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FINALE

Sauber!

Jetzt hat er ja eine goldene. Gerd Schönfelder zieht sich das Band über den Kopf und sieht die Medaille an. Schön rund – das ist ja nicht mehr selbstverständlich in den modernen Zeiten. Es hat auch schon Medaillen in Schneeflockenform gegeben, eckig und spitz. Aber diese ist matt golden, mit einem futuristischen Muster in noch matterem Ton, sie hat die Form eines Autorückspiegels und wirkt beruhigend einfach. Die Oberfläche ist gewellt. Sechs Gramm Goldlegierung, der Kern ist recyceltes Metall aus Fernsehgeräten und Computern. Die Künstlerin kommt aus der Region und hat einen guten Job gemacht.

Das also ist Gold Nummer 13.

Schöne Medaille, wirklich.

Man hat sie dem Gerd auf dem Dorfplatz von Whistler in Kanada um den Hals gehängt. Dann haben sie die Deutschlandhymne gespielt. Gerd Schönfelder war ein bisschen ergriffen, aber wirklich nur ein bisschen. Er hat breit gegrinst und an seine Frau gedacht. Die ging daheim im oberpfälzischen Kulmain mit dem Kind im Bauch in die letzten Tage der Schwangerschaft. Sie war eine wunderbare Frau – ließ ihn hier das 13. olympische Gold seiner Karriere gewinnen, sagte hernach am Telefon, jetzt solle er sich auf die Abfahrt konzentrieren – die sei der Punkt auf dem i.

Dieses Gold hat er schließlich »nur« im Riesentorlauf gewonnen. Damit hat man rechnen können. Da konnte ihm keiner das Wasser reichen. Dem Riesenslalomfahrer Schönfelder konnte eigentlich nur der Gerd Schönfelder im Weg stehen.

Es war nicht ganz einfach gewesen. Vor ihm hatten sich bereits mehr als 80 Konkurrenten durch die Tore gekämpft. Zwischendurch immer wieder Regenschauer. An eine Ideallinie war da nicht mehr zu denken gewesen. Schönfelder, ein Baum von Mann, brauchte auf der ruppigen Piste viel Kraft. Aber er hatte die Strecke gut besichtigt und sich einen Plan B zurechtgelegt. In den schwierigen Passagen ist er beherrscht gefahren, die schnellen Kombinationen hat er ausgekostet. Es waren zwei kraftvolle Durchgänge. Keine Fahrten, die er genoss. Nervenaufreibende Auftritte im Grenzbereich. Ein Augenblick der Fahrlässigkeit – und die Sache wäre verloren gewesen.

Schönfelder hat sich konzentriert bis zum letzten Tor, bis zum Abschwingen im Zielraum. Bestzeit in beiden Läufen. Kleine Zeremonie im Stadion. Ein paar Sätze für die begeisterten Fernsehmenschen. Mühseliger Auftritt bei der Dopingprobe.

Der Bus bringt den Olympiasieger zum Athletendorf. Dort muss er sich ausweisen und filzen lassen – nein, die Security-Leute machen bei einem Goldgewinner keine Ausnahme. Schönfelder stiefelt zum Appartement. Duscht schnell. Legt die Ausgehuniform der deutschen Nationalmannschaft an (hellblaue Bogner-Weste, weiße Thermohose, Schuhe, Mütze).

Dann latscht er wieder zum Shuttle, das ihn zur offiziellen abendlichen Zeremonie bringen soll, bei der alle Tagessieger geehrt werden.

Nein, tut er nicht. Er ist ja nicht blöde: Sieger gehen am Abend meist leer aus. Sie werden gefeiert und hofiert – und wenn sie durch sind mit den Siegerritualen, gibt’s nichts mehr zum Essen.

Das kennt er schon.

Also marschiert er zu McDonald’s und holt sich ein Menü mit vielen Pommes und einer großen Cola. Dann erst ab zum Bus und während der Fahrt die Kalorien reingepresst.

Nun kann er das Feiern genießen.

Der Sprung auf die Mitte des Podests. Die Gratulationen des Zweiten und Dritten. Eine halbe Drehung, dann kann Schönfelder die Fahnen sehen. Nationalhymne. Die letzten Akkorde verklingen in der jungen Nacht, die Fotografen beginnen zu rufen: »Gerd, schau hierher! Gerd, lächeln! Zeig uns die Medaille!«

Er legt die Zähne frei und bietet ihnen sein bestes breites Lächeln. Er beißt in die Goldmedaille. Er hat das markante Gesicht eines Kerls, dem das Siegen leichtfällt und der sich und sein Glück genießt.

Danach führen sie ihn ins Deutsche Haus. Fernsehen. Radio. Die Menschen von den Zeitungen.

