Читать книгу Auf der Suche nach dem Märchenprinzen - Denise B. Frei Lehmann - Страница 9
ОглавлениеEine verhängnisvolle Einladung mit unabsehbaren Folgen
Ein paar Wochen später, unterdessen war es Mitte August und Charlottes Herzstillstand lag über acht Monate zurück, trat Viviennes Assistentin Ulla ins Büro ihrer Chefin, um Arbeitsverträge zur Unterschrift vorbeizubringen. Die dunkelhaarige, eher kleingewachsene, sympathische Frau mit grossen braunen Augen und sportlichem Kurzhaarschnitt, hatte vor kurzem ihren 28. Geburtstag gefeiert und arbeitete seit einem Jahr in der Personaladministration. Bevor sie das Büro wieder verliess, drehte sie sich nochmals um. „Gerne würde ich dich und Richard zusammen mit Kochs zu einem Abendessen in unser neues Haus einladen.“ „Mit mir kannst du nicht rechnen“ wimmelte Vivienne Ulla wirscher ab, als sie eigentlich beabsichtigte. „Warum nicht? Ich möchte aber, dass du dabei bist. Was soll ich allein mit unserem Chef und seiner Frau? Und wenn ich dich allein einlade und Herr Koch kommt dahinter, ist er beleidigt. Du musst kommen, bitte, bitte!“ flehte Ulla. „Ist ja schon gut“ beruhigte sie ihre Assistentin, die sie als zuverlässige und loyale Vertraute sehr schätzte. „Dann werden Richard und ich halt auch mit von der Partie sein. Obwohl ich ihn garantiert dazu überreden muss, denn er mag die beiden nun mal nicht.” „Vielen Dank, da fällt mir ein Stein vom Herzen“, meinte Ulla sichtlich erleichtert. Nach der mehr oder weniger aufgezwungenen Zusage verspürte Vivienne einmal mehr ein flaues Gefühl in ihrer Magengegend und ahnte, dass sie die Einladung besser nicht angenommen hätte.
Wie nicht anders zu erwarten war, zeigte Richard alles andere als Freude über die Aussicht, einen ganzen Abend lang zusammen mit Kochs an einem Tisch zu sitzen. „Wenn es denn halt sein muss, bin ich dabei“ sagte er widerwillig zu. „Danke Richard, doch bedenke, dass du auf Ullas Sofa strengstes Schlaf- und Schnarchverbot hast. Ich hoffe sehr, ich kann mich dieses Mal auf dich verlassen.“ „Ich gelobe es“ scherzte er und schaute dabei Vivienne schelmisch an.
Am verabredeten Abend trafen alle pünktlich im neuen Haus von Ulla und ihrem Mann Werner ein. Die Gastgeber begrüssten ihre Gäste herzlich und Ulla zwinkerte ihrer Chefin kurz zu. Vivienne stellte bewundernd fest, dass das sympathische Paar seine Gastgeberrolle perfekt beherrschte. Der Tisch war festlich gedeckt und aus der Küche duftete es verführerisch. Zum Apéro gab es Champagner und feine Häppchen; im Hintergrund rieselte romantische Musik aus den Lautsprechern der Musikanlage. Aus Viviennes Sicht hätte die Stimmung besser nicht sein können, wenn ihr Elena Koch nicht immer wieder seltsame Blicke zugeworfen hätte, die sie zuerst nicht richtig einzuordnen wusste. Plötzlich bemerkte sie, dass einer ihrer BH-Träger an der rechten Schulter zu sehen war, weil sie ein ärmelfreies Sommerkleid trug. ‚Was soll das?‘ überlegte sich Vivienne ärgerlich. ‚Will die Frau nun wegen solch einer Bagatelle miese Stimmung machen?‘ Den ganzen Abend hinweg schaute die Direktorengattin immer wieder auf die Achsel und Vivienne war drauf und dran zur Toilette zu gehen und den BH auszuziehen. Doch dies wäre keine gute Idee gewesen, denn dann hätten sich ihre Brüste durch den dünnen Stoff des Kleides abgezeichnet. ‚Da musst Du nun durch‘ versuchte sie sich zu beruhigen und gab sich Mühe, der seltsamen Frau einfach zuzulächeln, während sie die Achsel mit dem verrutschten BH-Träger immer wieder aufs Neue fixierte.
