Читать книгу Salto Fanale - Detlef Wolf - Страница 5
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ОглавлениеDas Match endete unentschieden, wie so oft. Den Tie-Break schenkten sie sich. Denn danach mußte es einen Sieger geben. Aber auf einen so erspielten Sieg legten sie keinen Wert. Weil sie ihn als einen zufälligen ansahen. Und nur zufällig wollte keiner von ihnen gewinnen. Eine knappe Stunde hatte es gedauert, und keiner hatte sich einen entscheidenden Vorteil erspielen können. Sie waren eben beide gleich gut. Also ließen sie es einfach dabei. Schließlich war das hier kein Turnier, sondern nur ein Spaß an einem wunderschönen Sommernachmittag.
Abgekämpft und schweißnaß trafen sie sich danach am Netz, um sich, nach alter Tradition, die Hand zu reichen.
„Eigentlich sind wir ja verrückt, bei dieser Hitze Tennis zu spielen.“
Adrian Graf von Molzberg lächelte seine Freundin an. Sie war um einiges älter als er, sieben Jahre, um genau zu sein, aber das stand seiner Freundschaft zu ihr nicht im Wege. Eine Freundschaft, die nun schon siebzehn Jahre lang dauerte und begonnen hatte, als Bellinda Marquard den neugeborenen Nachbarsjungen zum erstenmal auf dem Arm gehalten hatte.
Sie hatte das Baby der Gräfin von Molzberg sofort ins Herz geschlossen, und dabei war es geblieben. Wie ein jüngerer Bruder, den sie nie hatte – sie hatte überhaupt keine Geschwister – war er anfangs gewesen, dann wie ein Bruder und Freund und schließlich wie ein Freund und Geliebter. Und da Adrian von Molzberg ebenfalls als Einzelkind aufwuchs, war es ihm genauso ergangen. Bellinda war seine Freundin und seine Geliebte. Das war einfach so. Es hatte sich so ergeben, und dabei würde es vermutlich auch bleiben.
Warum auch nicht? Bellinda war zwar um einiges älter, aber sie war eine bildhübsche Frau, der so mancher hinterhersah. Die meisten eigentlich. Sie war zwar ziemlich verwöhnt, reichlich anspruchsvoll und zuweilen nervtötend zickig, aber anspruchsvoll und verwöhnt war er auch, und ihrer Zickigkeit begegnete er mit der ihm eigenen Arroganz, die er von seinem Vater geerbt hatte und die ein hervorstechendes Merkmal seines Charakters war.
Über das seine Freundin allerdings großzügig hinwegsah. Zugunsten seiner körperlichen Vorzüge. Er war einfach ein knackiger Bengel, groß, schlank, gut gewachsen mit strohblonden Haaren und Augen, die einfach nicht wahr sein durften, so blau waren sie. Aber strahlend, strahlend waren sie nicht. Meistens blickten sie spöttisch und wenn nicht spöttisch, dann hart. Aber nur selten herzlich. Wie sie es auch jetzt nicht taten.
Aber Bellinda ging darüber hinweg. Ebenso wie über seine Bemerkung, die sich ein wenig zu sehr nach Jammern angehört hatte.
„Ach was, jetzt stell Dich nicht so an“, wies sie ihn zurecht. „Das bißchen Sonne wird Dich schon nicht umbringen. Geh unter die Dusche und nimm den Waschlappen, statt hier den Jammerlappen zu geben.“
Sie gab ihm einen kräftigen Klaps auf die Schulter und wandte sich der Damenumkleide zu.
Adrian steuerte den Bereich für die Herren an. Drinnen verstaute er den Tennisschläger in seinem Spind und zog sich aus. Seine Sachen ließ er achtlos auf dem Boden liegen. Irgendjemand würde sie aufheben, waschen und in seinem Spind deponieren. So war sichergestellt, daß er nach jedem Match frische und saubere Kleidung vorfand.
