Baumes das Ur-Es, dem wir schon in dem Satz „Es gibt mich“ begegnet sind – jenes Es, das alles gibt, „was es gibt“. Diese Erfahrung kommt, wie Buber sagt, „durch Entscheidung und Geschenk zugleich“ zustande. Beides ist nötig: dass wir uns entscheiden, willig unser Herz dieser Erfahrung zu öffnen, und dass wir sie als Geschenk empfangen. „Alles ist Gnade“, sagt Augustinus, alles ist Geschenk des Lebens. Und das Leben ist die abenteuerliche Geschichte unsrer Begegnungen mit dem Geheimnis, von dem wir bisher nur von Robert Frost gehört haben, dass es in der Mitte des kosmischen Reigentanzes „sitzt“ und „weiß“. Unsre Beziehung zum großen Geheimnis können wir nicht nur als Beziehung zum Ur-Du erleben, sondern auch zum Ur-Es.

Begegnungen, wie Buber sie mit dem Baum erlebte, können wir nicht selten mit Tieren erleben. Wer jemals einem Hund oder einer Katze tief in die Augen geschaut hat, weiß dies. Manchmal wird uns sogar eine tiefere Beziehung zu Pflanzen bewusst – wie eben Buber zu seinem Baum. Wenn uns eine solche Begegnung geschenkt wird, heilt dadurch eine abgerissene Verbindung. Die Unterscheidung* zwischen der Ich-Du- und der Ich-Es-Welt wird nicht aufgehoben, aber die gewaltsame Trennung* zwischen den beiden Beziehungswelten beginnt zu heilen. In der ungebrochenen Welt, in der wir von da an leben dürfen, überschneiden sich die beiden Perspektiven und gehen allmählich ineinander über. Freilich dürfen wir nicht erwarten, dass wir ununterbrochen eine wache Ich-Du-Haltung zu Tieren, Pflanzen und Dingen beibehalten können. Das gelingt uns ja auch Mitmenschen gegenüber nicht ununterbrochen. Aber wir können immer wieder zur rechten Beziehung zurückfinden und so zur Heilung der klaffenden Wunde beitragen, die wir unsrer Umwelt zugefügt haben, weil wir sie nicht zugleich auch als Mitwelt behandelt haben.

Aber noch ist uns das Dasein verzaubert; an hundert

Stellen ist es noch Ursprung. Ein Spielen von reinen

Kräften, die keiner berührt, der nicht kniet und bewundert.

Worte gehen noch zart am Unsäglichen aus …

und die Musik, immer neu, aus den bebendsten Steinen,

baut im unbrauchbaren Raum ihr vergöttlichtes Haus.

Um den ursprünglichen Zauber des Daseins, von dem Rilke hier spricht, wieder zu erfahren, müssen wir lernen, in unsren Ich-Es-Beziehungen nicht weniger als in unsren Ich-Du-Beziehungen das große Geheimnis zu erahnen und uns ihm „kniend“ – das heißt in Ehrfurcht und Staunen – zu nahen.

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