Ulla brillierte derweil in ihrer Gastgeberrolle und reichte zum ausgezeichneten Essen köstlichen französischen Rotwein. Ihre Gäste liessen sich dies gerne gefallen und lauschten bei Kerzenschein den Klängen amerikanischer Schnulzen, die aus den Lautsprechern rieselten. Vivienne mochte die sanften Klänge und fühlte sich auf angenehme Weise berührt. Elena Koch sass ebenfalls mit verträumtem Blick da und unterliess es für den Moment, auf Viviennes Schultern zu starren. ‚Wenn jetzt der Märchenprinz daher geritten käme und mich küssen würde, hätte ich nichts dagegen‘ überlegte Vivienne. Ihr Herz war übervoll vor Liebe und Leidenschaft, die sie bis anhin nie mit dem richtigen Mann zu teilen vermochte. ‚Wie lange muss ich wohl noch warten?‘ überlegte sie mit Blick auf Richard, der wohl ihr guter Freund und Vertrauter war, jedoch von romantischen Liebesgefühlen nicht viel hielt und schon gar nichts davon verstand. Wohl liebte er sie auf seine Weise, doch seine wirkliche Leidenschaft galt seiner Setzerei. Als Sohn aus ärmlichem und kinderreichem Elternhaus war es für sein Selbstbewusstsein zwingend, irgendwann zu grossem Reichtum zu kommen. Mit Unbehagen beobachtete Vivienne dieses Greifen nach den Sternen, die ihrer Meinung nach für Richard einfach zu hoch hingen. Er setzte sich ehrgeizige Ziele, die es normalerweise Schritt für Schritt zu erreichen galt. Doch seiner Meinung nach hatte er keine Zeit dazu, sondern wollte alles möglichst sofort. Diese Einstellung und dieses fast schon fanatische Streben nach Reichtum war ein weiterer Grund, warum es zwischen ihnen beiden auf Dauer einfach nicht funktionieren konnte. Sie selbst war zwar ebenfalls ungeduldig, manchmal ganz schön verträumt, oft naiv, doch wenn es um Geld und Karriere ging, war sie Realistin und plante Schritt für Schritt.
Vivienne schaute in die Runde der Anwesenden und stellte fest, dass alle in Gedanken versunken der Musik lauschten. Plötzlich spürte sie eine Berührung an der linken Fussfessel. Im ersten Moment dachte sie, Richard würde einen Annährungsversuch starten, was sie allerdings mehr als überrascht hätte. Er sass ihr gegenüber und gab sich verkrampft Mühe, nicht vom heiss ersehnten Schlaf übermannt zu werden. Als er Viviennes Blick spürte, tat er so, als wäre er hellwach und grinste sie an.
Sie warf einen weiteren Blick in die Runde und bemerkte Konrad Kochs verschmitzten Gesichtsausdruck. Mit liebevollem Blick beobachtete er die heimlich Angebetete, in die er seit Wochen verliebt war. Zwar gab er sich alle Mühe, seine Gefühle im Zaun zu halten, doch Frau Zeller, wie er sie immer noch nannte, war für ihn zum Rettungsanker in der schlimmsten Zeit seines Lebens geworden. Vor Charlottes Herzstillstand empfand er ihr gegenüber Sympathie und eine gewisse Bewunderung, wie sie all die von ihrem Vorgänger hinterlassenen Personalprobleme in kürzester Zeit löste. Zudem hatte sie Humor, lachte gerne, manchmal aus Sicht von Rudolf Matter auch zu laut. Doch dies störte ihn überhaupt nicht und er liess sie gewähren. Schliesslich konnte er ihr nicht verbieten, laut zu lachen, nur weil es dem CEO nicht passte. Nun, da sie ihm im Kerzenschein vis-à-vis sass, wirkte sie auf ihn noch schöner und verführerischer als bei Tageslicht. Am liebsten hätte er sie in seine Arme genommen und entführt. Irgendwohin, weit weg, wo es nur sie beide gab, die sich in Liebe und Leidenschaft verlieren und ihn das Trauma um Charlottes Drama vergessen lassen würde. Während er den verbotenen Gedanken freien Lauf liess, konnte er sich entgegen jegliche Vernunft nicht zurückhalten, seine Angebetete wenigstens unter dem Tisch am Bein zu berühren. Er hoffte seit Wochen auf ein Zeichen, dass sie genauso für ihn empfand, wie er für sie. Doch die Hoffnung war bislang vergebens und darum musste er die Gelegenheit nutzen und ihr zu verstehen geben, wie es wirklich um ihn stand. Vivienne schaute in seine Augen und wurde sich bewusst: ‚So hat mich noch nie ein Mann angeschaut und dieser Mann hätte mich auch nie so anschauen dürfen. Schon gar nicht in Begleitung seiner Frau.‘
Elena Koch und Richard bemerkten zum Glück nichts von Konrads Flirtattacke. Ulla und ihr Mann waren in der Küche, um Dessert und Kaffee vorzubereiten. Bevor Ulla die Nachspeise servierte, meinte sie mit Blick auf ihre Gäste: „Nun wäre eine gute Gelegenheit, dass wir Euch unseren besonderen Weinkeller zeigen. Herrn Koch und Frau Zeller habe ich diesen bereits während des Aperitifs gezeigt, doch Frau Koch und Herr Bigler haben ihn noch nicht gesehen.“ Ulla verhielt sich förmlich, da sie nur mit Vivienne und Richard per Du war. Zum ungeschriebenen Gesetz der Firma Matter gehörte, dass die Direktoren sich mit keinem ihrer Mitarbeiter duzen sollten, auch nicht mit den engsten. Nicht mal innerhalb der Geschäftsleitung war man per Du, sondern man achtete auf Distanz, was einem konstruktiven Arbeitsklima nicht immer zuträglich war.
