Читать книгу Ein Engel für Jonathan - Deborah Ginsberg - Страница 5
Nie wieder Weihnachten!
ОглавлениеSchon Anfang September füllen sich die Auslagen der Geschäfte mit allerlei Weihnachtsartikeln: Glocken, Nikoläuse, Lebkuchen, alles, was die Vorfreude auf das Fest in Gang bringt - und natürlich dem Handel eine gesegnete und sorgenfreie Weihnachtszeit bescheren soll. Jan fühlte sich schlecht. Er wollte nichts zu tun haben mit einer Frömmigkeit, die einmal im Jahr wie eine Grippewelle das ganze Land erfasst. Er hasste es, mit seinen Eltern unter dem Weihnachtsbaum zu stehen und Weihnachtslieder zu singen. Mutter hatte die Kerzen angezündet und einen Abschnitt aus der Bibel gelesen, anschließend umarmte sie den Vater, und dann umarmte sie ihn. Danach packten alle die Geschenke aus, von denen man ahnte, dass der andere in großer Verzweiflung noch am 23. Dezember durch die Kaufhäuser gestreift ist, um überhaupt etwas auf den Gabentisch legen zu können. Man bedankt sich, heuchelt Freude, um dann möglichst schnell zu Tisch gehen zu können. Ja, das war Weihnachten, wie Jan es schon immer kannte.
„Alle Jahre wieder“, dachte er genervt, als seine Mutter daran ging, die Fenster zu putzen und mit Strohsternen zu schmücken. Der Adventskranz war schon gebunden, und wartet darauf, geschmückt zu werden.
„Mutter“, sagte er plötzlich. „Ihr werdet Weihnachten ohne mich feiern.“
Erstaunt drehte sich seine Mutter um - „Warum?“
Der Engel, den sie gerade aufhängen wollte, fiel ihr aus der Hand.
„Weil ich euer verlogenes Weihnachten nicht mehr mitmachen werde. Ihr lügt, wenn ihr Halleluja singt, ihr lügt, wenn ihr von ewigem Frieden erzählt, ihr lügt, wenn ihr euch um den Hals fallt. Der ganze 24. Dezember ist von morgens bis nachts eine einzige Lüge.“
Seine Mutter sah ihn lange an. „Hast du einen besseren Vorschlag, wie wir Weihnachten feiern könnten?“ Jan hatte keinen...
„Gut“, sagte seine Mutter schließlich, „du kannst dieses Jahr alleine feiern. Ich werde dir an Heiligabend und an den beiden Weihnachtstagen ein Hotel bezahlen und noch zweihundert Euro extra geben, dann kannst du feiern, wie – und mit wem du willst. Das ist dann dieses Jahr mein Geschenk für dich. Gesegnete Weihnacht!“
An Heiligabend hatte Jan recht früh sein Hotelzimmer bezogen. Er fühlte sich erwachsen und unendlich erleichtert. Kein Tannenbaum, kein Singen, keine Geschenke, kein Festmahl - nichts, das ihn an diese unseligen Feiertage erinnern sollte. Doch schon, wenn er das Radio andrehte, belästigten ihn die Lieder, denen er doch gerade entflohen war. Er beschloss, einen Kaufhausbummel zu machen. Die Stadt war voller Menschen. Die meisten hetzten durch die Straßen, um noch schnell vor Ladenschluss für die Feiertage einzukaufen. „Sollen sie doch, diese Deppen“, dachte er bei sich und schlenderte weiter. Er kaufte sich an einem Stand heiße Maronen, um seine Hände zu wärmen und den kleinen Hunger zu stillen, der sich beim Duft der Kastanien meldete. „Heute Abend gehe ich schön essen und lade mir einen Freund dazu ein“, dachte er weiter. Er beschloss, Tommy anzurufen.
Tommy hatte keine Zeit, er wollte mit seiner Familie feiern. Timo war bei seinen Großeltern, Sascha mit einem Kumpel in den Bergen beim Snowboarden. Wen er auch einladen wollte, keiner hatte Lust oder Zeit, den Heiligen Abend mit ihm zu verbringen.
