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Emma, Montag, achtzehnter Juni

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Kriminalhauptkommissarin Emma Stanford stand vor dem geöffneten Fenster ihres Büros in Hameln und genoss die Sommersonne auf ihrem Gesicht. In der Hand hielt sie ihre Kaffeetasse, entworfen von einer dänischen Designerin. Klar und nüchtern, wie sie selbst. Sie dachte an ihren Mann An­dreas, der nach anderthalb Jahren Rehabilitation heute seinen ersten Arbeitstag hatte, und beobachtete entspannt das Treiben der Hamelner Bürger auf der Straße.

Sie war mitten in ihren Gedanken, als jemand die Bürotür aufriss, und Emma fuhr erschrocken herum. Ihr Chef stand mit ernstem Gesicht vor ihr.

»Ach, Alex, du bist’s, was …« Ihr Satz blieb unbeendet.

»Emma, wir haben eine Leiche auf dem Campingplatz Rühle. Ich möchte, dass du das untersuchst.«

Sofort griff Emma nach ihrer Handtasche. »Bin schon unterwegs.«

»Ach, und nimm Daniela mit, ihr arbeitet gut zusammen. Die Kollegen aus Bodenwerder sind schon vor Ort.« Emma grinste. Sie arbeitete nicht nur gut mit Daniela zusammen, sie waren auch privat befreundet.

Eine halbe Stunde später waren Emma und Daniela in Rühle, einem Dorf, das zur Samtgemeinde Bodenwerder gehörte, angekommen. Fast hätten sie den schmalen Weg, der Richtung Weser zum Campingplatz führte, verpasst.

Suchend steuerte Emma ihren Wagen auf den Parkplatz, als sie ein bekanntes Gesicht sah: Kollege Michael Ahlswede winkte ihr einen Gruß zu und kam sofort näher. Emma kurbelte das Fenster herunter.

»Hallo, Michael. Na, läuft bei Euch? Was haben wir?«

»Ja, danke, es läuft bei uns. Im wahrsten Sinne des Wortes: Unser Sohn hat entdeckt, dass man Schranktüren und Schubladen öffnen kann und trägt nun die gefundenen Schätze in der Wohnung herum!« Michael gluckste bei dem Gedanken, wechselte dann aber schnell wieder in den Berufsmodus. »Am besten fährst du hier runter zum Fluss und dann rechts den Radweg weiter. Ist einer der Plätze direkt am Wasser. Dort wird dir Andy mehr sagen können.«

»Was? Ihr lasst ihn …«

»Bitte, Emma, jetzt gib nicht uns die Schuld! Wir können ihn ja nicht anketten. Du kennst ihn. Außerdem ist er durch dich überhaupt erst in diese Situation gekommen. Aber ich will mich nicht streiten. Andy geht es bestens. Fahr einfach hin und sieh selbst.«

Andy, das war der Spitzname ihres Mannes Andreas.

Er war Dienstgruppenleiter auf der Polizeistation Bodenwerder und bei seiner schrittweisen Wiedereingliederung hatte Emma an Schreibtischarbeit gedacht und nicht an einen Tatort!

»Also gut, sag Grüße zu Hause, ja?« Seufzend ließ sie das Fenster wieder hochfahren und suchte sich ihren Weg Richtung Weser.

Auch Daniela schüttelte den Kopf. »Gut, dass wir jetzt übernehmen, was?«

Emma sah ihre Kollegin und Freundin mit einem warmen Blick an. »Wenn ich dich nicht hätte. Manchmal macht mich diese Sorge ganz rasend!«

Daniela legte ihre Hand auf Emmas Arm. »Dafür sind Partner doch da. Wir passen aufeinander auf.«

Emma sah schon von weitem, wo sie hinmusste. Der davor parkende Rettungswagen und das Polizeiauto zeigten unmissverständlich, um welches Wohnmobil es ging.

Mit Hilfe ihrer Dienstausweise begaben sich die Polizistinnen hinter die Absperrung. Daniela ging sofort Richtung Wohnmobil. Es schien relativ neu zu sein. Ziemlich groß und ziemlich gemütlich, befand Emma mit einem schnellen Blick. Eine Notärztin war über eine bewegungslose Person auf einer Fahrtrage gebeugt.

