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Der schrille Pfiff des Sportlehrers beendete den Unterricht für diesen Tag. Tabea ließ den Ball ein paarmal auf den Boden springen und beförderte ihn dann mit einem gezielten Wurf in den Korb zu den anderen Bällen. Sie war ausgelaugt, müde, verschwitzt aber zufrieden. Der Sportunterricht hatte gutgetan. Sie mochte es, sich zu bewegen, nach den langen Stunden in der Klasse, in denen man nur stillsitzen konnte.

Eilig lief sie mit den anderen Mädchen in den Umkleideraum, zog sich aus, duschte und kramte nach der frischen Wäsche, die sie in ihrer Schultasche mitgebracht hatte. Adrians Mathematik-Arbeitsheft fiel ihr dabei in die Hände. Sie wollte es ihm zurückgeben, am besten unbemerkt, denn wahrscheinlich würde er es ihr mit einer abfälligen Bemerkung vergelten, wie das so seine Art war. Man konnte eben nichts mit ihm anfangen. Trotzdem hatte sie das Heft aus dem Papierkorb genommen. Er hätte Schwierigkeiten bekommen, wenn das Heft mit dem Ausleeren des Papierkorbs in den Müll gewandert wäre. Und das wollte sie nicht.

Sie konnte nicht einmal sagen, warum. Es war eben so. Sie konnte einfach nicht anders. Dabei mochte sie Adrian im Grunde überhaupt nicht. Ebensowenig wie die anderen aus der Klasse. Da waren sie sich einig, er war und blieb ein arrogantes Arschloch, von dem man sich am besten fernhielt. Klar, wenn man ihn so ansah, war er der süßeste Junge der ganzen Schule. Niemand sonst sah so gut aus wie Adrian Graf von Molzberg. Trotzdem tat man als Mädchen besser daran, sich nicht in ihn zu verlieben. Das konnte nur zu einer herben Enttäuschung führen. Abgesehen davon hatte er ja auch bereits eine Freundin. Alle wußten das, weil sie ihn gelegentlich von der Schule abholte. Mit einem Porsche-Carrera Cabrio. Dagegen konnte keine anstinken.

Am allerwenigsten Tabea. Der ein solcher Versuch auch gar nicht erst in den Sinn gekommen wäre. Aber an diesem Tag paßte sie den Grafen auf dem Schulhof vor der Turnhalle ab.

Er kam als Letzter aus dem Gebäude heraus. Bei ihm dauerte es seine Zeit, bis er sich nach dem Sportunterricht wieder für präsentierfähig hielt. Tabea ging auf ihn zu und zog dabei das Heft aus der Tasche.

„Hier, ich hab Dein Matheheft eingesammelt, damit Du keinen Ärger kriegst, wenn’s im Müll landet“, sagte sie und hielt es ihm hin.

Adrian zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Wieso interessiert’s Dich, ob ich Ärger kriege oder nicht?“

Anders allerdings als seinem Mathematiklehrer, nahm er ihr das Heft ab.

„Eigentlich interessiert’s mich nicht. Es war wohl eher so ein Reflex, daß ich’s mitgenommen hab.“

„Wär nicht nötig gewesen“, meinte er. „Die Putzfrau hätte sicherlich gemerkt, daß das Ding nicht in den Müll gehört und hätte es schon rausgenommen.“

„Und wenn nicht?“

Adrian zuckte die Achseln. „Dann wär’s halt im Müll gelandet. Wo ist das Problem? Meins ist es auf jeden Fall nicht. Ich hab’s ja nicht reingeworfen.“

Tabea sah in das hochmütige Gesicht ihres Klassenkameraden. Sie schüttelte den Kopf.

„Warum bist Du so?“ fragte sie.

„Warum bin ich wie?“ fragte er zurück.

„Warum bist Du so ein Arschloch. Oder, wenn Du keins bist, warum führst Du Dich dann ständig wie eins auf?“

„Tu ich das?“

Tabea sah ihn schief an. „Was glaubst Du wohl, warum die Anderen hier mit Dir nichts zu tun haben wollen?“

„Woher willst Du wissen, daß ich was mit den Anderen zu tun haben will?“

„Ach komm, jetzt tu doch nicht so. Du kannst mir doch nicht erzählen, daß Du das normal findest.“

„Will ich auch gar nicht. Weil’s Dich nichts angeht, was ich für normal oder nicht normal halte.“

Er stopfte das Heft achtlos in seine Tasche.