Als er wenig später die Bar des Clubhauses betrat, konnte man ihm zwar mit etwas Phantasie den Sportler ansehen, zumindest was seine Figur anging, aber ansonsten gab es keine Anzeichen dafür, daß er soeben eine schweißtreibende Stunde auf dem Tennisplatz verbracht hatte.
Er setzte sich an die Bar und bestellte sich einen Orangensaft.
Bellinda ließ auf sich warten. Wie gewöhnlich. Bei ihr war es nicht damit getan, einfach nur zu duschen und frische Sachen anzuziehen. Meke-up und Frisur kamen hinzu und nahmen für gewöhnlich geraume Zeit in Anspruch. Adrian war schon dabei, sich ein Taxi zu bestellen, als sie endlich auftauchte.
„Ich muß unbedingt wieder zum Friseur, meine Haare sind total verfilzt“, sagte sie entschuldigend.
„So, sind sie das“, antwortete Adrian und warf einen kritischen Blick auf ihre Frisur. „Kann ich nicht finden“, erwiderte er. „Jedenfalls nicht die auf Deinem Kopf.“
Sie gab ihm einen Stoß vor die Brust. „Sei nicht albern, Adrian.“
Er grinste anzüglich und gab dem Barkeeper ein Zeichen, der ihnen sofort ein Glas frisch gepreßten Orangensaft servierte.
„Kommst Du noch mit zu mir?“ fragte sie, nachdem sie den ersten Schluck genommen hatte.
„Wenn Du willst“, antwortete er und bemühte sich, seiner Stimme einen gleichgültigen Ton zu geben.
„Ich will doch immer, das weißt Du doch“, gab sie zurück.
„Ja dann“, machte er gedehnt, „will ich mich dem Willen einer begehrenswerten Frau natürlich nicht widersetzen.“
Sie lachte. „Jetzt tu doch nicht so, als ob Du’s nicht auch wolltest.“
„Und wie ich es will. Ich liebe es, in Deine Wohnung zu kommen. Der phantastischen Aussicht wegen. Auf die Alster. Unter anderem.“
„Na ja, für das ‚unter anderem‘ sind die Aussichten aber auch nicht schlecht“, gurrte sie.
„Worauf warten wir dann noch?“ fragte er und leerte sein Glas in einem Zug.
Sie verließen die Bar ohne zu zahlen. So wie jedesmal. Um solche Kleinigkeiten brauchten sie sich nicht zu kümmern. Die Rechnung würde am Ende des Monats an ihre Väter geschickt werden.
Auf dem Parkplatz steuerten sie ein weißes Porsche Cabriolet an, das Bellinda zu ihrem letzten Geburtstag von ihrem Vater geschenkt bekommen hatte. Sie hatte den Schlüssel entgegengenommen, ohne sich über die Monstrosität dieses Geschenks auch nur einen Gedanken zu machen. Vielmehr war sie der Meinung, es gehöre für jemanden wie sie einfach dazu, mit einem solchen Sportwagen ausgerüstet zu sein.
Ebenso wie die Dachwohnung in Pöseldorf mit einem uneinsehbaren Balkon und einem herrlichen, unverstellten Blick über die Außenalster, den Adrian zuvor bereits angesprochen hatte.
Dorthinein kamen sie nach kurzer Fahrt, und daß Adrians Bemerkung über seine Freundin als einer begehrenswerten Frau kein leeres Gerede war, bewies er ihr, indem er ihnen nicht einmal die Zeit gab, sich ihrer Kleider vollständig zu entledigen.
Irgendwann und irgendwie mußten sie es dann aber doch geschafft haben, denn als Adrian gegen Mitternacht wach wurde, fand er sich gänzlich ohne in Bellindas Bett und in ihren Armen. Vorsichtig befreite er sich aus ihrer Umarmung.
„Ich glaub, ich sollte mal langsam nach Hause gehen“, meinte er, während sie ihm verschlafen beim Anziehen zusah.
