Читать книгу Wie Schneeflocken im Wind - Denise Hunter, Denise Hunter - Страница 10
VIER
ОглавлениеEden zog Micah etwas weiter vom Straßenrand weg, als ein Lastwagen vorbeidonnerte. Zwar boten die Bäume am Straßenrand etwas Schutz vor dem eisigen Wind, aber sie hatte noch nie eine so brutale Kälte erlebt. Sie vermisste zwar sonst absolut nichts von ihrem alten Zuhause, hätte aber alles gegeben für einen warmen, sonnigen Südstaatentag. Ihre Sportschuhe waren schon längst völlig durchweicht, sodass auch ihre Socken nass waren und ihre Füße sich anfühlten wie Eisklumpen.
Bei ihrer letzten Rast hatte sie Micahs Füße kontrolliert, die zum Glück noch trocken gewesen waren. Er war wirklich tapfer gewesen den ganzen Tag über, denn sie hatte so ziemlich in jedem Laden in der Stadt nach Arbeit gefragt – ohne Erfolg.
Wenigstens hatten sie kostenlos zu essen bekommen, denn die winzige Bibliothek feierte die Einweihung einer Erweiterung mit einem Tag der offenen Tür. Der Besuch war wegen des Wetters dürftig gewesen, aber Micah und sie hatten sich gütlich getan an den Snacks und für den Abend sogar noch ein paar Weihnachtsplätzchen eingesteckt. Darauf war sie bestimmt nicht stolz, aber es hatte sein müssen. Micah bekam bestimmt bald wieder Hunger, und sie hoffte, dass die Plätzchen eine Weile reichen würden.
Ein Auto fuhr vorbei und wich ihnen in einem großen Bogen aus. Die Sonne ging langsam unter, und es blieb ihnen jetzt nur noch eine Möglichkeit. In drei verschiedenen Geschäften hatte sie von den Besitzern erfahren, dass auf einer Weihnachtsbaumplantage eine Aushilfe gesucht wurde. Das wäre perfekt, aber die Farm mit der Plantage lag ein paar Kilometer außerhalb der Stadt, sodass sie diese Möglichkeit bis zum Schluss aufgehoben hatte. Sie hatte schon versucht, dort anzurufen, aber es war sofort der Anrufbeantworter angesprungen.
Micah entzog ihr seine Hand, und sie blieb stehen, während er sich den einen Schuh auszog.
„Was ist denn los, Jack?“, fragte sie ihn. Sie musste sich daran gewöhnen, ihn so zu nennen, und er musste sich daran gewöhnen, so zu heißen, deshalb hatte sie ihn heute sehr oft so angesprochen. „Hast du nasse Füße?“
Er schüttelte den Kopf und hielt sich an ihr fest, während er ein Steinchen aus seinem Schuh schüttelte.
„Na, wie ist denn der da hineingekommen?“, fragte sie und befühlte sicherheitshalber noch einmal seine Socke. Besorgt schaute sie dabei in den Wald, in dem es langsam dunkel wurde, während er sich den Schuh wieder anzog.
Sie fragte sich, ob sie ihre Spuren sorgfältig genug verwischt hatte oder ob Langley ihnen schon wieder auf den Fersen war. Sie musste noch einmal an ihre letzten Momente in der Schutzwohnung denken, und schon allein bei dem Gedanken bekam sie Herzrasen. Ihr Körper wurde von innen nach außen ganz kalt, und sie unterdrückte ein Zittern.
Ach, Walter, es tut mir so leid.
Jetzt nahm Micah wieder ihre Hand.
Sie zuckte zusammen und schob die Erinnerung möglichst weit weg von ihrem verletzlichen Sohn.
„Fertig?“
Als sie zehn Minuten später einen Hügel hinaufgegangen waren und um eine Kurve bogen, tauchte ein Schild auf.
„Callahan Weihnachtsbaumplantage“, stand darauf. „So, wir sind da, Mr. Jack. Und jetzt schauen wir mal, ob es hier einen Job für uns gibt.“ Das Schild war alt und rustikal mit leuchtend roten Buchstaben, aber die Beleuchtung war noch nicht eingeschaltet. Sie fragte sich, ob so spät an einem Samstagabend wohl überhaupt noch jemand im Büro war.