„Aber Du willst anscheinend mit mir was zu tun haben, oder?“ fragte er dabei.

Tabea sah ihn erstaunt an. „Wie kommst Du darauf?“

„Immerhin hattest Du die Absicht, mir Ärger zu ersparen. Hast Du gesagt.“

„Stimmt. Eigentlich weiß ich auch nicht wieso.“ Sie zuckte mit den Schultern. „War wohl irgendwie so’n Reflex.“

Mittlerweile waren sie langsam zum Schultor gegangen. Draußen, auf der Straße stand die große Limousine, mit der Adrian nach Hause gebracht werden sollte.

„Kann ich Dich irgendwohin mitnehmen?“ fragte Adrian unvermittelt.

Tabea war so überrascht, daß sie ihn nur sprachlos anstarren konnte.

Er lachte. „Nun steig schon ein“, forderte er sie auf und öffnete die Wagentür.

Sie wußte gar nicht wie ihr geschah, als sie sich plötzlich auf dem Rücksitz des luxuriösen Autos wiederfand.

„Rück mal, daß ich auch noch reinkomme“, verlangte Adrian jetzt, quetschte sich neben sie und schlug die Tür zu.

Während Tabea gehorsam zur Seite rutschte, gab Adrian dem Fahrer Tabeas Adresse an.

„Woher weißt Du denn, wo ich wohne?“ fragte sie, völlig überrascht, nachdem sie ihre Sprache wiedergefunden hatte.

Wieder lachte Adrian. Aber es war kein häßliches Lachen, so wie sonst. Diesmal klang es freundlich, und es klang nett, auch als er dann sagte: „Du wirst es nicht glauben, Tabea, aber ich weiß von jedem in der Klasse, wo er wohnt. Und ich kenne auch die Namen von allen.“

Ungläubig schüttelte Tabea den Kopf. „Du bist schon ein seltsamer Typ, aber ehrlich.“

„Kann gut sein“, antwortete er und sah sie lächelnd an. „Und vielleicht bin ich ja doch nicht so das totale Arschloch, für das mich alle halten.“ Er lehnte sich zurück in die Polster und sah nach vorne. „Aber sollen sie ruhig, mich stört das nicht.“

„Tut’s ja wohl“, entgegnete sie. „Sonst würd’st Du das jetzt nicht so sagen.“

„Und wenn? Wen würde das interessieren? Dich etwa?“

„Vielleicht“, antwortete sie achselzuckend.

„Und warum?“

„Das, mein Lieber, geht Dich jetzt nichts an.“ Sie lachte. „Aber ich sag’s Dir trotzdem. Fast ein Jahr bist Du jetzt schon in meiner Klasse, und ich hab mich immer mal wieder gefragt, was Du eigentlich für einer bist. Aber eine Antwort hab ich nicht gefunden.“

„Und? Hast Du’s jetzt rausgekriegt?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nee, leider nicht. Wenn Du mich eben auf dem Schulhof hättest stehen lassen, dann ja. Denn da warst Du das arrogante Arschloch, das Du immer bist. Aber dann hast Du mich eingeladen, mich nach Hause zu bringen. Und das fand ich echt nett. Und das paßt jetzt irgendwie überhaupt nicht zu dem arroganten Arschloch. Also weiß ich wieder nicht, wo ich mit Dir dran bin.“

„Blöd, oder?“ er grinste sie an. „Dein Adrian, das unbekannte Wesen.“

Er sah nach vorne, weil der Fahrer bremste und rechts an den Straßenrand fuhr.

„Wir sind da“, stellte er fest. „Also, mach’s gut. Wir seh’n uns morgen.“

Tabea nickte und stieg aus. Kopfschüttelnd sah sie dem davonfahrenden Auto nach.

„Sachen gibt’s“, murmelte sie undeutlich und kramte in ihrer Schultasche nach dem Haustürschlüssel.

***

Im Hausflur traf sie ihren Bruder.

„Na, Schwesterchen, schön fleißig gewesen?“ begrüßte er sie.