„Wieso kannst Du nicht bleiben?“
„Morgen ist Schule, und meine Mutter will, daß ich vorher zuhause gefrühstückt habe.“
„Frühstücken kannst Du doch auch bei mir“, warf sie ein. „Und dann fahren wir bei Dir vorbei und holen Deine Schulsachen.“
„Ach, Linda, das hat doch noch nie geklappt. Das einzige, was ich bei Dir zum Frühstück kriege, bist Du, und wenn wir dann mit frühstücken fertig sind, hat in der Schule die große Pause schon angefangen. Aber sowas kann ich mir im Moment nicht leisten, so wie ich dastehe. Wenn ich dieses Jahr wieder ‘ne Ehrenrunde drehen muß, bringt der Alte mich um.“
Seufzend erhob sich nun auch Bellinda aus dem Bett. „Soll ich Dich fahren?“
Unverhohlen betrachtete er die schöne, junge Frau. Dann winkte er ab. „Nee, Du, laß mal. Ich lauf lieber. Das bringt mich auf andere Gedanken. Außerdem, bis Du angezogen bist, bin ich’s wahrscheinlich schon wieder nicht mehr.“
Er kicherte leise. Dann drückte er ihr einen Kuß auf den Mund und war verschwunden.
***
Das Haus seiner Eltern am Harvestehuder Weg lag im Dunkeln, als er das weitläufige Grundstück betrat. Was ihn nicht überraschte, denn sein Vater war, wie üblich, geschäftlich irgendwo unterwegs, und seine Mutter pflegte abends nie lange aufzubleiben. So kam er unbemerkt in sein Zimmer.
Sein Zimmer, das war eigentlich ein Appartment im Dachgeschoß der alten Gründerzeitvilla, die sein Urgroßvater einst am Ufer der Außenalster hatte bauen lassen. Heinrich Graf von Molzberg war der Gründer des ‚Bankhauses Von Molzberg und Consorten‘, das heute unter dem Namen ‚Bankhaus Molzberg & Co‘ firmierte und dem nun sein Vater in dritter Generation vorstand. Es war vorgesehen, daß Adrian es in der vierten Generation weiterführen sollte. Selbstverständlich ebenso erfolgreich wie seine Vorfahren, so wurde erwartet.
Denn daß Heinrich Graf von Molzberg ein erfolgreicher Bankier gewesen war, drückte sich nicht zuletzt in diesem Haus aus, dessen oberste Etage sein Urenkel Adrian nun zu nächtlicher Stunde betrat. Er verfügte dort über ein Wohn- und Arbeitszimmer, ein Schlafzimmer und ein Badezimmer von der Größe eines stattlichen Familienappartments und ausgestattet mit allem denkbaren Komfort. Nebst dem dazugehörenden Service, denn, abgesehen von einer gewissen Unordnung auf dem Schreibtisch, befand sich das gesamte Appartment in einem makellos sauberen und ordentlichen Zustand. Darum kümmerte sich das Hauspersonal, täglich, während er in der Schule war. Das schloß selbstverständlich auch seine Garderobe mit ein, und so ließ er auch hier seine Kleidung, von der es ihm nie in den Sinn gekommen wäre, sie ein zweites Mal anzuziehen, auf dem Boden des Badezimmers zurück, nachdem er seine Abendtoilette erledigt hatte.
Das Bett war für die Nacht aufgeschlagen und ein frischer Schlafanzug bereitgelegt. Er schlüpfte hinein, legte sich hin und war sofort eingeschlafen.
Am Morgen erwachte er rechtzeitig, obwohl die Nacht kurz gewesen war.
