Читать книгу Ein Engel für Jonathan - Deborah Ginsberg - Страница 4
Schatten der Seele
ОглавлениеAm Abend war er immer noch da, der Schatten, der sich auf seine Seele gelegt hatte. Es war wie verhext. Schon vor Wochen hatte es begonnen, erst langsam, zögerlich, fast zart hatte dieses dunkle Gefühl sich bei ihm eingeschlichen. Dann immer lauter, besitzergreifender, wütender, bis es alle anderen Gefühle vertrieben hatte. Nichts war mehr wichtig, weder die schön dekorierten Schaufenster noch die Kerzen auf dem Adventskranz. Nicht die Familie und auch nicht die Arbeit waren mehr wichtig für Markus. Nur „Es“ war da, dieses brüllende „Es“, das ihn nicht einmal beim Schlafen zu verlassen schien. Es schlich sich in seine Träume, ließ ihn schweißgebadet aufwachen. Auch Andrea, seine Frau, hatte die Veränderung bemerkt, die mit ihm vorgegangen war.
„Markus, was soll das? Du benimmst dich wie ein Idiot. Merkst du denn gar nicht, wie du die Menschen alle vor den Kopf stößt? Gestern Abend waren die Brandstetters da. Sie haben Geschenke gebracht für Weihnachten: Die Uhr, die du dir schon lange gewünscht hast, für mich einen Seidenmorgenmantel, für die Kinder...“
„Ach, lass mich doch in Ruh' mit deinen Kinkerlitzchen!“ Markus winkte unwirsch ab.
„Ich will jetzt wissen, was du dir dabei denkst! Wir haben diese Leute eingeladen – und was hast du gemacht? Du sitzt den ganzen Abend da mit deinem muffigen Gesicht und trägst nichts, aber auch absolut gar nichts zur Unterhaltung bei.“
„Die Brandstetters sind stinklangweilige Leute. Ich weiß einfach nicht, was ich mit ihnen reden soll.“ Markus stellte das Radio an, aber nicht einmal die Nachrichten interessierten ihn. Krieg im Osten, Hungerkatastrophe im Süden, eine Massenkarambolage auf der Autobahn: fünf Tote, dreizehn Verletzte. Die Toten waren bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Erdbeben auf einem fremden Kontinent... Markus drehte das Radio wieder ab. Es war alles fremd und unbedeutend für ihn. Eigentlich war es, als wenn seine Ohren Löcher bekommen hätten. Die Worte fielen hinein – und wieder hinaus, als wären sie nicht für ihn bestimmt. Andrea ließ nicht locker.
„Was soll das heißen, sind dir langweilig? Dr. Brandstetter ist ein einflussreicher Mann, das hast du selber immer gesagt. Du hättest dich wenigstens mit ihm über die Jagd unterhalten können. Du weißt doch, dass er passionierter Jäger ist! Seine Frau leitet den Literaturkreis. Du liest doch Bücher. Was meinst du damit, du hättest nichts mit ihnen zu reden gewusst?“
„Es ist einfach alles hohl und leer, was sie sagen. Seifenblasen, verstehst du? Nichts als blubb, blubb – und das den ganzen Abend lang.“ Markus schlug die Küchentüre zu und legte sich ins Bett. Er wollte nicht schon wieder mit Andrea streiten. Er wollte überhaupt nicht streiten, mit niemandem. Die Worte schmerzten ihn im Mund. Es war ihm eine Last, immer den starken Mann markieren zu müssen, immer diese Grabenkämpfe in seinem Beruf, die Machtkämpfe in der Ehe, der ständige Kampf, um sich selbst zu beweisen, dass man lebt…
Zum ersten Mal kam der Gedanke, er könnte vielleicht krank sein. Ja, das wird es sein, dachte er bei sich. Eine verschleppte Grippe. Das ist normal bei diesem nasskalten Wetter. Im Büro waren kürzlich alle erkältet, nur er nicht. Oder gar etwas Schlimmeres? Womöglich Krebs? Mit Grauen dachte er daran, dass sein Vater an Lungenkrebs gestorben war, vor fünf Jahren, direkt an Heiligabend. Ihn hatte der Tod damals nicht so sehr berührt. Sein Vater war sechsundsiebzig gewesen, er starb nach längerer Krankheit. Was soll man da heulen, hatte er damals gedacht. Es ist doch nur normal, wenn ein Mensch in diesem Alter stirbt. Dazu noch, wenn er krank ist. Wann hatte er überhaupt das letzte Mal geweint? Er konnte sich kaum noch erinnern. Es war wohl in der Kindheit gewesen, mit vielleicht sieben oder acht Jahren - seine Schwester hatte ihm seinen Lieblingstraktor kaputtgemacht. Damals hatte sein Vater ihn ausgelacht: „Wegen so einer Lappalie weinst du? Bist du ein Mädchen?“ Da hatte er sich entschlossen, nie mehr zu weinen.