„Ja, im Gegensatz zu Dir“, gab sie zurück. „Wieso bist Du eigentlich nicht in der Uni?“

Lukas hatte im vergangenen Jahr Abitur gemacht und studierte nun an der Uni Hamburg Jura im zweiten Semester.

„Weil ich mir das aussuchen kann, ob ich hingehe oder nicht. Ganz im Gegensatz zu Dir, Schwesterchen. Und heute habe ich mir eben ausgesucht, nicht hinzugehen. Noch Fragen?“

Tabea streckte ihm die Zunge raus. Lukas konnte ein Ekel sein, aber im allgemeinen war er ganz okay.

„Sag mal, was war das eben denn für’n dicker Mercedes, aus dem Du da ausgestiegen bist?“

Hatte er es also gesehen. Das hätte jetzt nicht sein müssen, aber andererseits war ja auch nichts dabei.

„Ein Klassenkamerad hat mich mitgenommen.“

Lukas sah sie ungläubig an. „Seit wann fahren Sechzehnjährige mit solchen Wahsinns-Schlitten durch die Gegend?“

„Erstens ist der Typ schon siebzehn, weil er nämlich letztes Jahr hängen geblieben ist und deshalb in meine Klasse geht, und zweitens ist das natürlich nicht sein Auto, sondern das seines Vaters. Das er, drittens, auch nicht selber gefahren hat, sondern der Chauffeur seines Vaters. Noch Fragen?“

„Hoi-joi-joi“, machte Luckas. „Was iss’n das für einer, daß er seinen Sohn mit’m Chauffeur von der Schule abholen läßt?“

„Wie der Alte heißt, weiß ich nicht. Der Sohn ist jedenfalls Adrian Graf von Molzberg, das größte Arschloch der Schule.“

„Aha, ein Arschloch also. Und mit dem bist Du mitgefahren?“

Tabea zuckte die Schultern. „Hatte sich gerade so ergeben.“

„Na, dann kann der Kerl ja so’n Riesenarschloch gar nicht sein, wenn er Dir ‘n Lift anbietet.“

Das hat mich allerdings auch gewundert. Weil’s gar nicht zu ihm paßt.“

Tabea erzählte ihrem Bruder die ganze, komische Geschichte.

„Und deshalb weiß ich jetzt noch immer nicht: Ist er nun eins, oder ist er keins?“

„Was?“

„Na, ein Arschloch eben.“

„Tja, die Welt ist voller Mysterien“, meinte Lukas philosophisch. „Das nächste Mysterium ist: Was gibt’s zum Mittagessen?“

„Was fragst Du mich? Du solltest das doch wissen, schließlich warst Du den ganzen Morgen zu Hause. Ich war ja in der Schule.“

„Ich hab keine Ahnung“, gab er zu und warf die Hände nach oben.

„Na, dann laß uns mal nachseh’n. Vielleicht finden wir ja was.“

Tabea ließ ihre Schultasche auf den Boden fallen und ging in die Küche. Nach einem kurzen Blick in den Kühlschrank nahm sie eine große Tupperdose heraus.

„Hier ist noch Gulasch. Wir könnten uns Nudeln dazu kochen.“

„Na, denn mach mal, Schwesterchen“, grinste er. „Du weißt ja, wenn ich Nudeln koche, wird’s immer eine einzige Pampe.“

„Ja, ja, stell Du Dich nur schön dumm an. Dann machen wenigstens die ander’n die Arbeit, wie?“

„Tja“, machte er achselzuckend, drehte sich um und ging hinaus.

***

Gulasch mit Nudeln war nicht exakt das, was an diesem Mittag im Haus des Grafen von Molzberg auf dem Speiseplan stand. Vielmehr servierte das Dienstmädchen der Gräfin und dem jungen Grafen ein Tartar von der Lachsforelle and frischen Salaten zur Vorspeise, gefolgt von einem Züricher Kalbsgeschnetzelten als Hauptgericht und einer Vanillemousse mit roter Grütze zum Nachtisch.

Adrian und seine Mutter saßen sich an dem großen Tisch im Eßzimmer gegenüber und nahmen schweigend ihre Mittagsmahlzeit ein. Was hätten sie sich auch erzählen sollen? Es war ja nichts Erwähnenswertes passiert, seitdem sie sich nach dem Frühstück voneinander verabschiedet hatten. Die Sache mit dem Mathematikarbeitsheft hielt Adrian jedenfalls nicht dafür. Und auch nicht die gemeinsame Heimfahrt mit seiner Klassenkameradin Tabea.