Richard und Elena Koch folgten Ulla in den Keller und Werner hantierte in der Küche herum, während Vivienne und ihr Chef weiter am Tisch sitzen blieben. Jetzt oder nie‘ überlegte Konrad, stand rasch auf und setzte sich neben Vivienne, um sie auf den Mund zu küssen. ‚Oh mein Gott, soll ich ihm jetzt eine runterhauen?‘ war ihr erster Gedanke. Warum musste ausgerechnet ihr verheirateter Chef sie küssen, den sie bis anhin nicht besonders mochte, obwohl sie in letzter Zeit eine unerklärliche Verbindung spürte. „Sie haben jetzt grad eine Grenze überschritten, die nur in einer Katastrophe enden kann“ flüsterte sie ihm energisch zu. Er schüttelte lächelnd den Kopf und küsste sie nochmals, dieses Mal um einiges intensiver. ‚Fühlte sich so der Kuss des Märchenprinzen an?‘ Vivienne kam nicht dazu, ihre Frage zu beantworten, denn Werner brachte das Dessert aus der Küche und Ulla kam mit Elena Koch und Richard aus dem Weinkeller zurück. Konrad sass wie ein braver Schuljunge wieder auf seinem Platz und niemand ahnte, was sich wenige Minuten zuvor in diesem Raum abgespielt hatte. Ausser Richard, der Vivienne kurz musterte, weil er irgendeine Veränderung spürte. „Du siehst so blass aus, ist Dir nicht gut?“ wollte er wissen. „Das meinst Du nur“ gab sie abweisend zur Antwort. „Vielleicht lässt mich das Kerzenlicht etwas blasser erscheinen und zudem bin ich müde.“
Nach dem Dessert und dem Kaffee, es war schon beinahe Mitternacht, schaute Richard auf die Uhr und stand auf: „Vivienne, es ist schon spät und wir müssen morgen wieder arbeiten. Für mich wird es eine sehr kurze Nacht, weil ich um vier Uhr wieder raus muss.“ Vivienne stand ebenfalls auf und bedankte sich herzlich bei ihren Gastgebern. Das Ehepaar Koch taten es ihr gleich und nachdem sich alle voneinander verabschiedet hatten, fuhren Kochs mit ihren Fahrrädern, Richard und Vivienne mit dem Auto nach Hause.
Nach zehn Fahrminuten hielt Richard vor ihrer gemeinsamen Wohnung an, damit Vivienne aussteigen konnte. „Ich schlaf besser im Geschäft, da kriege ich wenigstens noch meine vier Stunden Schlaf. Und gell, Vivienne, Du bist Dir schon bewusst, dass dein Chef in dich verliebt ist?“ verabschiedete er sich. „Erzähl kein dummes Zeug“ entgegnete diese empört und schlug die Autotür mit voller Wucht zu, bevor sie die Treppe rauf und ins Haus rannte. Ihre schlafenden Nachbarn hatten garantiert keine Freude an ihrem mitternächtlichen Temperamentsausbruch. Doch auf irgendeine Weise musste sie nun Dampf ablassen.