Am nächsten Tag ging Markus zum Arzt. Es fiel ihm nicht gerade leicht, die Symptome zu schildern: Lustlosigkeit und Langeweile, fehlende Streitsüchtigkeit, das Gefühl überall deplatziert zu sein… das sind alles keine griffigen Krankheitszeichen. Dr. Herm untersuchte ihn eingehend von Kopf bis Fuß, konnte aber keinen organischen Defekt feststellen.
„Ich denke, Sie sind überarbeitet“, sagte er aufmunternd. „Und ihr Cholesterinspiegel ist erhöht. Sie sollten Diät halten und sich ausruhen. Ich schreibe Sie krank bis nach Weihnachten - danach sind Sie wieder ganz der Alte. Und denken Sie daran – keine fette Gans, kein Lachs, nicht zu viel Schokolade...“
Markus war unzufrieden mit der Diagnose. Er wusste nur zu gut, dass er nicht überarbeitet war, dass seine Arbeit im Finanzamt ihn langweilte, ja sogar anödete. Wer kann schon überarbeitet sein, wenn er acht Stunden pro Tag seine Zeit absitzt, mit Zahlen jongliert, vor sich hinstarrt. Aber was war es dann? Was war „Es“, das sein Leben in so kurzer Zeit verändert hatte. Wenn es keine Krankheit war, dieses Unbekannte, Bedrohliche, was war es dann? Vielleicht eine Depression? Oder womöglich eine schleichende Demenz, die sich ja anscheinend auch mit solchen Symptomen bemerkbar macht?
Markus beschloss, zum Neurologen zu gehen. Dr. Baierlein, der bekannteste psychosomatische Arzt in der Stadt, nahm sich lange Zeit. Ausführlich befragte er ihn nach seinem Leben.
„Sind Sie unzufrieden mit sich oder anderen?“
Markus konnte sich auf diese Frage keinen Reim machen. Warum sollte er unzufrieden sein? Er hatte doch alles erreicht, ein kleines Häuschen, eine attraktive Frau und zwei Kinder, einen sicheren Beruf. Nicht mehr lange, dann würde er wieder befördert werden. Warum unzufrieden sein? Er war ein angesehener Bürger in der Stadt. Die einflussreichsten Leute kamen gerne zu ihm, ließen sich beraten in Geldangelegenheiten, sogar die stinklangweiligen Brandstätters. Er und seine Frau waren gerngesehene Gäste auf allen Partys…
„Wie alt sind Ihre Kinder?“
Markus überlegte kurz.
„Ich glaube elf und dreizehn. Nein, Moment, Natascha dürfte schon dreizehn sein, Timo ist wohl gerade fünfzehn geworden.“
Dr. Baierlein sah von seinem Faltblatt auf.
„Sie wissen nicht, wie alt Ihre Kinder sind?“ Markus war das wirklich unangenehm, aber er hatte sich das Geburtsdatum seiner Kinder nie merken können. Warum auch, die Feiern und das mit den Geschenken hatte Andrea immer organisiert. Eine Mutter kann das besser. Außerdem hat sie naturgemäß die engere Bindung zu den Kindern.
„Wie alt ist denn Ihre Frau?“
Diesmal kam es wie aus der Pistole geschossen.