Es schien sich um eine tote Frau zu handeln. Bevor Emma jedoch näherkommen konnte, sah sie Andreas auf sich zukommen.

»Hallo, Liebes. Weisshaupt hat dich geschickt, das ist gut. Ich finde hier nämlich ein paar Dinge merkwürdig …«

»Andy, was zum Teufel fällt dir ein, hier einen möglichen Tatort abzusichern, wo du dich noch schonen musst? Du lagst Wochen im Koma, hast eine Reha hinter dir! Jarevic hat dich fast getötet, nur um bei seiner neugeborenen Tochter bleiben zu können!«

»Ja, ich weiß, und ich hätte ihn gar nicht verhaften dürfen, es war dein Fall, ich habe ihn auf eigene Faust aufgespürt, wollte ihn dir zu Füßen legen und dann lag ich selbst da. Doch jetzt kann und will ich wieder arbeiten, Schatz.«

Emma inspizierte ihren Mann aufgewühlt nach irgendwelchen Anzeichen von Erschöpfung oder Schmerzen. Aber es schien ihm gut zu gehen.

Andreas seufzte. Emmas Fürsorge strengte ihn wohl an. Sie sollte endlich lernen, ihre Fürsorge herunterzuschrauben, hieß das für sie.

Dann sagte er zu ihr: »Der Papierkram ist todlangweilig. Hör mir einfach zu und sag, ob ich richtig liege.«

»Verstanden.«

Sie hauchte ihm halb spöttisch einen Kuss zu. »Also, was haben wir?« Insgeheim war Emma froh, dass es Andreas war, der hier den ersten Angriff, also die ersten Schritte nach dem Eintreffen, durchgeführt hatte. Wenn da tatsächlich etwas faul war, dann hatte Andreas dafür das richtige Gespür.

»Die Tote heißt Carolin Merker, sechsunddreißig Jahre alt, Sonderschullehrerin an der Münchhausenschule, abgeordnet an die Grundschule.«

»Die Münchhausenschule ist die Förderschule im Kälbertal, richtig?«

»Genau, mit dem Förderschwerpunkt Lernen. Die Grundschule ist gleich das angrenzende Gebäude. Sie ist ledig, Single, hat keine Kinder. Die nächsten Verwandten, ihre Eltern, wohnen in Hannover. Die Kollegen vor Ort fahren dort hin.«

»Kommen die Eltern als potentielle Verdächtige in Frage?«

»Soweit ich weiß, nicht. Sie sind erst gestern von einer Urlaubsreise mit Freunden zurückgekehrt.«

»Gut, das überprüfe ich. Sag den Kollegen aber, dass ich die Eltern noch befragen will.«

»Geht klar.«

»Wer hat sie gefunden?«

»Das war ihre Kollegin dort drüben, Petra Lages.« Er deutete auf eine Mittvierzigerin mit flottem Kurzhaarschnitt. »Sie hat nach ihr gesucht, als sie heute Morgen nicht zur Arbeit erschienen ist. Frau Merker besitzt noch eine Eigentumswohnung in Bodenwerder, dort hat sie zuerst nachgesehen und sich dann erst an diesen Platz hier erinnert.«

»Haben wir die Daten?«

»Ja, hier sind Personalausweis und Handy. Wir haben auch Schlüssel gefunden, vermutlich gehören die zu ihrer Wohnung und zur Schule.« Er drückte Emma durchsichtige Tüten in die Hand. »Die Kollegin hat gefragt, ob es Selbstmord war. Aber drinnen weist nichts darauf hin. Das ist merkwürdig. Doch bevor ich dir das Wohnmobil zeige, solltest du erst mit der Notärztin reden, Dr. Ekes. Sie kennt, äh, kannte Frau Merker gut, als ihre Hausärztin. Außerdem haben sie gemeinsame Bekannte. Hinzu kommt, dass es anscheinend ihre erste Todesfallbescheinigung ist. Weißt du, normalerweise bin ich ja eher erleichtert, wenn bei jemandem, der eindeutig aufgrund des Alters verstorben ist, auch das Kreuz an der richtigen Stelle gemacht wurde. Normalerweise sagen Ärzte lieber, dass die Todesursache ungeklärt ist, um kein Risiko einzugehen. Aber hier …« Andreas ließ den Satz unvollendet.

