Читать книгу Münchhausenschock - Deborah Emrath - Страница 9

Emma, Dienstag,
neunzehnter Juni

Оглавление

Die Eltern von Carolin Merker lebten in einem dieser alten Stadthäuser, die es in Hannover gab. Beide hatten die Nachricht schon erhalten und sahen müde aus. Vermutlich hatten sie wenig geschlafen, dachte Emma.

Sie boten Emma eine Tasse Kaffee an und saßen ihr nun gegenüber, kaum in der Lage, den Kopf zu heben. Die Trauer lastete schwer auf ihnen und durch die hohen Wände wirkten die beiden kleiner, als sie vermutlich waren. »Tja, was für ein Mensch war sie?«, versuchte der Vater, die gestellte Frage zu beantworten. »Ich glaube jedenfalls nicht, dass sie Selbstmord begangen hat. Aber welcher Vater glaubt das schon von seinem Kind?«

»Sie war immer sehr ehrgeizig«, meinte die Mutter. »Hat immer zielstrebig ihre Ziele verfolgt und sich oft gegen andere durchsetzen müssen.«

»Könnte sie sich dadurch Feinde gemacht haben?«, fragte Emma vorsichtig.

Beide schüttelten den Kopf. »Nein, sie war ja immer freundlich zu den Leuten. Sie wollte halt die Beste sein, und das bedeutet nun mal Konkurrenz.«

»Wann haben Sie sie das letzte Mal miteinander gesprochen?«

Die beiden schauten sich an. »Vor unserem Urlaub haben wir telefoniert«, sagte die Mutter schließlich. »Wir haben uns abgemeldet und gefragt, ob bei ihr alles Ordnung sei. Da war sie ganz normal.«

»Hat sie da über den Todesfall vor fünf Jahren in der Schule gesprochen?«

»Warum kommen Sie darauf? Nein, das ist doch schon so lange her und auch vor Gericht jetzt abgeschlossen. Ich finde es immer noch empörend, wie man damals mit ihr umgegangen ist. Die Voraussetzungen waren doch so, dass etwas passieren musste! Und dann hat man ihr die Schuld in die Schuhe geschoben.«

»Inwiefern?«

»Seien Sie mir nicht böse, aber ich bin heute nicht dazu in der Lage, Ihnen das auseinanderzusetzen. Meine Tochter ist tot und außerdem können Sie das alles in den Akten nachlesen - oder mal eine Lehrkraft fragen, wie die Realität aussieht.«

Emma notierte sich etwas auf ihrem Smartphone. Zur Mutter gewandt sagte sie: »Natürlich, das verstehe ich. Nur eines noch, dann müssen wir das Gespräch nicht länger ausdehnen: Hatte sie einen Freund, wollte sie eine Familie gründen?«

»Das war nicht Carolins Sache«, antwortete der Vater. »Nein, sie war Single. Zumindest hat sie uns niemanden vorgestellt.«

»Auch keine feste Freundin?«

»Wo denken Sie hin, nein, Carolin war heterosexuell. Sie hatte mal einen Freund in der Schulzeit, aber das ging irgendwann auseinander.«

»Okay, dann war es das erstmal. Vielen Dank.«

»Wovon gehen Sie denn jetzt aus? Hat jemand sie getötet? Wir können einfach nicht glauben, dass sie sich selbst umgebracht hat.«

»Wir ermitteln in alle Richtungen«, antwortete Emma diplomatisch. Dann verabschiedete sie sich und verließ die Wohnung.