Eine Viertelstunde später lag sie im Bett und ihre Gedanken drehten sich unablässig wie ein Karussell. Sie wollte die Kussszene schnellstmöglich wieder vergessen, doch dies war schneller gesagt als getan. Endlich fiel sie in einen unruhigen Schlaf und als Fabian sie ein paar Stunden später weckte, fühlte sie sich so, als hätte sie nicht eine Minute geschlafen. „Wie war der Abend bei Ulla? Bist du spät nach Hause gekommen?“ wollte er während des Frühstücks wissen. „Ich muss vorwärts machen, Fabian. Ich erzähle Dir heute Abend davon“, versprach sie ihrem Sohn, bevor sie zur Haustüre rausrannte. Kaum im Geschäft, begegnete ihr Konrad Koch in allerbester Laune auf dem Weg zur Personalabteilung. Noch nie hatte sie ihn so gelöst und fröhlich erlebt, schon gar nicht frühmorgens. „Wie geht es dir, seid ihr gut nach Hause gekommen?“ fragte er sie, als wären sie ein Paar. Viviennes Antwort fiel knapp und das „Dir“ ignorierend, aus: „Ja danke, und ich hoffe Sie auch.“ Dann drehte sie sich um, ging so rasch wie möglich in ihr Büro und schloss die Türe hinter sich zu. ‚Was nun?‘ überlegte sie. Verliebt war sie nicht und doch liess sie der unerwartete Kuss nicht mehr los. ‚Warum, bitte schön, werde ich von einem gebundenen Mann geküsst, der erst noch mein Chef ist? Verheirateter Prinz küsst Dornröschen oder Schneewittchen, das steht in keinem Märchenbuch und so soll es ja auch nicht sein. Somit vergessen wir das Ganze einfach wieder!‘ Ulla klopfte an die Bürotür und schaute kurz rein. „Und, wie war der Abend für dich? Alles halb so schlimm mit Kochs, oder?“ fragte sie lächelnd nach. „Ja, es war erträglich, Ulla, und nochmals herzlichen Dank für eure Gastfreundschaft. Richte meinen Dank bitte auch Werner aus. Ein unvergesslicher Abend. Ich lade euch beide nächstens auch mal zu uns ein, aber ohne Kochs. Was steht heute auf dem Programm?“ versuchte sie vom vergangenen Abend abzulenken. „In einer Stunde hast du ein Vorstellungsgespräch mit einem Kandidaten für die Finanzabteilung. Ich bring dir nachher die Unterlagen.“
Bevor Ulla die Türe hinter sich schloss, erinnerte sie Vivienne an den Ausflug mit den Pensionierten, der in ein paar Tagen stattfinden würde. „Du weisst, man erwartet, dass du mitgehst. Unser Chef organisiert das Ganze und bis jetzt haben sich 73 Pensionierte angemeldet. Der Älteste ist bereits 90 Jahre alt, wenn das nur gut kommt“, grinste Ulla. „Wohin geht es schon wieder? Habe die Einladung verlegt…“, schaute Vivienne ihre Assistentin fragend an. Dann suchte sie vergeblich in einer ihrer Pultschubladen danach. Ulla trat ans Pult, öffnete eine andere Schublade und zog die Einladung heraus. „Voilà, hier ist sie.“ Nur zu gut kannte sie Viviennes chaotischen Ordnungssinn und wusste meist, in welcher Schubladenecke diese ihre Unterlagen verlegt hatte. „Was würde ich nur ohne Dich machen?“ bedankte sich Vivienne lachend. Dann las sie in Ruhe die Eckdaten des Ausflugs durch, die aufzeigten, wie sich der Tag gestalten würde. Frühmorgens Abfahrt in zwei Bussen Richtung Luzern und danach über den Brünigpass nach Brienz im Berner Oberland. Von dort weiter zum Ballenberg, einem naturhistorischen Museum, von dem sie noch nie etwas gehört hatte. Als Ostschweizerin war das Berner Oberland für sie so etwas wie „Ausland.“ Ulla klärte sie auf, dass es sich beim Naturmuseum um einen riesigen Waldpark in den Bergen handle. „Dort stehen landestypische alte Häuser aus allen Regionen der Schweiz, die den Besuchern das Leben „anno dazumal“ authentisch nahebringen.“ „Ich hasse Busfahrten“ liess sie Ulla wissen. „Und wenn es denn sein muss, möchte ich gerne vorne sitzen, dann fühle ich mich nicht so eingeengt.“ „Geht klar, ich organisiere das für dich“ beruhigte Ulla sie.