Sie bogen in die Auffahrt, und der frische Schnee knirschte unter ihren Füßen. Fichten in den unterschiedlichsten Größen säumten den Weg, und dahinter lag hügeliges, schneebedecktes Land, so weit das Auge reichte.
Kurz darauf gelangten sie zu einem Parkplatz, der noch nicht von Schnee geräumt war. In der Nähe des Parkplatzes stand eine große rote Scheune. Über einem Platz, wo, wie sie annahm, demnächst die bereits geschlagenen Bäume präsentiert werden würden, waren Lichterketten gespannt, die aber ebenfalls noch nicht eingeschaltet waren.
„Sieht so aus, als ob geschlossen ist. Wir versuchen es einfach mal im Haus. Die Frau in dem Laden hat gesagt, es wäre am Ende der Auffahrt.“
Bitte, Gott. Ich weiß, ich habe dich in letzter Zeit um ziemlich viel gebeten, aber ich brauche diesen Job unbedingt.
Doch selbst wenn sie ihn bekäme, würde das noch nichts an ihrer momentanen Notlage ändern. Es würde mit Sicherheit eine Woche dauern, bis sie ihren ersten Lohn bekäme, und wovon sollten sie bis dahin leben? Und wo sollten sie unterkommen?
Hör nicht auf zu glauben, Eden.
Ab und zu hörte Eden in ihrem Kopf Karens Stimme, so als wäre sie noch bei ihr. Diese ganz normalen, unkomplizierten Tage schienen schon so weit weg, so lange her, fast wie aus einer völlig anderen Welt. Karen wäre bestimmt sehr traurig über all die schlechten Entscheidungen, die Eden getroffen hatte.
Und du siehst ja auch selbst, wie weit sie dich gebracht haben!
Micah blieb plötzlich stehen und zeigte nach links. Ein schmaler Weg führte zu einem Schuppen aus Holz, aus dessen Dach ein Rohr ragte. Der Weg dorthin war ebenfalls nicht geräumt, und es waren auch keine Spuren darauf zu sehen.
„Ich glaube nicht, dass es das ist, Jack“, sagte sie.
Sie gingen also weiter die kurvige Auffahrt hinauf, und nachdem sie noch einmal eine kleine Steigung hinaufgegangen waren, sahen sie in der Senke dahinter ein Haus. Es war ein zweigeschossiges Farmhaus mit einer breiten, einladenden Veranda davor. Eden stieß einen leisen Seufzer aus, als sie die Fenster sah, hinter denen behagliches Licht zu sehen war.
Sie warf noch einmal einen Blick auf ihre Uhr, die billige, die sie erworben hatte, nachdem sie ihre Cartier-Uhr verkauft hatte. Es war fast Abendessenszeit – aber wenigstens war jemand zu Hause.
Kurz darauf stapften sie die Verandatreppe hinauf. Sie zog Micah ganz nah an sich heran und rieb seine Arme schnell und fest, um ihn warm zu halten, während sie gleichzeitig versuchte, ihre steifgefrorenen Zehen zu bewegen. „Alles in Ordnung, Jack?“
Er nickte. Seine Wangen waren gerötet, und seine Nase lief.
Sie streckte die behandschuhte Hand zur Klingel aus, aber im selben Moment ging auch schon die Tür auf. Sie trat einen Schritt zurück und zog Micah noch näher an sich heran.
Ein Mann blieb abrupt in der Tür stehen und zog seine dunklen Augenbrauen hoch, als sich ihre Blicke trafen. Er war groß, hatte schwarzes, etwas längeres Haar, und weil er auf der Schwelle stand, wirkte er riesig.
Sein Blick ging nach unten zu Micah, und dann schaute er wieder sie an. „Hallo“, sagte er.
„Hallo“, erwiderte sie. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen, als sie sagte: „Ich wollte gerade bei Ihnen klingeln.“
Die Verandabeleuchtung warf Schatten auf sein kantiges Kinn, und das warme Licht betonte sein gutaussehendes Gesicht. Seine Augen waren so dunkelbraun, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatte. Das war vielleicht auch der Grund, weshalb sie gar nicht wieder wegschauen konnte. Das – und vielleicht auch seine Ähnlichkeit mit Keanu Reeves.
„Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein? Ich wollte gerade nach draußen“, sagte er.