Sie gingen zum Rettungswagen. Die Notärztin hatte den ausgefüllten Totenschein in der Hand. Emma erkannte das charakteristische Formular.

Sie stellte sich vor und fragte: »Haben Sie schon etwas zur Todesursache herausgefunden?«

Die Ärztin schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Einwirkungen von außen feststellen können. Mehr als Herzstillstand kann ich im Moment nicht sagen.« Sie nahm sich wieder den Totenschein vor und schüttelte noch einmal den Kopf. »Ich könnte genauso gut das Kreuz bei natürlicher Todesursache machen, das käme aufs Gleiche heraus.«

»Stopp mal!« Emma dachte an Andreas’ Worte. »Sie haben aber Todesursache unbekannt angegeben? Sonst haben wir keine Ermittlungsgrundlage mehr. Ich kümmere mich besser um Unterstützung aus der Rechtsmedizin. Wir müssen sicher sein, dass es kein Suizid war oder Fremdeinwirkung. Das muss sich jemand vor Ort ansehen. Außerdem kannten Sie die Tote, das ist auch für Sie als Betroffene besser. Mit sechsunddreißig Jahren stirbt man doch nicht einfach so.«

Die Ärztin funkelte sie wütend an.

»Herrje, wenn das Kreuz nicht bei unbekannt wäre, wären Sie wohl kaum hier, oder? Wollen Sie mir damit sagen, dass ich meinen Job nicht verstehe? Oder dass ich nicht in der Lage bin, Berufliches und Privates zu trennen? Ein Herzinfarkt oder ein Schlaganfall kann durchaus junge Frauen treffen, insbesondere, wenn sie rauchen und gleichzeitig Verhütungsmittel einnehmen. Nichts anderes ist Frau Merker wahrscheinlich passiert!« Leise fügte sie hinzu: »Das wäre sowieso für alle das Beste.«

»Lassen Sie es uns zusammen mit der Rechtsmedizin herausfinden, ob es tatsächlich so war. Das ist wirklich für alle das Beste. Ich will nicht zu jenen Kommissaren gehören, die ein Tötungsdelikt nicht aufklären, weil es gar nicht als solches erkannt worden ist. Mehr als tausend Tötungsdelikte bleiben jedes Jahr unentdeckt, wegen fehlerhafter Todesbescheinigungen. Deshalb, und auch, weil ich Ihnen weitere Untersuchungen Ihrer Bekannten ersparen möchte, will ich die Rechtsmedizin zur Unterstützung hier haben.«

Dr. Ekes schluckte. »Was soll ich den Verwandten und gemeinsamen Bekannten sagen? Ich kannte sie auch privat. Wie soll ich Ihnen denn einen Suizid beibringen? Oder schlimmer noch: Sie werden denken, dass ich sie verdächtige.«

»Ich kann Ihre Sorgen verstehen. Aber sie helfen nicht, die Wahrheit herauszufinden … nicht wahr?«

Die Ärztin schaute mit zusammengekniffenen Augen von ihren Unterlagen auf. »Wenn Sie mir schon einen Aufpasser zur Seite stellen: Haben Sie denn überhaupt einen Verdacht? Wer sollte sie denn ihrer Meinung nach getötet haben?«

»Genau dafür sind wir da. Um diese Frage zu beantworten. Bei allem Respekt, Sie sind nun mal keine Rechtsmedizinerin.«

Andreas legte Emma beruhigend die Hand auf die Schulter. »Dr. Ekes, wir haben bei Frau Merker keine Medikamente zur Empfängnisverhütung gefunden. Es gab auch keine Anzeichen dafür, dass sie geraucht hat. Es können also durchaus noch andere Ursachen in Betracht kommen, aber dazu brauchen wir die Rechtsmedizin. Dass Sie das in der kurzen Zeit mit Ihren Mitteln nicht zweifelsfrei klären können, das liegt doch auf der Hand.«