„Achtunddreißig, das weiß ich ganz genau. Andrea hat vor drei Wochen Geburtstag gehabt. Ich habe ihr ein Parfüm geschenkt.“
Nach einer Stunde stand die Diagnose fest.
„Herr Freudenberger, lassen Sie mich das mal so ausdrücken: Auch beim Mann lassen die Hormone nach, genau wie bei der Frau. Sie sind jetzt fünfundvierzig Jahre alt. Sie sind sozusagen in der Midlifecrisis. Da geht es Ihnen wie hunderttausend anderen Männern.“
Markus bekam noch ein paar Tabletten mit, die er ausprobieren sollte, und die Auflage, nach zwei Wochen noch einmal zu kommen. Dann wollte Dr. Baierlein feststellen, ob die Beschwerden sich aufgrund der Therapie gebessert hätten.
Markus lief durch die Straßen. „Es“ lief mit, war immer bei ihm. Wenn er auf das weihnachtliche Treiben in der Einkaufsstraße und auf lachende junge Leute blickte, dann sah „Es“ ihm mitten ins Gesicht, grinste ironisch, als wollte „Es“ ihm sagen: „Sieh her, Markus, so fröhlich warst du auch einmal...!“ Betrachtete er aber den alten Bettler, der einsam und frierend am Straßenrand saß, dann schien „Es“ zufrieden: „Schau her, Markus, so einsam bist du auch!“ Je länger er die festliche Vorfreude der Menschen betrachtete, desto fester legte sich ein dunkler Schleier auf sein Gemüt, schmiegte sich an ihn, nahm ihm die Luft zum Atmen.
Zu Hause angekommen, wollte er gleich ins Bett gehen. Er sprach kaum ein Wort mit Andrea und den Kindern, nahm seine Tablette ein und legte sich hin. Kaum lag er ausgestreckt auf seiner Matratze und wartete, dass die Medizin ihre Wirkung tat, da geschah es. Der Trauerflor riss sich schmerzhaft von seinem Herzen, bäumte sich auf und schwebte über ihm. „Es“ hatte ihn wirklich verlassen. Gleichzeitig zogen durch das Zimmer weitere Schatten. Sie kamen durchs geschlossene Fenster, durch die Türe, durch die Wände, ein wahres Stelldichein von finsteren Gestalten, kichernd, aufgeblasen, übermütig.
Markus wollte schreien, wollte Andrea zu Hilfe rufen, aber seine Stimme versagte. Sein „Es“ schwebte über ihm. Er spürte einen eiskalten Hauch auf seinem Gesicht.
„Muss ich jetzt sterben?“ fragte er kaum hörbar. Vielleicht hatte er es auch nur gedacht. Eines der schwarzen Wesen näherte sich, fuhr zum einen Ohr hinein, zum anderen wieder hinaus. Dazwischen hörte er die Worte: „Freudenberger, wozu sterben? Du bist doch schon tot.“
Markus schrie, was seine Stimme hergab, schrie um Hilfe. Andrea stürzte herein. In diesem Augenblick war der Spuk verschwunden. Sein „Es“ klammerte sich wieder an ihn, schlüpfte in ihn hinein. Tränen sickerten aus seinen Augen. Zum ersten Mal seit vielen Jahren weinte er. Sein Schluchzen erstickte das Stammeln, mit dem er seiner Frau erzählen wollte von Schatten, die immer um ihn waren, von Hohngelächter, vom Tod. Andrea nahm ihn in den Arm wie ein kleines Kind und strich ihm übers Haar.