Er musterte ihr Gesicht, und zum ersten Mal seit Monaten fragte sie sich, wie sie wohl aussah. Sie widerstand dem Drang, sich eine Haarsträhne, die sich gelöst hatte, wieder unter die Baseballkappe zu stecken, und hoffte, dass ihr neuer Blondton nicht allzu künstlich wirkte.
„Ich habe von Charlotte aus dem Frumpy Joe’s erfahren, dass Sie Jobs für Aushilfen auf der Weihnachtsbaumplantage zu vergeben haben.“
Seine Mundwinkel gingen nach unten, und er schaute betrübt drein.
„Ach, das tut mir wirklich leid, aber …“
„Ich bin schwere Arbeit gewohnt“, sagte sie schnell. „Ich lerne rasch und könnte sofort anfangen.“ Wie schon am Vortag kamen ihre Worte überhastet heraus und klangen deshalb vermutlich ziemlich verzweifelt, aber sein Blick bewirkte, dass sich Furcht wie eine kalte Hand in ihr Fleisch grub. „Und ich brauche auch nur vorübergehend etwas, sodass es eigentlich perfekt passen würde. Ich bin ziemlich belastbar und stärker, als ich aussehe.“
Sie trat einen Schritt zurück, weil er aus dem Haus kam und die Tür hinter sich zuzog, und mit dem Luftstrom dabei kam aus dem Inneren des Hauses ein unglaublich köstlicher Duft nach draußen, sodass ihr Magen heftig zu knurren begann.
„Ich würde Ihnen wirklich gerne helfen, aber die Stellen, die wir zu vergeben hatten, sind schon alle besetzt“, erklärte er.
„Schade“, sagte sie, und dabei kondensierte ihr Atem, sodass sich vor ihrem Mund ein Wölkchen bildete. Als kein Job, kein Geld, kein Essen und keine Unterkunft.
„Aber lassen Sie mir doch einfach Ihre Kontaktdaten da. Wenn es mit jemandem von den Leuten, die ich eingestellt habe, nicht klappt, rufe ich Sie an. Ein paar von ihnen sind Jugendliche – und Sie wissen ja, wie das ist.“
Nein, das wusste sie eigentlich nicht.
„Außerdem sind es auch nur Teilzeitjobs, und ich bin sicher, dass Sie dafür überqualifiziert sind.“
„Sie würden sich wundern“, sagte sie und stieß ein ironisches Lachen aus in der Hoffnung, dass er nicht merkte, was für einen schweren Schlag er ihr gerade versetzt hatte.
Er schaute auf die Uhr und sagte: „Ich muss jetzt wirklich los. Ich bin schon spät dran.“ Dann schaute er hinüber auf die Seite des Hauses, wo ein alter roter Pickup und ein Ford Explorer nebeneinanderstanden. „Sind Sie zu Fuß den ganzen Weg aus der Stadt hier herausgekommen?“
„Ja“, antwortete sie und versuchte, begeistert zu klingen, so als wäre der flotte Marsch das Highlight ihres Tages gewesen. „Sehr malerisch … sehr waldig. Es ist wunderschön hier.“
Er zog eine Augenbraue hoch und sah noch einmal auf Micah hinunter.
Sie zog ihren Handschuh aus, um ihre Daten aufzuschreiben, und merkte erst da, dass sie ja gar nichts zum Schreiben dabeihatte. „Haben Sie vielleicht einen Stift?“
„Ich kann die Nummer auch gleich in mein Handy eingeben“, sagte er und zeigte ihr sein Handy. „Ich heiße übrigens Beau. Beau Callahan.“
„Kate“, stellte sie sich vor, und wenn sie die Hand, die er ihr gab, ein bisschen zu lange festhielt, dann nur, weil sie so schön warm war. „Und das hier ist Jack“, fügte sie noch hinzu.
„Hallo, Jack“, begrüßte er auch den Jungen.
Und dann nahm Beau sein Handy und sah sie erwartungsvoll an.
Ach du liebe Zeit. Was hatte sie sich denn nur gedacht? Sie hatte doch gar keine Handynummer. Ja, sie hatte nicht einmal eine Adresse. Sie merkte, wie sie rot wurde, und wand sich unter seinem direkten Blick. „Ach – wissen Sie was? Am besten rufen Sie in dem Café an, wenn wieder irgendetwas frei wird. Im Frumpy Joe’s.“ Sie würde dort einfach jeden Tag nachfragen. Vielleicht sogar stündlich. „Hinterlassen Sie die Nachricht dann doch bitte bei Charlotte, ja?“
„Klar, das kann ich machen. Sind Sie mit den Duprees verwandt?“
„Äh …. nein“, antwortete sie rasch.