Adrian war diese kurzen Nächte gewohnt. Es kam häufiger vor, daß er die Abende bei Bellinda verbrachte, die dann allesamt so oder ganz ähnlich verliefen wie der vergangene. Zu sagen hatten er und seine schöne Freundin sich nicht allzu viel, aber was das Körperliche anging, schwammen sie ganz auf einer Wellenlänge. Sie hatte es ihm beigebracht, sobald er als Jugendlicher dazu in der Lage war, und er war ein williger Schüler gewesen. Es bildete den Hauptpunkt ihres gemeinsamen Programms, auf dem daneben der Sport, ausgedehnte und exzessive Einkaufstouren und das Treffen mit Gleichgesinnten in den einschlägigen Szenelokalen stand. Was ebenfalls ein ums andere Mal zu kurzen Nächten führte. Nach denen er zudem oft auch unter den Nachwirkungen des Alkohols zu leiden hatte, der üblicherweise während solcher Zusammenkünfte konsumiert wurde.
Zumindest das war an diesem Tag nicht der Fall, und so hatte Adrian keine Mühe, sich rechtzeitig zum Frühstück mit seiner Mutter im Eßzimmer einzufinden.
***
Charlotte Gräfin von Molzberg war eine stille, sanfte Erscheinung von außergewöhnlicher Schönheit und herausragender Intelligenz. Niemandem wäre das aufgefallen, hätte die Tochter eines Bergmannes aus dem Ruhrgebiet nicht nach dem Abschluß der Realschule in der Essener Zweigstelle des Bankhauses ‚Molzberg & Co‘ ihre kaufmännische Ausbildung begonnen und wäre dort auch weiter tätig geblieben, so daß sie zwangsläufig dem Direktor dieses Bankhauses bei einem seiner unregelmäßigen Besuche begegnen mußte. Ihm fiel sie nämlich auf, in dem Moment, in dem er sie zum ersten Mal sah.
Bald darauf hatte er begonnen, um sie zu werben und nach geraumer Zeit damit auch Erfolg gehabt. Obwohl sie es ihm nicht leicht gemacht hatte. Zum einen war er soviel älter als sie, und zum anderen kamen sie beide aus Verhältnissen, wie sie unterschiedlicher nicht hätten sein können: hier der schwerreiche Bankier aus der prächtigen Villa an der Hamburger Außenalster und dort die Tochter eines silikosegeplagten Frührentners aus einer heruntergekommenen Bergarbeitersiedlung in Bochum-Langendreer.
Aber Oswald Graf von Molzberg hatte sie bekommen, seine Charlotte Pertzau, so wie er alles bekam, was er haben wollte, und er hatte sich gegen alle Widerstände und Einwände durchgesetzt, die ihm wegen dieser offensichtlichen Mesalliance entgegengebracht wurden.
„Ach was, wenn ein König Eduard VIII eine Wallis Simpson heiraten kann, dann kann ein Graf von Molzberg auch eine Charlotte Pertzau heiraten“, hatte er sämtliche Bedenken beiseitegewischt. „Und ich muß dabei nicht einmal auf was verzichten, während der gute Eduard gleich sein ganzes Königreich verloren hat.“
Dann hatte er seinem zukünftigen Schwiegervater auf die Schulter geklopft und verlangt: „Komm, Anton, laß uns ein Bier trinken, auf Deine wunderbare Tochter und auf ihren Vater, der das so vorzüglich hinbekommen hat.“
Daß diese Rede aufgesetzt war und ganz und gar nicht dem Befinden des Grafen entsprach, was seine Schwiegereltern betraf, hatte niemand sonst bemerkt, außer vielleicht seiner jungen Frau, die aber dazu schwieg. Er hatte es auch danach niemals deutlich werden lassen, daß er, außer mit seiner Frau, mit dem Rest der Pertzaus nichts zu tun haben wollte. Im Gegenteil. Er hatte sich vielmehr darum bemüht, ihnen das Leben so angenehm wie möglich zu machen und sich ansonsten von ihnen ferngehalten.
Obwohl sie nur wenig von dem annahmen, was er ihnen anbot. Sie entschieden sich, ihr bisheriges Leben weiterzuleben und nicht ein vermeintlich wesentlich angenehmeres und zumindest sorgenfreies Dasein in Hamburg zu genießen. Sie wollten bleiben wo und wie sie waren. Immerhin hatten sie mit Hilfe ihres Schwiegersohns ihr kleines Bergarbeiterhäuschen erworben und herrichten lassen.