„Du hast geträumt, Markus, ein Alptraum. Beruhige dich! Du solltest nicht so starken Tabletten nehmen, wenn du sie nicht verträgst. Hörst du? Du bist in einer Krise, nicht weniger und nicht mehr!“
Das Weihnachtsfest rückte näher. Die Menschen bereiteten sich auf die Geburt des Heilands vor. Nicht so Markus. Er fühlte sich weiterhin krank. Genaugenommen fühlte er sich sterbenskrank. Die gespenstischen Worte hallten in seinem Ohr: „Freudenberger, wozu sterben, du bist doch schon tot... Freudenberger, wozu...“
Markus ging sehr früh aus dem Haus an diesem 24. Dezember. Er setzte sich auf eine Parkbank. Es war ein klirrend kalter Morgen. Tagelang hatte der Nebel alles zugedeckt, und nun war plötzlich die Sonne durchgebrochen. Bäume und Sträucher waren dick mit Eiskristallen überzogen. Markus sog die Luft ein. Seine Nasenflügel vibrierten.
„Wenn ich aber noch riechen kann, wenn ich den Morgen rieche, dann bin ich doch nicht tot“, dachte er. Es war lange her, dass er die Natur bewusst wahrgenommen hatte. Es war lange her, dass er den kalten Wind, der durch sein Haar strich, körperlich gespürt hatte. Seine Gedanken gingen auf die Reise.
Dass er aufgestanden war, den Park verlassen hatte und ziellos durch die Stadt lief, merkte er kaum. Nur nicht zurückkommen in den Körper, nicht dieses Gewicht wieder tragen müssen. Er fühlte sich leicht an wie eine Feder, die vom Wind getrieben wurde. Im Vorgarten eines Hauses fand er sich wieder zwischen Krokus und knospenden Osterglocken. Wie benommen sah er sich um. Krokus und Osterglocken mitten im eisigen Winter? Vielleicht ein Irrtum der Natur? Die Natur hatte sich schon oft geirrt im Laufe der Jahrhunderte...
Es muss ein altes Haus gewesen sein, der Form nach vielleicht sogar eine Kapelle. Markus konnte sich nicht entsinnen, dieses Haus je gesehen zu haben. Auch die Umgebung kam ihm fremd vor. Dabei hatte er immer damit geprahlt, dass er jeden Winkel und jede Ecke der Stadt wie seine Westentasche kannte. Die Eingangstüre war aus schwerem Eichenholz mit Messingbeschlägen. Noch während Markus den altertümlichen Türklopfer bewunderte, der einen Stierkopf darstellte, durch dessen Nase ein schwerer Eisenring gezogen war, öffnete sich die Türe. Ein Mann mit grauem Bart, in knöchellanges Gewand gekleidet, stand vor ihm.
„Entschuldigen Sie bitte, aber ich habe nicht gewusst, dass dieses alte Gemäuer noch bewohnt ist. Entschuldigen Sie die Störung.“
Markus wollte sich gerade wieder umdrehen und das Anwesen fluchtartig verlassen, als eine Stimme vorwurfsvoll an sein Ohr drang: „Bittet, so wird euch gegeben, suchet, so werdet ihr finden, klopfet an, so wird euch aufgetan. - Endlich bist du da, wo bist du so lange gewesen?“
Markus blickte in die strengen grauen Augen des Alten, kramte verzweifelt in seinem Gedächtnis, ob er diesem Mann schon jemals begegnet war. Wenn ja, bei welcher Gelegenheit? Hatte er eine Verabredung mit ihm verpasst? Aber der Alte sah nicht so aus, als würden ihn Geldanlagen oder Steuerfragen auch nur im geringsten interessieren. Seine Kleidung war ärmlich. Der seltsame, viel zu groß wirkende Kaftan war mit einer Schnur um seinen Leib gebunden. Die nackten Füße steckten in Sandalen. Das erschien Markus für diese Jahreszeit doch etwas gewagt. Vielleicht ein Verrückter? Oder war er aus dem nahegelegenen Altersheim ausgerückt? Markus entschloss sich, ihn nicht zu kennen, obgleich ihm die Gesichtszüge nicht fremd waren.