„Was hast Du heute Nachmittag vor?“ brach seine Mutter schließlich das Schweigen, nachdem das Dienstmädchen ihr den Mokka zum Abschluß des Mittagessens serviert hatte.

Adrian zuckte die Achseln. „Nichts Besonderes“, antwortete er. „Linda holt mich nachher ab. Wahrscheinlich gehen wir in den Club zum Schwimmen.“

Lachend schüttelte seine Mutter den Kopf. „Du und Linda, Ihr seid doch wirklich unzertrennlich. Seit Du ein Baby warst, hängt sie mit Dir zusammen.“

„Na und? Wir verstehen uns eben.“ Er legte den Kopf schief und grinste. „In jeder Beziehung“, setzte er provozierend hinzu.

Seine Mutter schüttelte noch immer den Kopf. Aber sie lächelte nicht mehr. Natürlich wußte sie, daß ihr Sohn und die Nachbarstochter zusammen ins Bett gingen. Weder Adrian noch Bellinda hatten ein Geheimnis daraus gemacht. Allerdings war sie sich nicht ganz im Klaren, ob sie das gutheißen sollte. Schließlich war Adrian erst siebzehn. In dem Alter eine Freundin zu haben, war ja normal, aber mußte es gleich eine solch intime Freundschaft sein? Zumal Bellinda noch dazu um einiges älter war als er. Was, wenn sie sich plötzlich anders orientierte und ihren Teenager-Freund zugunsten eines attraktiven, gleichaltrigen Studenten, den sie zweifellos Gelegenheit hatte, an ihrer Uni kennenzulernen, einfach fallen ließ? Adrian würde das nicht so ohne weiteres wegstecken. Nach außen mochte er zwar den Eindruck erwecken, als könne ihn nichts aus der Bahn werfen, auch nicht, von seiner langjährigen Jugendfreundin verlassen zu werden, aber sie wußte genau, daß das nicht richtig war. Sie hielt ihn für sensibler, als er sich den Anschein geben wollte.

Adrian ahnte die Bedenken seiner Mutter, aber er ging darüber hinweg. Er stand auf, nickte ihr kurz zu und verschwand nach oben in sein Appartment. Die Zeit, bis Bellinda ihn abholte, nutzte er, um seine Schularbeiten zu machen.

Seine Mutter paßte ihn in der Halle ab, bevor er ging.

„Bitte komm nicht so spät, heute Abend. Dein Vater hat sich zum Abendessen angesagt, und Du weißt, er legt Wert darauf, es mit uns zusammen einzunehmen.“

Adrian schraubte die Augen nach oben. „Na schön, ich werde pünktlich sein“, versprach er seufzend.

***

„Wie ich sehe, bist Du schon beim Packen“, stellte Lukas fest, als seine Schwester die Tür zu ihrem Zimmer öffnete.

Sie hatten gemeinsam gegessen und gingen nun in ihre Zimmer.

Tabea stöhnte. „Hilft ja nix. Gut drei Wochen noch, dann sind wir hier weg. Und da hab ich gedacht, ich fang schonmal an. Du ahnst ja gar nicht, wieviel Kram sich im Lauf der Zeit so ansammelt.“

„Vielleicht solltest Du Dir bei der Gelegenheit mal überlegen, was Du alles wegschmeißen kannst“ riet er ihr. „Die ganzen Kindersachen, zum Beispiel, brauchst Du doch garantiert nicht mehr.“ Er grinste. „Oder mußt Du zum Einschlafen noch mit den Kuscheltieren schmusen?“

„Sei nicht blöde, Lukas“, raunzte sie ihn an.

Obwohl sie tatsächlich hin und wieder noch ihren Teddy mit ins Bett nahm, wenn sie mies drauf war und irgendwie Trost brauchte. Aber das mußte Lukas ja nicht unbedingt wissen.

Wegwerfen kam also überhaupt nicht in Frage. Schon gar nicht den Teddy. Aber auch die anderen Kuscheltiere nicht, von denen sie eine Menge besaß. Aber das machte nichts. Sie würde sie schon alle unterbringen können in ihrem neuen Zuhause. Schließlich war ihr Zimmer dort sogar größer als das hier. Im neuen Haus, in Bochum, bekam sie nämlich das größere Zimmer und Lukas nur ein kleines. Er würde es ja auch nicht oft brauchen. Schließlich würde er ja die meiste Zeit in Hamburg sein, denn er wollte hierbleiben, um weiterhin hier an der Uni zu studieren.