Leider war es Anton Pertzau nur einige, wenige Jahre vergönnt, seinen unerwarteten Wohlstand zu genießen, dann wurde er das Opfer seiner Staublunge und der vielen Zigaretten, die er trotzdem nicht aufgehört hatte, zu rauchen. Charlottes Mutter überlebte ihren Mann um gut zehn Jahre, aber im vergangenen Jahr war auch sie gestorben.
Ihren einzigen Enkel Adrian hatte sie während dieser Zeit kaum zu Gesicht bekommen. In Bochum, im Haus seiner Großeltern, war er nie gewesen und getroffen hatte er sie lediglich bei den Geburtstagsfeiern seiner Mutter, die stets Wert darauf gelegt hatte, daß ihre Eltern und, nach dem Tod ihres Vaters, zumindest ihre Mutter dazu eingeladen wurden. Sie blieb einen oder zwei Tage in Hamburg, fuhr dann aber bald wieder zurück nach Bochum. Sie fühlte sich einfach nicht wohl in dem riesigen Haus ihres Schwiegersohns mit all dem Personal und ihrem verwöhnten, anspruchsvollen und eingebildeten Enkel, der so gar nichts von seiner Großmutter wissen wollte. Nicht einmal zur Beerdigung war er nach Bochum gekommen.
Das hatte auch sein Vater nicht getan. Angeblich hatte ihn eine unaufschiebbare Geschäftsreise daran gehindert.
So war denn Charlotte, geborene Pertzau allein ins Ruhrgebiet gereist, zur Beerdigung ihrer Mutter. Mit dem Zug diesmal und nicht mit einer chauffeurgesteuerten Limousine des Bankhauses ‚Molzberg & Co‘, die ihr normalerweise für ihre Reisen zur Verfügung stand. Gewohnt hatte sie in dem kleinen Bergarbeiterhaus, das ihr Elternhaus gewesen war und das nun ihr gehörte.
Lange hatte sie nicht gewußt, was sie damit machen sollte. Es zu verkaufen wäre ihr schäbig vorgekommen, obwohl ihr Mann sie damit bedrängte. Also hatte sie es zuerst einmal gründlich renovieren und modernisieren lassen. Jetzt war es das schönste Haus der Siedlung, die längst nicht mehr als schäbig zu bezeichnen war, denn auch die Nachbarn hatten im Laufe der Zeit ihre Häuser herrichten lassen, nachdem sie mehr oder weniger alle zu bescheidenem Wohlstand gekommen waren. Doch trotzdem es ein so schönes Haus geworden war, bewohnte es niemand. Charlotte konnte sich nicht dazu durchringen, es zu vermieten. Der Gedanke daran, daß fremde Leute in den Zimmern leben würden, die einmal die ihren und die ihrer Eltern gewesen waren, behagte ihr nicht. Zum Glück war sie nicht auf Mietzahlungen angewiesen und überdies noch in der Lage, es in einem bewohnbaren Zustand halten lassen zu können. Also ließ sie es leerstehen.
Das letzte Mal hatte sie darin gewohnt, als sie zu Allerheiligen des vergangenen Jahres die Gräber ihrer Eltern besucht hatte. Auch bei dieser Gelegenheit hatte sie alleine fahren müssen. Adrian hatte ihre Bitte, sie zu begleiten, rundweg abgelehnt und Oswald, nun ja, er zog das alljährliche Abendessen der Hamburger Bankiers dem Besuch am Grab seiner Schwiegereltern vor.