„Dann eben nicht…“, dachte er trotzig, „allein feiern ist auch cool!“ Es wurde Abend. Jan wollte essen gehen, aber die meisten Restaurants hatten geschlossen. In ein paar teuren Hotels gab’s Menüpflicht – und er hätte schon vor Wochen einen Tisch bestellen müssen. Frierend und hungrig streifte er im Schneeregen durch die Straßen – und zog es dann vor, ins Hotel zu gehen. Dort saß er, den halben Abend, in den paar Quadratmetern, die ihm plötzlich fürchterlich spartanisch vorkamen, wie eine Zelle… keine Kerzen, es roch nach alten Socken und seinen durchnässten Kleidern. Er zappte sich durchs Fernsehprogramm – fast überall die typischen Schmonzetten - oder noch schlimmer, die unerträglichen Weihnachtslieder in kitschigen Kulissen, dazu strahlende, rotbackige Kinder im Kunstschnee. Jan machte den Fernseher aus und legte sich auf sein Bett…
Plötzlich überfiel ihn eine lähmende Einsamkeit. Er dachte an seine Familie, die wohl gerade beim Essen saß, Weihnachtsgans und Rotkohl. Sein Magen begann zu knurren. Die Geschenke hatten sie schon ausgepackt, sie hatten sich auch schon umarmt und gesungen. Nachher würden sie in die Kirche gehen. Jan war nie mit in die Kirche gegangen. Er konnte diese Gefühlsduselei nicht ertragen. Er überlegte kurz, ob er zu Hause anrufen und ein frohes Fest wünschen sollte, verwarf aber den Gedanken gleich wieder. Aber irgendwas musste er tun - sein Hotelzimmer, auf das er sich so gefreut hatte, verursachte bei ihm klaustrophobische Anfälle. Wenn er wenigstens seinen Computer mitgenommen hätte, dann könnte er wenigstens zocken. Im Netz findet man immer einen Kumpel.
Jan zog sich wieder an, Mantel, Schal, Handschuhe, dann wanderte er durch die menschenleeren Straßen. Vielleicht gibt’s ja irgendwo ein offenes Internetcafé… Verdammt, es muss doch noch mehr Leute geben, die heute alleine sind und sich einen netten Abend machen wollen! Seine Stimmung sank auf den Nullpunkt. So streifte er durch die eiskalte Nacht, durch eine Geisterstadt auf der Suche nach Menschen, die mit ihm reden, oder ihm nur ein frohes Fest wünschen.
Schließlich kam er an einer Kirche vorbei. Der Gottesdienst hatte gerade begonnen. Er hörte erst Orgelmusik, dann setzte die Gemeinde ein mit dem Lied: Tochter Zion, freue dich... Etwas Lebendiges, Warmes drang mit dem Gesang durch die Türen des Gotteshauses nach draußen. Und ehe Jan es sich versah, hatte er das Tor geöffnet und sich hineingedrückt. Das Kirchenschiff war angefüllt mit Menschen, jungen und alten, hübschen und hässlichen. Es war ihm, als wäre die ganze Stadt hier versammelt.
Jan schob sich noch etwas weiter vor, um den Pfarrer sehen zu können. Und da stand er vorne in seinem schwarzen Talar. Feierlich und strahlend erzählte er von der Weihnachtsgeschichte und dass doch jeder Mensch das Fest in sich selbst erleben möge: „Nicht vor zweitausend Jahren wurde Jesus geboren“, klang es an im Ohr, „heute wird er geboren, und zwar in dir. Du musst ihn nur einlassen. Zünde die Lichter an, mach dein Herz auf, mach es hell in dir, dann hat Weihnachten für dich einen Sinn. Weihnachten, die Nacht der Weihe...“
Jan lehnte sich an eine Säule. Sein Herz schlug wild. Es schien, als hätte der Pfarrer nur für ihn gesprochen. Ein junges Mädchen, das neben ihm stand, lächelte ihn an. Ein Gefühl unendlicher Vertrautheit machte sich in ihm breit. Sie hatte bestimmt das gleiche erlebt. Unwillkürlich berührte er ihre Hand.
„Wie heißt du?“ fragte er leise.
„Rachel, und du?“
Er nannte seinen Namen, und dann sang er mit Rachel und der Gemeinde das „Stille Nacht...“ Er sang aus tiefster Seele.
Viel zu früh war der Gottesdienst zu Ende. Er wünschte Rachel noch ein frohes Fest und stürmte ins Freie. Auf den Weg zum Hotel kreisten seine Gedanken um diesen seltsamen Gottesdienst, den Gesang der Gemeinde, den Worten des Pfarrers, um Rachel. Kurz darauf fand er sich wieder in der Enge seines anonymen Hotelzimmers, aber es bedrückte ihn nicht mehr, die Einsamkeit war einer großen Zuversicht gewichen.
Die Weihnachtstage vergingen. Jan hatte viel Zeit, über sich nachzudenken. An Silvester zog es ihn wieder in die Kirche. Der Pfarrer sprach über das neue Jahr und über die Notwendigkeit, sich immer wieder neu zu orientieren, um mit aller Kraft und viel Mut an neue Aufgaben heranzugehen. Und wieder schien es Jan, als habe er nur für ihn gesprochen. Am Ausgang blickte er in tiefe braune Augen, die ihn vergnügt anstrahlten – Rachel.