„Das muss eine Verwechslung sein, ich habe Sie noch nie im Leben gesehen.“
Nun blickte der Alte nicht mehr gar so grimmig. Sogar ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Markus Freudenberger, was soll das? Komm herein, oder willst du draußen bleiben, bei dieser Kälte? Du bist ja schon fast erfroren.“ Markus war nicht wohl bei dem Gedanken, mit einem kauzigen Alten, der seinen Namen kannte, in ein fremdes Haus zu gehen. Vielleicht war er doch verrückt? Oder ein Verbrecher? Oder vielleicht beides? Ein verrückter Mörder, der ihn mit Bedacht ausgewählt hatte? Mit Entsetzen erinnerte sich Markus an den Schatten, der zu ihm gesagt hatte: „Freudenberger, du bist doch schon tot.“ Das Blut stockte ihm in den Adern. Er fühlte ein lautes Pochen in seinem Kopf. Dennoch gehorchte er. Der Türspalt, den der Unbekannte freigab, war eng. Markus musste sich richtiggehend hindurchzwängen. Kurz hatte er Angst zu ersticken, denn der Alte schien zuzudrücken, anstatt die Türe aufzuhalten.
„Was machen Sie? Ich kriege keine Luft mehr. Lassen Sie das!“
„Geht hinein durch die enge Pforte. Denn die Pforte ist weit, und der Weg ist breit, der zur Verdammnis führt, und viele sind´s, die auf ihm hineingehen. Wie eng ist die Pforte und wie schmal ist der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind´s, die ihn gehen! Mach dir keine Sorgen Markus Freudenberger, du wirst nicht ersticken. Was bei dir eng ist, ist das Herz. Engherzig bist du, weiter nichts.“
Im Haus war es dunkel. Nur eine einzige Kerze, die auf dem Fußboden stand, warf einen schwachen Lichtschein. Markus brauchte lange, bis er sich nach dem Tageslicht an die Dunkelheit gewöhnt hatte. Schemenhaft sah er Gestalten um die Kerze stehen. Als der Alte ihn am Arm nahm und weiter in das Innere des Hauses führte, kam Bewegung in sie. Flüstern erfüllte den Raum.
„Ein guter Mensch bringt Gutes hervor aus dem Schatz seines Herzens; ein böser Mensch bringt Böses hervor aus seinem bösen Schatz“, raunte der eine. „Ich sage euch aber, dass die Menschen Rechenschaft geben müssen am Tage des Gerichts von jedem nichtsnutzigen Wort, das sie geredet haben“, flüsterte der andere.
„Komm näher“, sagte der Alte fast zärtlich. Nun konnte Markus sehen, dass zwölf von diesen Gestalten herumliefen. Sie waren gekleidet wie Mönche. Der Geruch von Weihrauch erfüllte den Raum. Alle Angst fiel von Markus ab. Er fühlte sich in freudiger Erregung, gespannt wie ein Kind vor der Bescherung.
„Willkommen bei uns, Freudenberger! Wir haben lange auf dich warten müssen.“ Der Alte schien plötzlich gar nicht mehr alt. Seine grauen Augen lächelten. „Du hast uns wirklich viel Phantasie abverlangt. Keinem Ruf bist du gefolgt. Wir haben dir Träume geschickt – umsonst. Erinnerst du dich an den Bettler, der neulich abends vor deinem Haus gesessen hat? Er war einer von uns. Er hätte dich herbringen sollen. Dein Herz war schon berührt, aber dann hast du dich entschlossen, ihn zu ignorieren. Am Sonntag bist du an der Kirche vorbeigelaufen. Wir haben gerade den vierten Advent gefeiert. Um ein Haar wärst du hereingekommen, ich habe mich schon auf dich gefreut. Aber dann hast du dich plötzlich umentschieden. Deine Berührungsängste waren noch zu groß...“
„Es stimmt, ich wäre fast hineingegangen“, die Stimme von Markus zitterte.