Die Ärztin wollte wieder protestieren, doch Emma schnitt ihr das Wort ab. »Hören Sie, ich bin nicht hier, um lediglich den Sack zuzumachen. Ich mache meine Arbeit gründlich und erwarte das auch von anderen. Wenn Sie nicht sicher sind, ob es eine natürliche Todesursache war oder ob die Möglichkeit von Fremdeinwirkung besteht, dann notieren Sie das, was Sie mit Sicherheit sagen können! Dann kann die eigentliche Untersuchung durch die Rechtsmedizin erfolgen. Umso mehr, wenn Sie Frau Merker kannten. Das sind Sie ihr doch schuldig. Auch dann, wenn Sie den Angehörigen und Bekannten Weiteres ersparen möchten.«

Die Augen der Ärztin glitzerten, aber dann schnaubte sie genervt. »Meine Einschätzung ist doch nicht aus der Luft gegriffen, sie basiert auf einer medizinischen Grundlage! Ich habe keine äußerlichen Spuren von Gewalteinwirkung gefunden. Sie hat nicht erbrochen, kein Schaum vor dem Mund, die Haut hat sich nicht auffällig verfärbt, nichts, was auf eine Vergiftung hindeuten könnte. Alles sieht danach aus, als wäre sie einfach eingeschlafen. Vermutlich trat der Tod zwischen Sonntagmittag und Sonntagnacht ein. Ich kann die Leichenflecken noch wegdrücken, das geht bis etwa sechsunddreißig Stunden nach dem Tod. Die Leichenstarre ist komplett, hat sich aber noch nicht begonnen, zu lösen, was etwa vierundzwanzig Stunden nach dem Tod der Fall wäre. Das wollten Sie doch wissen?«

Emma verdrehte die Augen. »Dr. Ekes, ich zweifle nicht daran, dass Sie eine kompetente Ärztin sind. Aber wir brauchen genauere Angaben, was zum Beispiel die Todeszeit betrifft. Und wir müssen zweifelsfrei klären, ob der Wohnwagen auch der Tatort war. Ein Rechtsmediziner hat dafür das richtige Werkzeug. Sollte es sich um einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall handeln, dann kann man das auch noch nach dem Tod nachweisen. Aber eben nur, wenn wir mit Hilfe der Rechtsmedizin eine Todesursachenermittlung durchführen können!«

»Schon gut, ich habe verstanden!« Zähneknirschend legte sie den Totenschein beiseite – Todesursache: unbekannt, wie Emma aufatmend feststellte. Dann stapfte sie zur Fahrertür des Rettungswagens.

Emma rief sofort Geraldine Stein an. Geraldine war nicht nur Staatsanwältin, sondern auch mit Emma befreundet. Wenn sie ihr die merkwürdige Situation schilderte, in der sie Frau Merker aufgefunden hatte, bekäme sie bestimmt Rückendeckung von der Staatsanwaltschaft und eine Rechtsmedizinerin an den Fundort, auch wenn das generell nicht üblich war.

Außerdem musste sie in dem Gespräch dringend klären, welche Informationen an die Presse weitergegeben werden konnten und was als Täterwissen einzustufen war. Wenn es einen Täter gab. Doch Andreas hatte nicht umsonst einen guten Riecher.

Die Reporter standen schon vor der Absperrung und es dauerte bestimmt nicht mehr lange, bis einer sich entschloss, diese Absperrung zu ignorieren, um exklusiv an Informationen zu gelangen.

Emma wandte sich nun dem Wohnmobil zu. Vor dem Eintreten zog sie sich Einmalhandschuhe über. Fahrer- und Beifahrersitz hatte die Besitzerin mit dem Rücken zur Windschutzscheibe gedreht, damit sich mit der Sitzbank dahinter eine gemütliche Sitzecke ergab. Der mit Holz verkleidete Tisch dazwischen strahlte zusammen mit dem grauen Stoff der Sitze eine heimelige Atmosphäre aus.

»Dort auf der Sitzbank hat man sie gefunden«, meinte Andreas, der ihr an die Tür gefolgt war. »Der Erkennungsdienst kommt noch, also vorsichtig.«

Auf dem Ausziehtisch neben der Spüle standen zwei Sektgläser. Sie schienen sauber zu sein.