Andere Athleten tauchen aus der Menge auf, umarmen ihn oder klopfen ihm auf die Schulter. Menschen, die er nicht kennt, lassen sich mit ihm fotografieren und halten ihm Papier und Stift hin. Er schreibt Autogramme, hat für die Kameras ein big smile.

Gerd Schönfelder, Seriensieger und Mann der Rekorde, tut seinen Job. Irgendwann organisiert ihm jemand ein Bier, das darf schon sein. Sicher, jetzt hätte er Lust auf eine zünftige Feier. »Geht nicht«, sagt er zu seinen Begleitern. »Wird Zeit, dass wir heimkommen.«

Sie eskortieren ihn zum Ausgang. Er passiert das Buffet – das haben die Gäste des Deutschen Hauses längst abgeräumt – und denkt befriedigt, wie gut es ist, dass er wenigstens den Hamburger im Magen hat.

Nein, Feiern ist nicht gerade förderlich für einen, der am nächsten Tag wieder bereit sein muss zum Siegen.

Sie fahren durchs finstere Whistler zum olympischen Dorf. Kontrolle am Einlass. Ein Blick in den Nachthimmel – Schönfelder kann die Sterne sehen. Das ist gut so – wahrscheinlich ist am Morgen schönes Wetter, und man könnte die verschobene Abfahrt endlich durchziehen.

Er ist scharf auf dieses Rennen.

Sicher, hundemüde ist er auch. Aber wenn er an die nun anstehende Abfahrt bei den Olympischen Spielen von Vancouver 2010 denkt, wird er ganz kribbelig. Das war das Rennen, für das er sich in den vergangenen vier Jahren vor allem geplagt hat.

»Nacht!«, ruft Schönfelder ins Appartement. Aus dem Nachbarzimmer brummt Hasch, sein Servicemann: »Schlaf guat!« Der Hasch muss morgen früh raus: Sechs Paar Skier rennfertig machen, Wachs abziehen, ausbürsten, die Kanten noch einmal polieren, das Material herrichten. Ein guter Servicemann steckt den Athleten in die Schuhe und schnallt ihm die Skier unter, die er perfekt für den Tag präpariert hat. Hasch ist wahrscheinlich genauso drauf wie Schönfelder selbst. Gold gewonnen, davor Silber im Slalom – eigentlich alles gut. Aber jetzt war Abfahrt, jetzt zählen die Siege von gestern nicht mehr viel.

Gerd Schönfelder hängt die hellblaue Daunenweste und den gelben Anorak in den Schrank. Er sieht sich im Zimmer um. Alles wie gehabt. Langsam wachsen die Sachen auf dem Sofa fest. Er ist nun mal nicht der Typ, der jeden Abend alles feinsäuberlich zusammenfaltet und in die Regale legt. Zwischen den Rennen hat er nicht den Nerv dafür. Dann wirft er alles aufs Sofa, wo der Berg Formen annimmt. Stört niemanden. Das ist man so gewöhnt unter den Skifahrern. Unlängst hat der Garmischer Kollege Felix Neureuther ein Foto seiner Hotelbude ins Netz gestellt – da sah es aus wie in einem Messie-Haushalt. Und der Felix ist wirklich alles andere als ein Messie, der hat sein Leben klasse im Griff.

Aber, mal ehrlich: Wie soll man Ordnung halten, wenn man mit einem halben Sportgeschäft im Gepäck reist? Schönfelder ist von München mit drei Taschen und einem großen Rucksack zum Weltcupfinale nach Aspen und danach weiter zu den Paralympics in Vancouver geflogen.

Ein Journalist hat ihn vor Kurzem gefragt, wie aufwendig denn sein Sport sei. Wie viele Paar Skier er zu den Wettkämpfen mitnähme?

Schönfelder hatte zuerst antworten wollen, dass das keine besonders kluge Frage sei. Dann besann er sich und klärte auf: »Also ich sage immer, ich habe drei Taschen. Die für die Software, die für die Hardware und die für die Skischuhe. Software – das ist alles, was man waschen kann. Hardware – da nehme ich zu Olympischen Spielen drei Helme mit, sechs oder sieben Brillen mit unterschiedlichen Gläsern, die Rückenprotektoren, die Schienbein- und Armschoner, eine Elektrofräse zum Präparieren der Skischuhe, die Turnschuhe … Und natürlich die drei Paar Skischuhe. Die Abfahrtsschuhe sind um einiges weicher als die für den Slalom.«

Ach, staunte der Journalist. Doch so viel? Und was ist mit den Skiern?

