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Ein Engel für Jonathan
ОглавлениеDie Tage wurden kürzer. Jonathan wusste, wie das alles ablaufen würde. Sie hatten Kränze gebastelt und Sterne, sie haben dabei gesungen - und Frau Krug hat ihnen die Weihnachtsgeschichte erzählt. Jonathan kannte sie schon. Es war dieselbe Geschichte wie immer. Nichts hatte sich verändert. Bis auf ein oder zwei neue Gesichter waren es auch die gleichen Kinder und Erzieherinnen, die sich auf Advent vorbereitet hatten. Alles war gleich wie im Vorjahr. Alles? Nicht ganz… Jonathan klebte die Wattehaare auf den Styroporkopf seines Engels und fand, dass er dieses Jahr nicht so gut geglückt war wie in den Vorjahren. Der Kopf saß schief, die Augen waren viel zu groß geraten, der Mund schien ihn ständig anzugrinsen. Auch der lange goldene Umhang saß nicht so wie sonst. Ein rascher Blick in die Runde verriet ihm, dass sein Gefühl ihn nicht getrogen hatte. Die schönsten himmlischen Heerscharen standen aufgereiht vor den Kindern, Engel, die hingebungsvoll zu singen schienen, die zufrieden waren mit ihrer Existenz. Nur Jonathans Engel grinste etwas kläglich aus seinen viel zu großen Augen, die Mundwinkel hochgezogen, als hätte er Angst, sie würden ihm abfallen, wenn er sie locker ließe.
Jonathan legte noch einmal Hand an. Er zog die Wattehaare etwas weiter ins Gesicht, aber weil an seinen Fingern noch Klebstoff war, zerzausten sie zu einer Sturmfrisur. Zu allem Überfluss bemerkte er die leicht abgeknickte Flügelspitze, aber sein Versuch sie in Form zu bringen misslang.
Frau Krug erzählte gerade die Bedeutung des Wortes Advent: „Wisst ihr, das Wort Advent hat auch eine Bedeutung. Es heißt genau übersetzt: Er kommt!“
Jonathan schrak hoch. Obwohl er die Geschichte kannte, obwohl anscheinend alles genauso war wie in den Jahren davor, etwas war anders: Sein Engel!
„Wer kommt?“ fragte er erschrocken.
„Er, der Herr, kommt“, Frau Krug lächelte. „Unser Vater im Himmel kommt zu uns.“ Sie schien sich zu freuen, und Jonathan gönnte ihr die Freude auch, aber als er sich seines missratenen Engels bewusst wurde, brach er in Tränen aus.
„Ich will nicht, dass er kommt, sonst sieht er meinen Engel, und dann mag er mich nicht mehr...“, schluchzte Jonathan. „Er mag mich vielleicht sowieso nicht!“
„Wie kannst du so etwas sagen, Jonathan. Unser Jesus Christus hat seine Kinder lieb, alle gleich. Und er liebt seine Engel, auch wenn sie etwas missraten sind.“
„Mich liebt er nicht, sonst würde er mir mehr Süßigkeiten schenken und mich auch einmal an Weihnachten hier herausholen. Der Daniel darf jedes Weihnachten zu seinem Vater! Der Thomas ist Weihnachten und Ostern fort – und die Friederike und die Anna werden in jeden Ferien abgeholt. Und alle bekommen ganz viel Süßigkeiten und Geschenke. Aber mich liebt er nicht, der Vater, obwohl ich sonst so schöne Engel mache.“
Frau Krug legte die Schere zur Seite und strich Jonathan über das Haar. „Glaubst du wirklich, dass unser Vater seine Liebe verteilt wie Süßigkeiten? Stell dir vor, die vielen armen Kinder, die in Afrika oder Südamerika wohnen, in Asien und im Nahen Osten, die bekommen überhaupt keine Süßigkeiten. Und sie haben auch sonst nichts zu essen. Glaubst du, dass unser Herr alle diese Millionen von Kindern nicht liebt?“
Ratlos starrte Jonathan vor sich hin. Die Tränen fielen auf den Boden, und auch die Nase tropfte: „Vielleicht sind ihre Engel noch hässlicher als meiner“, dachte er. Eine rötliche Strähne von seinem krausen Haarschopf klebte an der Wange. Jonathan war seit seiner Geburt im Kinderheim gewesen, er hatte nie einen Brief oder ein Päckchen bekommen, geschweige denn einen Telefonanruf. Wenn die anderen Kinder von ihrem Urlaub und von zu Hause erzählten, von Mami und Papi, Oma und Opi, dann wurde er jedesmal sehr still. Es gab auch Kinder, die immer wieder Weihnachten in irgendwelchen Familien verbringen durften, aber ihn, Jonathan, hatte noch niemand abgeholt. Er hatte schon überlegt, ob es vielleicht an seinen vielen Sommersprossen liegt oder an seinen feuerroten Haaren. Wenn schon ihm die Haare nicht gefielen und den anderen Kindern auch nicht, wie konnte er dann den Leuten gefallen, die ein Urlaubskind suchten? Er ahnte, dass er auch dieses Jahr wieder im Kinderheim bleiben würde. Jetzt hatte er zu allem Überfluss auch noch einen hässlichen Engel gemacht. Und überhaupt fand er, dass der Engel ihm ähnlich sah.