„Was soll ich da?“ hatte er gefragt. „Deine Eltern sind tot, und sie werden es bleiben, ob ich sie nun auf dem Friedhof besuche oder nicht. Aber meine Kollegen hier, die leben. Und ich will, daß sie meine Kollegen auch bleiben. Und deshalb werde ich diese Dinnerparty besuchen.“
Seine Worte hatten ihr einen ziemlichen Stich versetzt, aber in ihrer stillen Art hatte sie es hingenommen und nicht protestiert. Weder ihrem Mann noch ihrem Sohn gegenüber. Es hätte auch keinen Sinn gehabt. Ihr Mann hatte es schon immer verstanden, kompromißlos seinen Willen durchzusetzen, und sein Sohn verstand es zunehmend. Es gab wenige Dinge, die er sich von ihr noch sagen ließ.
***
Das gemeinsame Frühstück, zu dem er jetzt kam, war eines der wenigen. Den Begrüßungskuß, den er ihr gab, den gab er ihr allerdings freiwillig. Dazu mußte ihn niemand auffordern. Und auch das Lächeln, mit dem er ihr einen Guten Morgen wünschte, war nicht aufgesetzt. Es war ehrlich gemeint.
Adrian von Molzberg liebte seine Mutter. Aufrichtig. Und sogar mehr als Bellinda. Mit Sicherheit. Denn ob er Bellinda überhaupt liebte, dessen war er sich keineswegs sicher. Gut, sie verstanden sich prächtig im Bett, und man konnte eine Menge mit ihr unternehmen, aber ob er sie wirklich liebte? Und wenn schon nicht sie, wen liebte er überhaupt? Abgesehen von seiner Mutter. Aber sonst? Seinen Vater vielleicht? Schon allein der Gedanke daran war absurd. Wie konnte man einen Mann wie Oskar von Molzberg überhaupt lieben? Selbst wenn er der eigene Vater war. Wie hatte sich seine Mutter je in ihn verlieben können? Aber vielleicht hatte sie das ja auch gar nicht. Vielleicht hatte sie der Hochzeit einfach nur zugestimmt, damit sie endlich ihren Frieden hatte. Wer, außer ihr, konnte das schon wissen? Und sie würde diese Frage bestimmt nicht beantworten.
Und sein Vater? Liebte der seine Mutter eigentlich noch? Daß seine Eltern irgendwelche Zärtlichkeiten austauschten, hatte er noch nie gesehen. Vielleicht taten sie das, wenn sie miteinander allein waren, das konnte er natürlich nicht wissen. Obwohl, schließlich mußte er selbst ja irgendwie mal entstanden sein. Aber vorstellen konnte er sich das kaum. Es gab ja auch so gut wie keine Gelegenheit dazu. Die meiste Zeit war sein Vater nicht zu Hause, und wenn er es war, dann schliefen seine Eltern in getrennten Zimmern. Und über die Zeit gegenseitiger nächlicher Besuche zum Kuscheln in des anderen Bett oder mehr, waren sie vermutlich längst hinaus.
Aber das alles focht ihn nicht an, als er sich an diesem Morgen zu seiner Mutter an den Frühstückstisch setzte, nachdem er sich an dem umfangreichen Buffet bedient hatte, das die Köchin jeden Morgen für sie beide oder, in Ausnahmefällen und meistens an den Wochenenden, für ihn und seine Eltern im Eßzimmer aufbaute.
Adrian war ein guter Frühstücker. Mit Appetit verputzte er eine umfangreiche Portion Rührei mit Speck, Würstchen und Pilzen. Amüsiert sah ihm seine Mutter dabei zu, während sie sich mit einem Marmeladentoast begnügte.