Na, das wisse er im Augenblick gar nicht, ob der Hasch 14 oder 15 oder 16 Paar eingepackt hat. Die stünden unten in der Tiefgarage in einem eigenen Raum. Am Abend vor dem Rennen würden drei Paar präpariert. Aber darum müsse sich der Athlet nicht kümmern. Das sei ganz die Sache vom Hasch. »Der hat das im Griff wie kein anderer. Kantenmäßig ist er die Koryphäe schlechthin.«

Sauber!

Gerd Schönfelder legt die Goldmedaille auf den Tisch, nimmt den Wecker zur Hand. Er stellt ihn auf kurz vor sechs. Er hat noch gut fünf Stunden Schlaf. Der Sportler weiß, dass ihn eine eher unruhige Nacht erwartet. Er würde nicht tief in beruhigende Träume sinken. Hunderte von Abfahrten würde er in dieser Nacht simulieren. Er ist ja kein Depp – er kann sich ausmalen, was während so eines Rennens alles schiefgehen kann.

Geschwindigkeit: gut 125 Stundenkilometer

Gerd Schönfelder liegt dösend in seinem Bett und wartet auf das Klingeln des Weckers. Um halb sechs hält es ihn dann nicht mehr. Er richtete sich im Bett auf, schaltet den Wecker aus, geht unter die Dusche. Gerd Schönfelder ist bereit.

Er denkt an seine Frau und verbietet sich das Heimweh. Er sieht hinüber zu der Bayern-Fahne, die er an der Wand aufgespannt hat.

Bald ist es so weit. Es würde eine der letzten großen Fahrten seines Lebens sein. Vielleicht die wichtigste.

Da ist er also jetzt angekommen. Steht vor dem Spiegel, kämmt sorgfältig das Haar – die ersten grauen Strähnen sehen ganz spannend aus. Schönfelder begutachtet, was er sieht. Der Oberkörper ist austrainiert. Breite Brust, flacher Bauch. Kein Gramm Fett. Die Beine sind so gut in Form wie wohl noch nie in seinem Leben. Vielleicht hatte er mal eine schnellkräftigere Muskulatur, aber da war er noch ein junger Spund gewesen.

Jetzt hat er sich – schließlich ist er schon 39 und muss das Alter mit Sonderschichten und Extraübungen kompensieren – eigens auf die Wettbewerbe in Kanada vorbereitet. Hat den Körper noch einmal in Höchstform gebracht. So etwas ist immer schwer. Das schaffen nur Menschen mit einem unbeugbaren Willen.

Gerd Schönfelder putzt die Zähne. Er denkt nicht groß darüber nach, was das für ein Wunder ist. Die Tube auf der Bürste ausdrücken. Den Stiel mit dem verpflanzten Zeh und dem Daumen greifen und dann übers Gebiss führen. Schönfelder hat sehr ansehnliche Zähne, das weiß er – und er pflegt sie gründlich.

Die Hand mit der Zahnbürste zwischen der Zehe und dem Daumen fährt von links nach rechts, von oben nach unten.

Zähneputzen – es ist herrlich, das zu können.

Dann cremt er mit seinem linken Handstummel das Gesicht ein. Es würde ein sonniger Tag werden, da nimmt er einen hohen Lichtschutzfaktor. Er schraubt die Tube zu – Tube zuschrauben, was für eine wunderbare Fertigkeit.

Ein kurzer Blick zur rechten Schulter. Die Narbe zieht sich über die Flanke, die Haut sieht gesund aus, die Musculi pectorales, die Brustmuskeln, bersten fast vor Kraft.

Fehlt halt der Arm.

Aber den hat Gerd seit über 20 Jahren nicht mehr.

Es kann einen Menschen völlig aus der Bahn werfen, wenn er einen Arm verliert. Er funktioniert nicht mehr, er »begreift« die Welt nicht mehr. Der Mensch ist aus der Balance, er wird nie mehr der »Alte« sein. Ein »Schwerbehinderter« ist er. Einer, dem man helfen muss.

Gerd Schönfelder aber hat sich einen neuen Weg gebahnt. Den Arm hat er mit 19 verloren. 20 Jahre später ist er einer der erfolgreichsten Sportler des Landes.

Nun noch ein Sieg in der Abfahrt – und die Karriere wäre perfekt.

Er muss lange warten auf seinen Start. Immer wieder wird er verschoben, eine japanische Fahrerin stürzt schwer, es kommt zu großen Verzögerungen.

Gegen zwei Uhr nachmittags lässt sich Schönfelder von der Gondel zum Start bringen. Er wärmt sich auf, steigt in die Skier, von denen Hasch die letzten Flocken gebürstet hat. Schnallt die Skischuhe so eng, dass sie schmerzen. »Auf geht’s, Gerd!«, brüllt Hasch.