Am Ausflugstag versammelten sich alle Pensionierten und die Begleitpersonen vor den beiden parkierten Bussen. Bevor es ans Einsteigen ging, bat Konrad Koch seine heimlich Angebetete, neben ihm in der vordersten Reihe Platz zu nehmen. Während der ganzen zweistündigen Reise ins Berner Oberland benutzte der Personaldirektor die Gelegenheit, um seiner Mitarbeiterin einiges aus seinem bisherigen Leben zu erzählen. Er wuchs in der Nähe von Bern als Sohn eines Bäckermeisters auf und kannte die landschaftlich reizvolle Gegend, durch die sie der Bus nun führte, wie seine Westentasche. Mied Vivienne früher seine Gesellschaft, fühlte sie sich während der Fahrt in seiner Nähe geborgen und vertraut, wie niemals zuvor zusammen mit einem anderen Mann. Es schien ihr, als würden sie sich bereits seit sehr langer Zeit kennen und es war ihr ein Rätsel, warum sie so fühlte.
Spätabends, um viele neue Eindrücke reicher, kehrte die Reisegesellschaft wieder zum Ausgangspunkt zurück und nachdem alle ausgestiegen waren und sich verabschiedet hatten, machte sich Vivienne so rasch als möglich aus dem Staub, vor allem auch, um der Nähe ihres Chefs zu entfliehen. Während dieses Tagesausflugs spürte sie einmal mehr eine Vertrautheit, die sie sich nicht erklären konnte. ‚Zur Erinnerung, Vivienne‘ mahnte sie ihre innere Stimme ‚der Mann ist verheiratet, zudem dein Chef und 15 Jahre älter als du.‘ Das Alter wäre für Vivienne das kleinste Problem gewesen, denn seit jeher war sie der Meinung, dass ein älterer Partner besser als ein gleichaltriger zu ihr passen würde. Doch ein verheirateter Mann und erst noch ihr Chef, das wäre für sie normalerweise nicht mal eine Überlegung wert. ‚Vielleicht drängt sich nun doch ein Stellenwechsel auf?‘ Sie nahm sich vor, in den kommenden Wochen die Stelleninserate wieder genauer unter die Lupe zu nehmen.
Nach Ende der Sommerferien trat Fabian seine Lehre an und nur Wochen später zog der Herbst mit vielen nassen und nebligen Tagen ins Land. Um dem nasskalten Wetter wenigstens für ein paar Tage zu entfliehen, entschloss sich Vivienne, zusammen mit Fabian und ihren Freunden Noella und Robert nach Kreta zu fliegen. Die Vier, die einst im selben Miethaus als Nachbarn gewohnt und sich damals angefreundet hatten, freuten sich auf die Abwechslung kurz vor Wintereinbruch. Und da im Spätherbst die Hotelpreise einiges tiefer als in der Hauptsaison lagen, leisteten sie sich den Luxus eines Fünfsternehotels.
Nach dem dreistündigen Flug erreichte der Ferienflieger den Flughafen von Heraklion. Während sie am Gepäckband auf ihre Koffer warteten, nahm sich Vivienne vor, nicht eine Sekunde an die Schweiz, Konrad Koch oder ihre Arbeit zu denken. Ein Taxifahrer brachte die Vier nach einer Stunde Fahrzeit mit seinem klapprigen Taxi zu ihrem Hotel, das direkt am blausten Meer aller Meere, wie Vivienne die Ägäis nannte, lag. Bereits zum vierten Mal besuchte sie die mystische Insel, die ihr ans Herz gewachsen war. Nach dem Einchecken wurden sie durch einen Pagen zu ihren Zimmern begleitet. Zu Viviennes grosser Freude lagen ihr und Fabians Zimmer etwas erhöht mit direktem Blick auf das tiefblaue Meer. Fabian wollte in der Fremde nicht allein in einem Zimmer schlafen und bevorzugte die Nähe seiner Mutter. Zudem schätzte er die Gespräche mit ihr vor dem Einschlafen. Da konnte er seine Mutter alles Mögliche fragen, was ihn gerade beschäftigte, für das zuhause kaum Zeit blieb. Noellas und Roberts Bungalow mit grossem Sitzplatz und schattenspendendem Feigenbaum lag im Park der grossen Hotelanlage. Die Vier vereinbarten, das Frühstück unter dem Feigenbaum einzunehmen, statt im grossen Speisesaal. Vivienne verabscheute den morgendlichen Kampf am Frühstücksbuffet und ihren Reisegefährten ging es ebenso. Doch zuerst wollten die Vier nun ihre Koffer auspacken und sich noch etwas hinlegen nach der langen Reise. Für Robert war es mit seinen 45 Jahren die erste Flugreise und Noella war ihrer Freundin dankbar, dass sie ihn dazu überreden konnte. „Vielleicht kommt mein Mann so auf den Geschmack und will nicht immer nur mit dem Auto nach Italien in die Ferien verreisen“, flüsterte sie Vivienne kurz vor dem Abflug zu. Tatsächlich überstand Robert seinen ersten Flug ohne Zwischenfälle und dies hatte wahrscheinlich auch mit den hübschen Flugbegleiterinnen zu tun, von denen er sich gerne umsorgen liess.