Auf dem Weg zurück nach Bodenwerder bat sie Daniela über die Freisprecheinrichtung ihres Telefons, die Akten zum Fall des getöteten Jungen in der Münchhausenschule zu besorgen. Auch ihr war nicht klar, wie es zu einem solch tragischen Vorfall hatte kommen können. »Ach, und - könntest du zur Wohnung von Frau Merker kommen? Ich will mich mal ein wenig umsehen.«

Die Wohnung von Frau Merker war eine Eigentumswohnung - darauf hatten die Eltern bestanden. Nicht gemietet, sondern gekauft, ihre Tochter wusste mit Geld umzugehen. Sie lag im Neubaugebiet von Bodenwerder. Emma hatte den Verwalter informiert, sich Handschuhe übergezogen und mit Hilfe des Schlüsselbundes, den sie in der Handtasche von Frau Merker gefunden hatte, aufgeschlossen. Die Dachgeschosswohnung hatte einen Kamin. Küchenraum und Essbereich waren durch einen Rundbogen verbunden. Durch die Fenster konnte Emma das Wesertal überblicken. Wunderschön - nur eben ohne Garten, vermutlich hatte sie deshalb den Stellplatz für ihr Wohnmobil direkt an der Weser gemietet. An der Wand im Wohnzimmer war eine Vitrine angebracht, Frau Merker hatte allerlei Pokale darin ausgestellt. Alle drehten sich um den Rollschuhsport. Anscheinend war sie für einen Verein in Aerzen angetreten.

Es klopfte. Daniela. »Hey, Emma, wow, so eine Wohnung hätte ich auch gerne - bitte an der Binnenalster«, meinte sie anerkennend, als sie sich umsah. »Okay, ich nehme mir Küche und Schlafzimmer vor, wenn es recht ist.«

Emma nickte. Und wo sollte sie am besten anfangen? Emma stöberte etwas ziellos in den Schränken und Schubladen im Wohnzimmer, ließ alles auf sich wirken. Hatte sie irgendwo Fotos aufbewahrt, die etwas über ihr Leben verrieten?

»Hier ist etwas«, rief Daniela aus dem Schlafzimmer. »Schau mal, die waren unter dem Bettzeug versteckt. Die gehören ihr doch nicht?« Emma ging zu ihr. Sie hatte ein paar Rollen für Rollschuhe in der Hand. »Die waren hier drin.« Sie hielt ein sorgfältig und liebevoll genähtes Säckchen hoch. Emma begutachtete den Fund: Auf der Vorderseite standen die Initialen H. T., die Buchstaben bestanden aus Spitze, wunderschöne Handarbeit. Das waren bestimmt nicht Carolin Merkers Rollen. Seltsam.

Emma nahm sich nun den PC der Sonderschullehrerin vor. Sie würde ihn zwar noch sicherstellen und der IT-Abteilung übergeben, aber sie musste einen Überblick gewinnen. Wonach hatte sie zuletzt im Internet gesucht? Konnte sie dort Hinweise darauf finden, dass sie aus dem Leben scheiden wollte?

Die letzten Suchanfragen im Browser ließen darauf schließen, dass sie ein Waschbärenproblem hatte, zumindest suchte sie nach Möglichkeiten, einen Waschbären zu fangen. Sie hatte nach Fallen gesucht, sich informiert, was Waschbären gerne fressen. … Das war aber auch alles. Es gab keinerlei Hinweise auf eine Selbsttötungsabsicht.

Seltsam. Der Verwalter hatte am Telefon nichts von einem Waschbären erzählt, als sie ihn fragte, ob es irgendwelche Probleme gegeben habe. Er hatte nur angemerkt, dass er sich gewundert hat, dass sie bei so vielen guten Interessenten den Zuschlag für den Kauf der Wohnung bekommen habe.

Vielleicht bestand das Problem am Wohnwagen? Sie wandte sich mit dem Drehsitz des Schreibtischstuhls um. »Daniela? Hast du mit dem Besitzer des Campingplatzes gesprochen?«

»Ja, als du im Caravan warst. Warum?«

»Hat er da etwas über einen Waschbären auf dem Platz gesagt? Oder andere Probleme bezüglich Frau Merker und ihrem Stellplatz?«

»Nein, sie hat pünktlich gezahlt und alle Vorgaben eingehalten. Wie er es bei allen gerne hätte. Ist dir etwas aufgefallen?«

»Nur etwas, was merkwürdig ist. Merker hat sich über Waschbären informiert, ich frage mich, was der Grund dafür ist.« Achselzuckend drehte sie sich wieder zum PC.