„Du scheinst ja richtig ausgehungert zu sein“, stellte sie fest. „Hast Du gestern kein ordentliches Abendessen bekommen?“
„Ich war bei Bellinda“, antwortete er zwischen zwei Bissen. „Und Du weißt ja, wie weit es mit deren Kochkünsten her ist.“ Er sah sie an und zwinkerte ihr zu. „Aber bevor Du fragst, Mama, danke nein, ich will kein Schulbrot mitnehmen.“
Sie lachte. „Bist Du zum Mittagessen hier?“
„Sehr wahrscheinlich schon“, nickte er. „Bellinda wollte heute zur Uni.“ Er grinste „Ausnahmsweise mal wieder. Also rechne mal mit mir. Wenn nicht, ruf ich vorher an.“
***
Wiederum mit einem Kuß verabschiedete er sich von seiner Mutter. Draußen wartete ein Wagen auf ihn. Wenn sein Vater unterwegs war und auch sonst, wenn es sich gerade so ergab, benutzte er dessen Wagen, um sich zur Schule bringen zu lassen. So auch heute. Daß fast alle an seiner Schule sich darüber das Maul zerrissen, störte ihn nicht im geringsten. Er war Adrian Graf von Molzberg, Erbe des Bankhauses ‚Molzberg & Co‘, dem ein solcher Dienst zukam. Basta!
Entsprechend selbstbewußt schritt er durch die in lockeren Grüppchen auf dem Schulhof zusammenstehenden Mitschüler hinein ins Schulgebäude und in seine Klasse. Er grüßte niemanden und wurde von niemandem gegrüßt. Seine Klassenkameraden nahmen zur Kenntnis, daß er hereingekommen war, er aber ignorierte sie einfach. Stattdessen packte er seine Sachen aus, setzte sich und wartete ruhig auf den Beginn der ersten Unterrichtsstunde an diesem Tag, während die meisten der Anderen noch lauthals über die erledigten oder, aus welchen Gründen auch immer, unerledigten Hausaufgaben debattierten.
Adrian hatte seine Schularbeiten gemacht. Das Nötigste jedenfalls hatte er getan, bevor er sich mit Bellinda zum Tennisspielen getroffen hatte. Gerade soviel, daß er nicht Gefahr lief, in diesem Schuljahr das Klassenziel ein zweites Mal zu verpassen. Das war ihm im vergangenen Jahr passiert, nicht, weil er nicht in der Lage gewesen wäre, dem Unterricht zu folgen und den gelehrten Stoff zu verstehen, sondern weil er kein Interesse daran gehabt hatte. Er war nicht dumm, im Gegenteil, wenn er wollte, konnte er sein Gehirn zu außergewöhnlichen Hochleistungen aktivieren. Aber er hatte nicht gewollt. Er hatte einfach keine Lust auf Schule. Sie kam ihm altbacken vor, bieder und langweilig. Irgendwann hatte er den Zeitpunkt zum Beginn der Aufholjagd verpaßt, die ihn in den Jahren zuvor noch immer über die Versetzungshürde gebracht hatte, und folgerichtig war er sitzen geblieben.
Sein Vater hatte getobt. Natürlich hatte er gedroht und Sanktionen verhängt, deren Einhaltung er allerdings nicht kontrollieren konnte in der wenigen Zeit, die er zu Hause verbrachte. Also hatte Adrian sich nicht darum gekümmert, denn die Bemühungen seiner Mutter, den Erziehungsversuch ihres Mannes dem Sohn gegenüber durchzusetzen, hatte er einfach ignoriert. Immerhin hatte er darauf geachtet, seine schulischen Leistungen auf einem Niveau zu halten, das ihm die Versetzung in die nächst höhere Klasse ermöglichen würde. Besonders schwierig war das nicht gewesen, nur lästig eben, wenn alles andere einen so viel höheren Stellenwert hatte als ausgerechnet die Schule.
Auch an diesem Tag folgte er dem Unterricht aufmerksam, aber ohne sich zu beteiligen. Wurde er gefragt, wußte er die richtige Antwort. Einen Beitrag aus eigener Initiative leistete er hingegen nicht. Die Note in ‚Mitarbeit im Unterricht‘ war nicht versetzungsrelevant. Also beschränkte er seine Mitarbeit auf das erforderliche Minimum.
Im Deutschunterricht, der die ersten beiden Stunden dieses Schultages ausfüllte, allemal. Das Geschwafel des Lehrers zu den Werken der klassischen Literatur war ihm zutiefst zuwider. Wen interessierte schon, was sich die Dichter und Literaten vor ein paar Jahrhunderten beim Schreiben ihrer Werke gedacht hatten? Schnee von gestern und höchst langweilig.