Sie schaute in die Tür unter der Spüle. Aha, in einer Kiste, zusammen mit dem Altpapier, stand eine leere Sektflasche zwischen dem restlichen Altglas. Emma machte ein paar Fotos und gab die Flasche zu Andreas heraus, der sie gleich für die KTU verstaute.

Im Schlafbereich fiel ihr eine angebrochene Packung Schlaftabletten auf. Hm.

»Habt ihr schon alles durchsucht? Gibt es von den Schlaftabletten hier noch mehr? Etwa leere Packungen im Müll?«

»Nein«, rief Andreas von draußen. »Die Zeugin fragte auch schon, ob sie sich umgebracht habe, aber mit den paar …«

Emma nickte. Da hatte er wohl recht, die Menge reichte für einen Suizid einfach nicht aus.

Sie ließ ihren Blick prüfend über den Schlafbereich wandern und strich über die Bettwäsche. Satin. Frau Merker liebte also ein wenig Luxus. Ein paar Zeitschriften und CDs lagen bei der Tablettenpackung auf der Ablage zwischen den Betten. Sorgfältig blätterte sie die Zeitschriften durch. Vielleicht fand sich ja ein Abschiedsbrief? Fehlanzeige.

»Sag mal, ist euch irgendein Abschiedsbrief oder so aufgefallen?«, rief sie hinaus.

»Nein«, rief es von draußen zurück.

Emma brummte noch einmal »Hm«. Gedankenverloren besah sie sich einen Pokal, der im Küchenbereich am Fenster stand. Neugierig trat Emma näher. Anscheinend hatte Frau Merker an Rollschuhsportwettbewerben teilgenommen, und das mit großem Erfolg. Dann hatte sie doch bestimmt einen Sportarzt?

Als sie wieder aus dem Wohnmobil kletterte, sah Andreas sie erwartungsvoll an. »Und?«

Emma runzelte die Stirn und nickte langsam. »Ich glaube, ich weiß, was du meinst. Es passt nirgendwo zusammen: Wieso sollte eine junge, sportliche Frau ohne Grund einfach so sterben? Wenn es Suizid war, warum finden wir keinen Abschiedsbrief oder leere Blister? Wenn es allerdings ein Tötungsdelikt war …«

» … ergäbe es zumindest teilweise einen Sinn«, vollendete Andreas den Satz. »Allerdings musst du dann zunächst die Todesursache klären. Damit du überhaupt einen Anhaltspunkt hast und dich nicht in Theorien verhedderst.«

Jemand klopfte Emma auf die Schulter. »Hört, hört, welch weise Äußerung von deinem Mann!« Zwinkernd gab Daniela Andreas die Hand. »Hallo, Andreas. Schön, dass du wieder auf dem Damm bist! Ich habe erst mal genug gesehen, Emma, du möchtest bestimmt noch mit der Zeugin sprechen, die Frau Merker aufgefunden hat. Ich sehe mich derweil mal in der Umgebung um, okay? Vielleicht ist ja jemandem was aufgefallen.«

Emma lächelte bestätigend. »Klar, mach das.« Auch Andreas verabschiedete sich, um sich weiter um die Absicherung des Tatorts zu kümmern.

Frau Lages hielt damit inne, hin- und herzulaufen, und drückte ihre Zigarette aus, als sie Emma auf sich zukommen sah. »Sie hat sich umgebracht, nicht? Das ist alles einfach nur fürchterlich«, sagte sie, ohne eine Begrüßung, und blies den Rest des Zigarettenrauchs in die Luft. »Ich dachte gar nicht, dass sie das immer noch so mitnimmt!«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Emma.