Langsam ging die Sonne unter und ein kühler Wind wehte vom Meer her. „Hast du deine warme Jacke dabei?“ fragte Vivienne ihren Sohn. „Klar doch, hast du mir ja aufgeschrieben. Ich habe genau das eingepackt, was auf deinem Zettel stand. Wenn ich also etwas vergessen habe, bist du schuld, weil du es nicht aufgeschrieben hast.“ „So, so und wie wäre es mit mitdenken?“ fragte Vivienne lehrmeisterlich zurück. „Oh, Mami, musst du immer so empfindlich reagieren? Ich habe doch nur Spass gemacht“ redete sich Fabian heraus, als er feststellte, dass seine Bemerkung alles andere als gut ankam. „Du bist in letzter Zeit immer so gereizt und gehst wegen jedem Mucks in die Luft. Stimmt irgendwas nicht?“ wollte er von seiner Mutter wissen. „Alles in Ordnung, ich brauch einfach Ferien, das ist alles“ versuchte sie ihn zu beruhigen. Doch so wirklich glaubte Fabian nicht, dass mit seiner Mutter alles in Ordnung war. Sie wirkte ernster als sonst und war gedanklich immer mal wieder abwesend. „Komm, wir gehen noch kurz ans Meer und nehmen ein Bad. Danach duschen wir und ziehen uns was Schönes an. Du deinen neuen Pullover, ich mein neues Kleid“, versuchte Vivienne abzulenken. Sie hatte absolut keine Lust darauf, ihrem Sohn zu erklären, was sie seit Wochen beschäftigte.
Zwei Stunden später trafen die beiden in der Hotelhalle ihre Freunde und nach dem Aperitif in der Bar ging es zum Speisesaal, wo sie vom Chef de Service persönlich begrüsst und zu ihrem Tisch begleitet wurden. Nach einem typisch kretischen Nachtessen mit viel Gemüse, gewürzten Joghurtsaucen und Fisch besuchten sie die hoteleigene Disco, um zu tanzen. Weit nach Mitternacht verabschiedeten sich die Vier voneinander und freuten sich auf das gemeinsame Frühstück am nächsten Morgen unter dem Feigenbaum. „Zuerst schlafen wir aber richtig aus und ich bestell das Frühstück erst auf 10 Uhr. Ist das okay für euch?“ wollte Vivienne von ihren Freunden wissen. „Klar, 10 Uhr ist perfekt“ meinte Noella.