„Dann mussten wir zu drastischeren Mitteln greifen: Die Schatten in deinem Zimmer. Danach hast du geweint. Dein Herz ist aufgebrochen, weich geworden, verletzlich. Da wussten wir, du würdest kommen. Nun hat schon der Wind gereicht, um dich herzuführen.“ Ja, der Wind war es gewesen, der Markus vor sich hergetrieben hat wie eine Feder. „Und weißt du eigentlich, dass das hebräische Wort ,Ruach‘ Wind – gleichzeitig auch Geist bedeutet? So hat dich also der Geist hergetrieben.“
„Aber ich verstehe nicht, was das Ganze...?“
„Markus, der Höchste hat dich nicht erschaffen, damit du dein Leben vergeudest. Du bist in größter Gefahr es wegzuwerfen, nur weil du nicht gelernt hast, irgendetwas Sinnvolles damit anzufangen. Du hast Kinder, aber bist nicht in der Lage, ihnen etwas zu bieten, außer der materiellen Absicherung. Deine Frau ist dir fremd geworden, weil du nichts Positives in ihr Leben hineingetragen hast. Du hast sie gefühlsmäßig regelrecht verhungern lassen!“
Markus zitterte vor Aufregung. „Aber meine Frau ist glücklich. Sie hat alles, was sie will!“
„Du hast ihr nichts gegeben außer Geld, ein paar schöne Kleider und zu jedem Geburtstag ein teures Parfüm. Zu Weihnachten bekommt sie Schmuck. Die teuren Kleider hat sie zum größten Teil verschenkt, weil ihr das alles nicht wichtig ist. Mit dem großzügigen Taschengeld unterstützt sie Kinder in Südamerika. Das einzige, was sie nicht bekommt, ist Liebe – deine Liebe.“
„So ein Quatsch! Ich liebe meine Frau, das weiß sie auch!“
„Du kannst nicht lieben, Freudenberger. Du hast dich und das Göttliche in dir längst verloren. Du bist ein armseliges Häuflein Mensch.“ Markus liefen die Tränen über die Wangen. Der Kloß in seinem Hals hinderte ihn am Sprechen. „Aber sei nicht traurig, Markus. Heute ist Weihnachten, das Fest der Liebe. Du kannst diese Liebe in deinem Herzen wieder anzünden, du musst es nur wollen. Wenn unser Herr seinen Sohn schickt, um uns zu erlösen, dann können wir Menschen diese Liebe auch annehmen. Geh nach Hause zu deiner Familie, und mach ein Freudenfest mit ihnen.“
Markus sah, wie immer mehr Lichter im Raum angezündet wurden, und es schien ihm, als würde alles weit und offen in seinem Herzen. Ein großes Glück erfasste ihn.
„Sag mir, wer du bist“, flüsterte er. „Bist du Jesus?“
„Nein“, lächelte der Alte. „Man nennt mich Matthäus. Aber jetzt geh, es wird Zeit für dich...“
„Markus, Markus...!“ Wie eine Biene, die man mit wärmendem Atem anhaucht, bewegte Markus seine Glieder und öffnete vorsichtig die Augen. Er wusste nicht, wo er war. „Oh Gott, Markus, ich habe schon gedacht, du bist tot!“ Andrea saß neben ihm und küsste ihn immer wieder. Tränen liefen ihr über die Wangen. „Du hast dich nicht bewegt! Wie kannst du mir nur so einen Schrecken einjagen...“
„Andrea, wie kommst du hierher?“ Markus legte seinen Arm um sie. Das hatte er jahrelang nicht getan.
„Ich habe mit Sorgen um dich gemacht. Einfach einzuschlafen auf einer Parkbank! Gott Sei Dank habe ich dich gefunden! Du hättest erfrieren können...“ Die Tränen strömten aus ihren Augen.
„Ich bin nicht erfroren.“ Markus lächelte. „Wir werden feiern heute, ein großes Fest. Ich habe keinen Schmuck für dich gekauft – und keine Kleider. Dann brauchst du auch nicht soviel in die Kleidersäcke packen oder verschicken...“
„Das hast du gemerkt?“ Andrea errötete.
„Nein, das habe ich geträumt. Komm, wir gehen einen Baum besorgen.“ Markus stand mit einem Ruck auf. Mit großer Zufriedenheit und Dankbarkeit stellte er fest, dass „Es“ ihn verlassen hatte. Dieser Schatten, der ihm so lange das Leben vergällte, hatte seine Seele freigegeben. Licht war in sein Herz eingekehrt.