»Dabei war doch alles schon geklärt. Und dass sie nach diesem Mist, den sie gebaut hat, abgeordnet wird, da muss sie sich doch nicht beschweren!«

»Wovon reden Sie da?«, fragte Emma noch einmal, diesmal mit mehr Nachdruck. »Ich bin Emma Stanford von der Kriminalpolizei. Bevor ich Sie weiter Sache zur befrage, muss ich Sie darauf hinweisen, dass es Ihnen freisteht, Angaben zu verweigern, durch die Sie sich selbst oder nahestehende Verwandte belasten würden. Wenn Sie sich als Zeuge zur Sache äußern, sind Sie dazu verpflichtet, die Wahrheit zu sagen.«

Jetzt hatte sie Frau Lages registriert. »Also, sie hat damals, vor fünf Jahren, die Klasse in der Schulküche allein gelassen, als Markus auf Rouven losgegangen ist. Ich denke, das konnte sie sich nicht verzeihen. Rouven ist dabei gestorben, es war schrecklich. Aber sie hat nie den Eindruck erweckt, dass sie sich umbringen will.« Sie lächelte unsicher und strich sich eine ihrer kurzen Strähnen aus dem Gesicht. »Aber das wollten Sie nicht wissen, oder?«

Emma bemerkte ein leichtes Zittern, das durch den Körper der Frau ging. »Vielleicht setzen Sie sich erst mal.« Langsam führte sie Frau Lages zum Rettungswagen, wo sie sich auf die Stufen zur Versorgungskabine setzten. »Möchten Sie etwas trinken?«

»Ja, das wäre nett«, sagte Frau Lages. Ein Sanitäter reichte ihr ein Glas Wasser und prüfte auch ihren Blutdruck. Als sie sich wieder gesammelt hatte, berichtete sie: »Carolin, äh, Frau Merker, hätte heute den Förderunterricht halten sollen. Doch die Schüler kamen nach der ersten Stunde zurück in ihre Klassen und sagten, dass Frau Merker nicht gekommen sei. Zuerst dachte ich, dass sie nur geschwänzt hätten, und wollte ihnen schon eine Mahnung aussprechen. Aber als Carolin auch nicht zur Unterrichtsbegleitung von … also, von einer Schülerin mit besonderem Hilfebedarf erschien, dachte ich, dass sie vielleicht krank geworden sei. Doch Julia wusste auch von nichts.«

Emma sah sie fragend an.

»Ach, Entschuldigung, ich meine Julia Arneke, unsere Sekretärin. Ich fand das merkwürdig, dass Carolin einfach nicht zum Unterricht erscheint, also bin ich nach Dienstende zu ihr gefahren. Es hat niemand aufgemacht. Und als ich schon fast zu Hause war, habe ich mich daran erinnert, dass sie mal von einem Stellplatz in Rühle geredet hat. Es war eh schon später als sonst, also dachte ich, was soll’s, auf die paar Minuten kommt es jetzt auch nicht mehr an, ich fahre einfach mal vorbei. Tja, und dann …«

»Woher haben Sie gewusst, dass dies hier Frau Merkers Wohnmobil ist?«

»Ich habe an der Rezeption nachgefragt.«

»Und die Tür des Wohnmobils war offen?«

»Ja, zwar geschlossen, aber nicht zugeschlossen. Ich habe geklopft, und als niemand antwortete, durch die Scheibe gesehen. Ich sah jemanden sitzen, zur Seite gesunken, und dachte, sie schläft. Also habe ich versucht, die Tür zu öffnen. Sie war nicht zugesperrt. Und als ich dann reinging, sah ich sie da, zusammengekauert auf der Sitzbank.«

»Wann haben Sie gemerkt, dass etwas nicht stimmt? Sie gingen ja davon aus, dass Frau Merker schläft.«

»Als ich sie berührt habe. Ich wollte sie aufwecken, sie fühlte sich aber so kalt an.« Frau Lages schüttelte sich. »Entschuldigung, das war alles ein bisschen viel. Könnten wir später weiterreden? Ich möchte gerne nach Hause.«

Emma lächelte mitfühlend. »Natürlich. Sie müssten allerdings später noch einmal nach Hameln kommen, um Ihre Aussage zu unterschreiben. Aber vorerst haben wir keine Fragen mehr. Soll ich jemanden organisieren, der Sie heimfährt?« Besorgt blickte Emma in Frau Lages‘ blasses Gesicht. »Sie sehen nicht aus, als könnten Sie sicher ein Fahrzeug führen, nehmen Sie’s mir nicht übel, wenn ich das so sage.«

Frau Lages grinste schief. »Ach, Sie haben ja recht. Ich merke jetzt erst, was das für ein Schock war. Aber mein Mann ist arbeiten, der kann mich nicht abholen. Ob Sie wohl ein Taxi rufen könnten?«

Emma nickte. »Machen wir. Und während Sie warten, kann ich mir kurz Ihre Personalien notieren.«

Eine Weile später, auf dem Parkplatz des Campingplatzes, sah sie nachdenklich zu, wie das Taxi mit Frau Lages abfuhr.