Er schiebt die Skier ins Starthäuschen. Bringt den Körper an der Zeitschranke in Jagdstellung. Fünf, vier, drei, zwei, eins.

Gerd Schönfelder stampft mit einem Ski in den Schnee, wirft sich nach vorn, pflügt einen Schlittschuhschritt in die Piste, noch einen und noch einen.

Nun ist er so schnell, dass Schlittschuhschritte nicht mehr helfen. Der Fahrer duckt sich in die Hocke, legt den linken Arm an die Brust und wird zum Geschoss.

Die 80 wichtigsten Sekunden seines Sportlerlebens haben begonnen.

Nach einer Minute und 14 Sekunden schießt Gerd Schönfelder, Startnummer 81, über die letzte nennenswerte Kante der Abfahrt. Geschwindigkeit: etwas mehr als 125 Stundenkilometer. Der Fahrer lässt vielleicht eineinhalb Armlängen Abstand zwischen sich und dem roten Tor links von ihm. Er lehnt sich leicht in die Kurve, der linke Arm ist vor der Brust angewinkelt, Schönfelder ist aerodynamisch in beinahe optimaler Position.

Kurz nach der Kuppe heben die Skier ab. Von links kommt die Sonne, und der Schatten rechts wird größer und gestreckter. Schönfelder wird aus der Abfahrtshocke gerissen. Sein Körper wird nach oben geschleudert, dagegen kann sich kein Mensch der Welt wehren. Schönfelder muss die Knie durchstrecken, er verliert die Richtung und wird während der Luftfahrt nach rechts abgetrieben. Immense Kräfte zerren an dem Fahrer. Er hat keine perfekte Kontrolle mehr über die Skier – die Schaufeln zeigen leicht nach innen, so darf er auf keinen Fall landen. Der Oberkörper ist leicht verdreht. Gerd Schönfelder steuert mit dem rudernden linken Arm dagegen an.

Der Arm wird hoch gerissen. Die linke Skispitze weist steil nach oben, die rechte senkt sich zur Piste hinunter. Der Skifahrer fliegt nun seit 20 Metern und hat eine Höhe von zwei Metern über Grund. Das sieht sehr gefährlich aus. Das kann böse enden.

Geschwindigkeit: immer noch gute 110 Stundenkilometer. Schönfelder streckt sich, macht sich ganz lang. Der linke Arm zeigt waagrecht zur Sonne hin. Die Skier bekommt der Fahrer gerade unter Kontrolle, schon richtet er die Enden nach unten für die Landung aus.

Schönfelders Schatten: ein krummer, langer, auf der Piste rasender Strich.

Nach 25 Metern landet er. Er ist nun 1:15,8 Minuten unterwegs.

In nicht einmal einer Zehntelsekunde duckt Gerd Schönfelder sich wieder in die Abfahrtshocke, zieht den linken Arm wieder vor die Brust, nimmt den Kopf nach unten und setzt einen Rechtsschwung an.

Nein, das ist kein Schwung, das ist eine Kurve, die der Außenski anfangs mit Gewalt in die Eispiste fräst. Dann stimmt die Richtung, und Gerd Schönfelder lässt die Skier frei. Das kann er so unnachahmlich: Bei Tempo 120 gleiten, und es staubt kein Pülverchen.

Er gleitet durch die nächste Rechtskurve, es ist die letzte Richtungsänderung dieser Abfahrt. Gerd Schönfelder ist jetzt wieder dieses Kraftpaket, das wie fürs Lehrbuch gemalt ist. Beine breit auseinander, in leichter O-Form. Das Becken lastet mit dem Körpergewicht knapp hinter der Bindung. Der Kopf steckt zwischen den Schultern, vom Helm blickt ein schnaubender Stier auf die Piste, der linke Arm rührt sich nicht von der Brust weg.

1:20,7 Minuten. Schönfelder überquert die rote Ziellinie. Er richtet sich auf und sucht mit dem Blick die Anzeigetafel. Erster. Knappe zwei Sekunden schneller als der Schweizer Brügger.

Bei Tempo 70 schnallt Gerd, dass er wieder Gold gewonnen hat. Nach links bremst er ab. Elegant sieht das aus, sehr gekonnt die Schräglage. Gerd Schönfelder fährt den Arm aus. Er kommt zum Stehen. Ballt die Faust. Schreit »Ja!«.

Dann fällt er um. Nach rechts. Dorthin, wo kein Arm ist. Er liegt rücklings im Schnee des Zielraums, blickt in den Himmel und hat die Faust noch immer geballt.

Was für ein Kraftmensch!

Was für eine Freude!

Was für ein wunderbares Bild!

Sieger

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