Der Heilige Abend rückte näher. Die Engel standen in der Glasvitrine, fein säuberlich versehen mit den Namen der Kinder, die sie erschaffen hatten. Auch sonst war das Kinderheim festlich geschmückt. Die vier Kerzen am Adventskranz brannten, der Weihnachtsmann hatte sich angesagt. Die wenigen Kinder, die übriggeblieben waren, saßen im Esszimmer, sauber angezogen und gewaschen und warteten gespannt auf den Augenblick, an dem die große Glocke vor der Türe klingelt und der Weihnachtsmann eintritt. Er kam mit schweren Stiefeln und er war viel kleiner als der im Vorjahr, fand Jonathan. Man könnte ihn fast als etwas bucklig bezeichnen. Der lange Mantel schleifte am Boden. Irgendwie erinnerte er Jonathan an den Hausmeister des Kinderheimes, den er besonders gern mochte. Alle durften ihn Viktor nennen - und obwohl er schon sehr alt war, spielte er manchmal Fußball mit ihnen, bis er völlig außer Atem war. Und er nahm Jonathan in Schutz, wenn die anderen Jungs ihn wegen seiner roten Haare, die in der Sonne leuchteten, als ‚Streichholzkopf‘ oder ‚Glühwürmchen‘ verspotteten: „Kinder…“, sagte er einmal: „Es kommt nicht darauf an, was einer auf der Birne- sondern was er innen drin hat!“ Jonathan durfte ihm auch bei der Gartenarbeit helfen und legte sich dabei mächtig ins Zeug. Einmal fragte er Viktor, warum er denn keine Frau und keine Kinder habe – da wurde der alte Mann sehr traurig… er habe eine Familie gehabt, aber der liebe Gott – wenn es ihn gibt – habe es vorgezogen, seine Frau, den Sohn und die Tochter in den himmlischen Rat zu berufen. Es war ein Flugzeugunglück…
Während die Kinder das einstudierte Lied aus vollen Kehlen schmetterten, setzte sich der Weihnachtsmann. Und als die letzten Töne verklungen waren, entschuldigte er sich: „Liebe Kinder, ihr werdet einem alten Mann verzeihen, dass er sich setzen musste, nach so einer langen Reise...“
Den Kopf hielt er etwas schief, die weißen Haare waren zerzaust und hingen ihm wirr ins Gesicht. Die Augen schienen Jonathan etwas zu groß geraten, aber sie strahlten gütig und lieb aus dem alten Gesicht. Seine Mundwinkel waren hochgezogen, er lächelte jedes der Kinder an, eines nach dem anderen. Jonathan hatte immer mehr das Gefühl, als würde er ihn kennen - eine seltsame Vertrautheit ging von ihm aus.
„Ihr habt das wirklich schön gemacht, Kinder“, sagte er leise. „Und euer Gesang hat unserem Herrn gut gefallen. Überhaupt hat er seine Freude an euch. Ihr habt euch gut auf Weihnachten vorbereitet und wunderschöne Engel gemacht.“ Jonathan zuckte zusammen. Du liebe Güte, der Engel!
"Ein Engel ist mir besonders aufgefallen...“
Jonathan hätte sich am liebsten unter den Tisch verkrochen.
„Er sieht nicht aus wie die anderen. Er ist auch keiner von denjenigen, denen alles glatt gelaufen ist im Leben. Nein, es ist ein Engel, der viel Verzweiflung durchgemacht hat, das sieht man ihm an. Er hat nachgedacht und überlegt, ein Philosoph. Er hat Leid getragen, sein Flügel ist leicht geknickt. Aber trotzdem lächelt er und preist den Herrn. Er zwingt sich dazu, dem Herrn freudig entgegenzutreten, weil er weiß, dass das Leid zur Welt gehört. - Jonathan, komm einmal zu mir.“
Es war so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Jonathan trat vor. Wie selbstverständlich setzte er sich auf den Schoß des Alten und sah ihm in die Augen. Nun wusste er plötzlich, woher er ihn gekannt hatte. Er sah aus wie sein Engel, ganz genau.
„Weißt du, Jonathan, Menschen erfahren in ihrem Leben viel Leid, aber auch viel Freude. Und ich will dir jetzt eine Freude machen. Hast du irgendeinen Wunsch?“
Jonathan überlegte fieberhaft. Er legte seinen roten Haarschopf an den weißen Bart des Nikolauses und dachte einen Augenblick daran, ob er sich andere Haare wünschen sollte, oder ob er seine Sommersprossen aus dem Gesicht weg haben wollte. Aber alle Wünsche kamen ihm in diesem Augenblick so kleinlich vor. Er fühlte sich eigentlich gerade wunschlos glücklich.
„Gut“, sagte der Alte lächelnd, „unserem Herrgott ist doch ein Wunsch zu Ohren gekommen. Du musst morgen ganz früh aufstehen. Pack ein paar Sachen zusammen, nicht zu viel, du wirst nämlich abgeholt...“
Am nächsten Morgen um acht Uhr stand ein untersetzter alter Mann vor der Türe des Kinderheimes. Klein war er, bucklig, den Kopf hielt er etwas schief. Aber die zu groß geratenen Augen lächelten gütig. Jonathan hüpfte die Treppe hinunter und rannte ihm in die Arme...