Dann streifte sie sich vorsichtig Einmalhandschuhe über und holte das Smartphone von Frau Merker hervor.

Ein klein wenig herumprobieren und sie hatte das Telefon entsperrt. Zwei Nachrichten interessierten sie besonders, nachdem sie alles durchgesehen hatte. Beide waren von Freitag.

Eine war von Merker an eine Vera Meyer-Burkhardt, Direktorin der Münchhausenschule, in der sie einen offenen Brief in der lokalen Tageszeitung ankündigte. Sie wolle dort Stellung nehmen zu dem Thema Inklusion und damit einhergehend zu dem Vorfall, der sie in ihre momentane berufliche Situation gebracht hatte, hieß es. Diesen offenen Brief wollte Emma lesen. Es betraf sie nicht nur beruflich, sondern auch privat, denn ihre Tochter Anna ging auf die Grundschule, an der Frau Merker als Sonderschullehrerin arbeitete. Jetzt wohl eher gearbeitet hatte.

Die andere Nachricht war von einer Sabine Klenkemeyer. Sie betonte darin, dass sie die Entscheidung ihrer Tochter bezüglich des Klassenwechsels ihrer Enkel unterstütze. Sie halte ihr Verhalten von damals immer noch für einen schwerwiegenden Fehler. Worum genau ging es denn da? Daniela sollte diese Frau unbedingt ausfindig machen.

Dann sah sie sich die Notizen in ihrer Organisationsapp durch: Merker hatte sich Sonntag einen Vermerk für Montag eingetragen: Sophie wegen H. anrufen.

Kurze Zeit später setzten sich Emma und Daniela gegenseitig auf den neuesten Stand.

»Und, hast du was herausgefunden? Eine Spur, der wir nachgehen können? Hat jemand der Nachbarn was gesehen?«

»Leider nicht«, war Danielas kurze Antwort. »Momentan ist niemand da. Wir brauchen erst von der Rezeption eine Liste, wer am Wochenende die Nachbarstellplätze gemietet hat. Ist denn der Erkennungsdienst gar nicht da?«

Emma schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Ich habe übrigens Geraldine gebeten, uns mit einer Kollegin aus der Rechtsmedizin zu unterstützen.«

»Geraldine Stein, die Staatsanwältin? Ach ja, sie muss die Obduktion anordnen!«

Emma bat einen Kollegen aus dem Team, zu Frau Merkers Wohnung zu fahren und diese zu versiegeln, bis sie Zeit hatte, sie sich anzusehen.

Zeitgleich mit dem Erkennungsdienst kam die Rechtsmedizinerin aus Hannover. Sie hieß Helen Becker und Emma begleitete sie zu der Fahrtrage, auf der Frau Merker lag.

»Sie wollen wissen, ob es sich hier um Suizid oder Fremdeinwirkung handelt?«

Emma nickte. »Sofern Sie das so schnell beurteilen können. Ansonsten wäre noch die Frage wichtig, ob es sich hier um den Tatort oder den Fundort der Leiche handelt.«

Die Ärztin zog sich Gummihandschuhe über. »Dann schauen wir mal.« Sie besah sich gründlich den gesamten Körper, auch die Körperöffnungen. »Tja, ich sehe keine Anzeichen dafür, dass die Leiche nach ihrem Tod noch bewegt wurde. Die anderen Spuren stammen vom Abtransport aus dem Wohnwagen hierher, um sie untersuchen zu können. Daher gehe ich davon aus, dass dies hier auch der Tatort ist.« Sie träufelte Augentropfen in Merkers Augen. »Keine Reaktion mehr. Also länger als zwölf Stunden tot. Dann brauche ich das Reizstromgerät nicht mehr. Die Gesichtsmuskeln reagieren nur bis sechs Stunden nach dem Tod auf Strom. Somit bleibt uns noch eines.« Sie holte ein elektronisches Thermometer hervor. Zunächst maß sie rektal die Temperatur von Merkers Leichnam. Dann sagte sie: »Sie wurde im Wohnwagen aufgefunden? Dann muss ich dort auch die Temperatur messen.«