Er steckte sein Handy wieder in die Tasche, holte seine Autoschlüssel heraus und fragte: „Soll ich Sie wieder mit zurück in die Stadt nehmen? Ich fahre jetzt nämlich dorthin.“
Er war ja anscheinend ganz nett, aber das war Antonio auch gewesen. Und Langley ebenfalls. Sie vertraute seitdem niemandem mehr, und schon gar nicht ihrem eigenen Urteil.
Sie griff nach Micahs Hand, ging zur Verandatreppe und antwortete: „Nein, vielen Dank. Wir kommen schon zurecht.“
Die Stelle zwischen seinen Augenbrauen kräuselte sich, und er sagte in besorgtem Ton: „Aber es wird bald dunkel, und es gefällt mir gar nicht, dass Sie ganz umsonst hergekommen sind.“
„Machen Sie sich darüber bloß keine Gedanken“, entgegnete sie, aber fünf Minuten später fragte sie sich, ob diese Entscheidung richtig gewesen war, denn sie zitterte so heftig, dass ihre Zähne klapperten. Micah hatte angefangen zu quengeln, und sie hatten noch nicht einmal die lange Auffahrt zurück zur Hauptstraße hinter sich. Wie sollten sie es da den ganzen Weg zurück in die Stadt zu ihrem Auto schaffen?
„Ach, mein Kleiner. Mir ist auch so kalt“, sagte sie.
Und hungrig war sie ebenfalls, aber das erwähnte sie lieber nicht, weil er seinen eigenen Hunger vielleicht noch gar nicht bemerkt hatte. Beau hatte recht. Die Sonne war hinter den Hügeln verschwunden, und es wurde dunkel. Der Weg zurück in die Stadt war weit, das Café schloss um sechs, und sie bezweifelte, dass es in der Kleinstadt etwas gab, das länger geöffnet hatte. Sie hatte eine kleine Kirche gesehen, aber die war sicher verschlossen, und eine Obdachlosenunterkunft gab es wahrscheinlich auch nicht. Dafür war die Stadt einfach zu klein.
Herr … Gott. Jetzt wünschte sich Eden Martelli schon eine Obdachlosenunterkunft. Wie hatte es nur so weit kommen können?
Wieder wimmerte Micah, und sie beugte sich nach unten, um ihn auf den Arm zu nehmen.
„Na, brauchst du eine Pause, Jack?“
Er legte sein Gesicht an ihren Hals, und sie spürte den Gegensatz zwischen seinen kalten Wangen und dem warmen Atem. Als sie endlich wieder die Hügelkuppe erreicht hatten, taten ihr die Arme und der Rücken weh, ihre Lunge brannte, sie spürte ihre Zehen nicht mehr und blieb keuchend und völlig außer Atem stehen. Sie beugte sich noch einmal nach vorn, um Micah wieder abzusetzen, aber er klammerte sich wimmernd an ihrem Hals fest. Der arme Kleine.
Du kannst dich nicht einmal richtig um deinen Sohn kümmern. Was bist du bloß für eine Mutter?
Doch sie verscheuchte diese Stimme in ihrem Inneren, ging neben Micah in die Hocke und schloss ihn in die Arme. Solange sie nachdachte, konnte sie ihn ebenso gut auch wärmen.
Sie schaute sich in der immer dunkler werdenden Gegend um, so als könnte wie durch Zauberhand plötzlich eine Blockhütte auftauchen. Es war unmöglich, es zu Fuß bis ganz zurück in die Stadt zu schaffen, und Micah musste unbedingt aus der Kälte raus. Auf dem Hinweg waren sie zwar an ein paar Häusern vorbeigekommen, aber sie würde sich hüten, irgendwelchen Fremden zu vertrauen.
Ein Stückchen weiter die Straße entlang fiel ihr dann plötzlich wieder der Schuppen ein, an dem sie vorbeigekommen waren. Er war sehr klein und wahrscheinlich auch verschlossen, aber wenn es sein musste, würde sie eben ein Fenster einschlagen. Sie würde es Beau Callahan irgendwann wieder ersetzen.