Emma stöberte in einem Ordner »ETW«. Ah! Das war ja merkwürdig. Hier gab es eine Liste mit Baumängeln und einen Brief an eine Maklerin, Sabine Klenkemeyer, in der sie anbot, diese zu beseitigen, wenn sie die Wohnung bekäme. Über den Preis würde man sich sicher einig. Sie nannte darin auch die potentiellen Interessenten, denen sie andernfalls diese Baumängel bekannt machen müsse - schließlich sollten sie nicht ins offene Messer rennen.

Wie großzügig! Frau Merker schien zu wissen, wie sie etwas bekommt, das sie haben möchte.

Sie nahm sich die Liste vor und schaute sich dementsprechend die Wohnung noch einmal genauer an. »Daniela? Kommst du mal? Das hier ist seltsam. Du hast dich doch auch ein wenig mit Häusern beschäftigt. Findest du diese Mängel hier in der Wohnung?« Emma hatte sich zusammen mit Andreas gerade selbst ein Haus gekauft, war also mit der Materie vertraut.

Auch Daniela sah sich stirnrunzelnd um. »Bist du sicher, dass diese Wohnung gemeint ist?« Sie durchsuchte den Ordner im Schrank, in dem Frau Merker Unterlagen zu ihrer Wohnung aufbewahrte und der sorgfältig beschriftet war. »Es gibt auch keine Rechnungen dazu.«

»Also denkst du wie ich.« Die beiden Frauen sahen sich im Zeichen stummen Einverständnisses an. Das konnte doch nicht sein!

»Was für ein gerissener Schachzug«, murmelte Emma halb bewundernd halb abgestoßen. »Bevor die Maklerin die Vorwürfe klären kann, sind die Interessenten schon abgesprungen und ihr Ruf ist ruiniert.«

Im nächsten Ordner auf dem PC war eine Datei, bei deren Inhalt Emma einen lauten Pfiff ausstieß. Säuberlich nacheinander waren hier eine Reihe von Frauennamen aufgelistet und Daten eingetragen, aus der eindeutig hervorging, dass ein gewisser Robert mehrere Liebschaften gleichzeitig unterhielt. Aus einem langen Brief, der in einer separaten Datei abgespeichert war, ging hervor, dass Robert, mit Nachnamen Heüveldop, Merkers Ex-Freund und die Liste für seine neue Flamme gedacht war. »Rache ist süß«, griente sie. Frau Merker war nicht zimperlich, was ihre Interessen anging.

Sie zeigte ihre Entdeckung Daniela. »Es scheint, als habe sich Frau Merker nicht nur Freunde gemacht«, meinte sie, als sich Daniela alles ansah.

In einem der anderen Ordner fand Emma auch den offenen Brief, den Merker angekündigt hatte. Sie warf nur einen kurzen Blick darauf, sie hatte ihn heute Morgen in der Zeitung bereits gelesen. Emma hatte sie während des Frühstücks gleich durchgesehen, da der offene Brief ja in der Nachricht von Merker erwähnt worden war.

»Die eigentlichen Probleme, zu viele Schüler, zu wenig Lehrer und oft marode Räumlichkeiten, sind nicht gelöst. Ich bin der Sündenbock und darf faktisch meinem Beruf nicht mehr nachgehen.«

Es war nicht Merkers Sache, Fehler offen zuzugeben, denn wenn sie den Raum verlassen hatte, hatte sie damit eindeutig die Aufsichtspflicht verletzt. Emma fuhr den PC herunter. Die IT-Ermittler würden sich die sichergestellte Festplatte des PCs gründlich vornehmen. Sie verließen die Wohnung.

Draußen meinte sie zu Daniela: »Dieser Robert, würde mich interessieren, was der heute so macht. Kannst du da was rausfinden?«

»Klar«, nickte Daniela. »Ich fahre am besten gleich zurück. Und die Festplatte gebe ich in der IT-Abteilung ab.«

Münchhausenschock

Подняться наверх