Emma zeigte ihr den Weg und als die Ärztin nach einer Weile wieder aus dem Wohnwagen kam, sagte sie: »Ich habe jetzt die Temperatur an verschiedenen Stellen und verschiedenen Höhen gemessen. Der Körper beginnt etwa drei Stunden nach seinem Tod abzukühlen, und das mit etwa einem Grad pro Stunde, also können wir von einem Todeszeitpunkt zwischen einundzwanzig Uhr und zweiundzwanzig Uhr dreißig am Sonntag ausgehen. Genauer geht es leider nicht.«

»Oh, das hilft uns schon viel weiter! Und die Todesursache?«

»Das kann ich beim besten Willen erst nach der Obduktion beurteilen. Äußerlich ist nichts erkennbar.«

Emma seufzte. »Ja, das ist es ja. Alles ziemlich merkwürdig.«

»Allerdings«, bestätigte die Ärztin, »wenn es sich nicht um einen Todesfall handeln würde, würde ich Ihnen sagen, dass das für mich eine spannende Sache wird. Wir hören voneinander, Frau Stanford.«

Eine Stunde später saß Emma im Büro ihres Vorgesetzten. Alexander hatte eindeutig schlechte Laune, »not amused« würde es Andy bezeichnen. Innerlich musste Emma bei dem Gedanken daran lächeln, obwohl die Situation gar nicht zum Lachen war.

»Was fällt dir ein, die Notärztin so anzumachen? Emma, ich bin von dir professionelles Verhalten gewöhnt! Sie hat sich bei mir beschwert, dass du ihr einen Aufpasser vor die Nase gesetzt hast, indem du die Rechtsmedizin dazu geholt hast.«

Emma schüttelte verständnislos den Kopf. »Die Frau hat wahrscheinlich noch nie einen Totenschein in der Hand gehabt, Alex. Und sie kannte die Tote auch privat. Sie schien nicht wirklich eine Ahnung zu haben, wenn du mich fragst. Deshalb habe ich eine Rechtsmedizinerin gerufen. Es sind zu viele Ungereimtheiten aufgetaucht und ich werde keinen Mörder davonkommen lassen, weil …«

»Herrje, du kannst aber nicht derart in die Kompetenzen dieser Ärztin grätschen! Das ist aber noch nicht alles. Ich habe auch einen Anruf von Frau Stein erhalten. Das macht keinen guten Eindruck, dass ich von deiner Freundin Frau Staatsanwältin erfahre, dass die Untersuchung vor Ort genehmigt wurde und die Rechtsmedizinerin unterwegs ist. Emma, Obduktionen kosten Steuergelder! Genauso wie die Rechtsmedizinerin, die jetzt eine fette Rechnung stellen wird. Und ich muss erklären, warum wir dieses Geld an einen Fall mit natürlicher Todesursache verschwendet haben, sollte das die Obduktion ergeben. Und dann noch deine Freundschaft mit Frau Stein, Emma!«

»Und was ist mit dem Leitsatz Besser einmal zu viel als einmal zu wenig? Wir sollen doch gerade die schützen, die diese Steuern zahlen. Ohne eine Ermittlungsgrundlage helfen wir nur den Tätern.«

Alexander seufzte und erhob sich aus seinem Stuhl. »Du hast ja damit echt. Aber du weißt, wie unsere Situation ist. Zu wenig Geld, zu wenig Personal - und wenn die Presse etwas von Kungelei wittert, zerreißen sie uns in der Luft. Keine Alleingänge mehr. Haben wir uns verstanden?«

Er sah Emma fest in die Augen. Sie seufzte, stand ebenfalls auf und gab ihrem Chef die Hand. »Verstanden.«

Münchhausenschock

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