Doch mit Ausschlafen wurde nichts, weil bereits um 7 Uhr das Telefon klingelte. Schlaftrunken und mit Blick auf die Uhr, nahm Vivienne den Hörer ab. „Ja?!“ fragte sie ungehalten. Zu ihrem grossen Erstaunen war ihr Chef dran und erkundigte sich nach ihrem Befinden. ‚Er hat wohl nicht daran gedacht, dass Kreta in einer anderen Zeitzone liegt und wir hier erst 7 Uhr haben‘ überlegte Vivienne kurz. Obwohl, auch 8 Uhr war ihrer Meinung nach während Ferien zu früh, um angerufen zu werden. Dies sah Fabian genauso und wollte mit vorwurfsvollem Blick wissen, wer dran war. Vivienne gab ihm vorerst keine Antwort und wechselte ein paar Worte mit dem unerwarteten Anrufer. „Uns geht es gut, danke. Eigentlich wollten wir heute etwas ausschlafen, doch daraus wird wohl nichts mehr“, konnte sie sich nicht verkneifen zu bemerken. „Ich bin nachher den ganzen Tag an Sitzungen und darum habe ich dich bereits zu früher Morgenstunde angerufen. Tut mir leid, wenn ich euch geweckt habe“, entschuldigte sich Konrad Koch halbherzig. Er war ein wenig beleidigt, dass sich seine Angebetete nicht über den spontanen Anruf freute und was ihn besonders ärgerte, war die Tatsache, dass sie ihn immer noch siezte. Vivienne verabschiedete sich wieder und bedankte sich dann doch noch für den Anruf. Als sie den Telefonhörer auflegte, fragte Fabian aufgebracht: „Mami, warum ruft der dich denn an, steht er etwa auf dich?!“ Fabian mochte den Chef seiner Mutter nicht besonders, obwohl er es ihm zu verdanken hatte, dass er bis zu Lehrbeginn an seinen freien Nachmittagen in einer der mechanischen Werkstätten der Firma Matter etwas Sackgeld verdienen durfte. Dafür war er Konrad Koch sehr dankbar. Doch sein distanziertes und oft mürrisches Wesen fand er alles andere als akzeptabel. Vivienne versuchte ihrem Sohn den Grund des Anrufs so plausibel als möglich zu erklären. „Herr Koch leidet sehr unter der Geschichte mit Charlottes Herzstillstand. Sie wird für den Rest ihres Lebens im Zustand eines acht Monate alten Kindes bleiben. Darum benötigt er etwas Zuwendung und Verständnis.“ „Bekommt er von seiner Frau keine Zuwendung?“ wollte Fabian wissen. Er kannte Elena Koch und verstand nicht, warum deren Mann Zuwendung von seiner Mutter erwartete. „Ich weiss es nicht, Fabian.“ gab Vivienne kurzangebunden zur Antwort. „Versuchen wir noch ein Stündchen zu schlafen.“ Doch sie fand keinen Schlaf mehr und fragte sich, wie sie sich künftig ihrem verheirateten Chef gegenüber verhalten sollte. Sie mochte ihn und fühlte sich wohl in seiner Nähe. Doch sie kannte sich selbst nur zu gut, um zu wissen, dass sie einen Mann niemals mit einer anderen Frau teilen würde. Und noch viel weniger wollte sie, dass ein Mann wegen ihr seine Frau verlassen würde. ‚Weg mit den grüblerischen Gedanken, nun will ich meine Ferien geniessen und alles vergessen, was mich daran hindern könnte!‘ nahm sie sich vor. Doch so richtig gelang ihr das nicht und sie ertappte sich dabei, wie ihre Gedanken immer wieder zu Konrad Koch abschweiften.
Fünf Tage nach seinem überraschenden Anruf war der harmonische und unbeschwerte Urlaub vorbei. Am Abreisetag Ende Oktober feierte Noella ihren 40. Geburtstag, vier Tage bevor Konrad Koch seinen 50. Geburtstag feiern würde. Vivienne schenkte ihrer Freundin eine Brosche und überlegte sich auf dem Rückflug, ob sie ihrem Chef ebenfalls ein Geschenk zu seinem runden Geburtstag machen sollte. ‚Vielleicht zusammen mit Ulla? Das wäre unverfänglicher. Ich frag sie um ihre Meinung, sobald ich wieder bei der Arbeit bin,‘ nahm sie sich vor.
Am Morgen des ersten Arbeitstags konfrontierte Konrad Koch seine engste Mitarbeiterin mit seinem Liebesgeständnis. Vivienne ging nicht weiter darauf ein, weil in ihrem Büro ein Kandidat für ein Vorstellungsgespräch wartete. Sie war froh, dass sie auf diese Weise ihrem Chef aus dem Weg gehen konnte und ihm die Antwort auf sein Geständnis vorläufig schuldig blieb.