Der Mathematiklehrer gab in der dritten Stunde die Mathematikarbeit zurück, die sie vor einigen Tagen geschrieben hatten. Die letzte von vieren, die in diesem Schulhalbjahr zu schreiben gewesen waren. Bei zweien davon hatte Adrian danebengegriffen, eine hatte er mit passablem Ergebnis geschafft. Diesmal war er recht zuversichtlich, eine ausreichende Punktzahl erreicht zu haben. Ausnahmsweise hatte er sich auf die Prüfung vorbereitet, denn ein ‚Mangelhaft‘ in Mathematik konnte er sich nicht leisten. Also sah er dem Ergebnis gelassen entgegen.
Er hatte sich nicht getäuscht.
„Sieht so aus, als ob Du’s dieses Jahr geschafft hättest, Molzberg“, sagte der Lehrer „Eine reife Leistung war das allerdings nicht gerade. Ich bin ziemlich sicher, daß Du das besser hättest machen können.“ Er hielt Adrian das Heft hin.
Der blickte ihn nicht einmal an und ignorierte die ausgestreckte Hand mit dem Heft darin.
„Willst Du mir Dein Heft nicht abnehmen?“ fragte der Lehrer verärgert.
Adrian lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah den Mann mit einem unvergleichlich arroganten Gesichtsausdruck an.
„Falls Sie mit mir reden, Herr Zabattkovski, mein Name ist Adrian Graf von Molzberg und ich wünsche, in korrekter Form angesprochen zu werden. Wenn Sie sich das bitte merken wollen, Herr Zabattkovski.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Also?“
Die anderen in der Klasse hielten den Atem an und warteten auf die Reaktion des Lehrers. Mit Zabattkovski war in der Regel nicht gut Kirschen essen. Je nachdem wie er drauf war, konnte er einen ganz fies zur Schnecke machen. Und heute war er ganz und gar nicht gut drauf, das hatten sie alle schon gemerkt, als er hereingekommen war. Die Klassenarbeit war nicht besonders gut ausgefallen, und er war entsprechend frustriert darüber, daß seine Bemühungen, den Unterrichtsstoff zu vermitteln, so wenig Erfolg gezeigt hatten. Es war also zu erwarten, daß die Antwort auf das unverschämte Auftreten ihres Mitschülers entsprechend heftig ausfallen würde.
Aber nichts dergleichen geschah. Wortlos drehte sich der Lehrer um, ging langsam zu der Ecke des Klassenzimmers, in dem der Papierkorb stand und ließ das Heft hineinfallen. Ebenso langsam ging er dann zu seinem Pult zurück, nahm das nächste Heft vom Stapel und händigte es seinem Besitzer aus. Ruhig und gelassen äußerte er sich zu dessen Leistung, bevor er mit der nächsten Arbeit fortfuhr.
Das hatte niemand erwartet. Trotzdem blieb die Anspannung bestehen. Die Stunde war ja noch nicht zu Ende, und was nicht war, konnte ja noch kommen. Aber es geschah nichts weiter. Am Ende des Unterichts verabschiedete sich der Lehrer wie gewohnt und ging hinaus.
Erleichtertes Aufatmen allenthalben. Normalerweise wäre dieser Vorfall jetzt Gegenstand eines lautstarken Palavers gewesen, aber da er mit Adrian Graf von Molzberg zu tun hatte, enthielt sich jeder in der Klasse eines Kommentars. Stattdessen schwiegen sie alle, zumindest bis Adrian den Raum verlassen hatte, um die Pause auf dem Schulhof zu verbringen.
Während die anderen ihm folgten, erhob sich leises Gemurmel.
Tabea Lennard ging als Letzte hinaus. Vorher allerdings nahm sie Adrians Arbeitsheft aus dem Papierkorb und verstaute es in ihrer Schultasche.