Abends wieder zuhause überlegte sie sich, ob es wohl echte Liebe war, die da zwischen ihnen keimte. ‚Von meiner Seite her eher nicht.‘ Statt Schmetterlinge im Bauch verspürte sie beim Gedanken an eine Liebesbeziehung mit Konrad Koch ein flaues Gefühl im Magen. Genau gesehen war Vivienne in ihrem Leben noch nie bis über beide Ohren verliebt gewesen. In den Partnerschaften mit Bruno oder Richard wuchs die Zuneigung mit der Zeit aus der Freundschaft heraus. So richtig verliebt zu sein, hatte sie sich als Jugendliche ganz anders vorgestellt und insgeheim hoffte sie, dass sie trotz ihrer bald 36 Jahren doch noch irgendwann dem Märchenprinzen begegnen würde, der sie wach küsste. Darunter verstand sie einen Mann, der sie auf Händen trug, mit dem sie durch dick und dünnen gehen konnte, der sie ohne Vorbehalte liebte, so wie sie ihn. ‚ Beruflich gesehen, sind Konrad Koch und ich unbestritten ein sehr gutes Team und ergänzen uns perfekt. Er lässt mir genügend Spielraum und teilt mir ab und zu auch seine Wertschätzung mit. Doch leider steht ihm sein eigenbrötlerisches Wesen und sein Zynismus im Weg, was den Umgang mit ihm nicht eben leichtmacht. Und…er ist gebunden…!‘
Am nächsten Morgen wachte Vivienne wie immer unter der Woche um 6 Uhr früh durch das Klingeln ihres Weckers auf. Um richtig wach zu werden, machte sie zuerst einige Gymnastikübungen und ging währenddessen gedanklich ihren Terminplan für den laufenden Tag durch. ‚Ich muss meinem Chef soweit als möglich aus dem Weg gehen und meine Energie voll und ganz auf meine Arbeit konzentrieren. Seine Lebensgeschichte und sein Schicksal müssen mir egal sein. Wenn er Hilfe benötigt, soll er sich diese bei seinem Arzt, Apotheker oder wo auch immer holen.‘
Nach der Morgentoilette und einem kurzen Frühstück ging sie ins Geschäft, wo viel Arbeit auf sie wartete. Ihren Chef bekam sie kaum zu Gesicht, weil auch sein Tagesplan eng getaktet war.
Am späten Abend wieder zu Hause, nahm Vivienne vor dem Abendessen ihr übliches Bad, um sich vom stressigen Tag zu erholen. Sie blätterte währenddessen ein paar Seiten in der „Elle“ durch, doch es gelang ihr nicht wirklich, sich auf die Zeitschrift mit den neuesten Modetrends zu konzentrieren. ‚Es kann nicht sein, dass ich ständig an Konrad Koch denke, obwohl ich das gar nicht will,‘ überlegte sie ärgerlich. Sie hörte, wie Fabian nach Hause kam und nach ihr rief. „Bin im Bad und komme gleich runter, um das Abendessen zu kochen!“ rief sie ihm durch die Badezimmertüre zu. Zehn Minuten später stand Vivienne in der Küche und bereitete das Essen vor. „Mami, du wirkst so abwesend. Ist alles in Ordnung mit dir?“ wollte Fabian wissen, während er den Tisch deckte. „Ja alles okay, mach dir keine Sorgen“ versuchte sie ihren Sohn zu beruhigen. „Wie geht es dir, kommst du klar in der Schule?“ versuchte sie abzulenken. „Alles bestens. Was machen wir am Wochenende? Gehen wir nach Zürich oder haben wir Besuch?“ wollte er noch wissen. „Wir fahren nach Zürich zum Einkaufen und ja, abends haben wir Gäste“, liess ihn seine Mutter wissen. „Das ist gut, weil du dann keine Zeit zum Grübeln hast, gell?“ meinte Fabian etwas altklug. Nach dem Essen und Aufräumen der Küche, verabschiedete sich Vivienne ungewohnt früh zum Schlafen. „War heute ein anstrengender Tag. Statt fernzusehen, lese ich lieber noch ein paar Seiten in meinem Buch.“ Fabian wünschte seiner Mutter eine gute Nacht und ging in sein Zimmer, um Hausaufgaben zu machen. Doch er konnte sich nicht richtig darauf konzentrieren, weil er sich Sorgen um seine Mutter machte. Es passte ihm überhaupt nicht, wie sie sich von der Frohnatur zur regelrechten Grüblerin entwickelt hatte. Irgendetwas beschäftigte sie, doch er konnte nicht richtig einordnen, was: ‚Es hat sicher mit diesem Koch zu tun. Warum muss er sich ausgerechnet meine Mutter als Seelentrösterin aussuchen? Er soll Trost bei seiner Frau suchen, statt meine Mutter zu belasten.‘
Vivienne fiel es, wie oft in letzter Zeit, schwer, sich auf ihr Buch zu konzentrieren. Ob sie wollte oder nicht, KK, wie sie ihn in ihrem intimsten Freundeskreis nannte, geisterte unablässig in ihrem Kopf herum. Sie legte das Buch zur Seite, löschte das Licht und versuchte zu schlafen. Vergeblich! Ihre Gedanken kreisten weiterhin um ihren Chef. Irgendwann schlief sie ein, doch der erste Gedanken nach dem Aufwachen war einmal mehr „Konrad Koch“!