Sie würde ihn vermissen, ihren großen Bruder. Sie mochten sich zwar zoffen, von Zeit zu Zeit, aber meistens vertrugen sie sich doch einigermaßen. Und sie mußte zugeben, daß er immer für sie dagewesen war, wenn sie jemanden zum Reden gebraucht hatte oder wenn ihr irgendeiner an die Wäsche gewollt hatte. Da hatte er sie immer beschützt. Jetzt würde sie allein zusehen müssen, wie sie zurechtkam.

„Schade, daß Du nicht mitkommst“, sagte sie deshalb.

Er legte ihr freundschaftlich den Arm um die Schultern. „Ach, Tabbi, nimm’s nicht so schwer. Ich bin ja nicht aus der Welt. Ab und zu komm ich Euch besuchen, und sonst kannst Du mich ja auch anders erreichen. Es gibt Telephon und Internet und was weiß ich alles. Wenn Du also mal Kummer hast, brauchst Du Dich nur zu melden.“

„Aber das ist nicht dasselbe“, maulte sie. „Keiner ist dann da, der mich in den Arm nimmt. So wie jetzt.“

Er lachte. „Dann mußt Du Dir eben einen Freund suchen. Der dann vielleicht noch ganz andere Sachen mit Dir macht, als Dich nur in den Arm zu nehmen. So einen mit ‘nem dicken Mercedes vielleicht, so wie der, der Dich heute nach Hause gebracht hat.“

„Adrian von Molzberg ist nicht mein Freund“, protestierte sie. „Der ist niemandes Freund, nur sein eigener. Und außerdem will ich auch gar nicht, daß einer irgendwelche Sachen mit mir macht. Was Du immer denkst, Du altes Ferkel.“

„So, was denk ich denn so Schlimmes, daß Du mich ein ‚altes Ferkel‘ nennst?“ fragte er scheinbar empört. „Oder bist Du hier vielleicht das alte Ferkel, weil Du mir schmutzige Gedanken unterstellst?“

„Ich unterstell Dir gar nichts“, wies sie ihn zurück. „Ich weiß eben nur, wie Jungs ticken.“

„O-oooh, Tabea Lennard, die große Jungsversteherin! Da muß ich mich ja glatt in acht nehmen, damit Du mich nicht ständig durchschaust, wie?“

Sie boxte ihn vor die Brust. „Du bist so ein Idiot.“

Das war zuviel. Er schnappte sie, warf sie sich über die Schulter und versohlte ihr den jeansbewehrten Hintern. Sie schrie und strampelte und boxte ihn auf den Rücken, aber es half ihr nichts. Lukas machte Krafttraining und war so viel kräftiger als sie. Wehrlos mußte sie seine Prügel einstecken, bevor er sie wieder auf dem Boden absetzte. Sanft und vorsichtig. Und verprügelt hatte er sie auch nicht richtig. Es waren vielmehr ein paar kräftige Klapse gewesen, die er ihr verabreicht hatte. Die nicht einmal wehgetan hatten.

Aber das tat nichts zur Sache. Prügel sind Prügel, und sowas macht man nicht. Nicht bei einem Mädchen, selbst wenn es die Schwester ist. Also versuchte sie sich zu revanchieren, indem sie ihn vor die Brust boxte. Doch das klappte nicht. Noch bevor sie den ersten Treffer landen konnte, hatte er schon ihre Hände geschnappt und sie an sich gezogen. Jetzt hielt er sie fest umklammert, und sie konnte sich wieder nicht wehren.

Große Brüder waren etwas Fürchterliches. Das sah sie nun ein und gab auf. Wieder mal, wie schon so oft zuvor. Als Lukas es merkte, lockerte er seinen Griff und fing an, sie zu knuddeln.

„Irgendwie bist Du ja doch ‘ne Süße“, meinte er. „Selbst wenn Du versuchst, kratzbürstig zu sein.“

Sie kicherte und schmiegte sich in seine Arme. „Was bleibt mir auch übrig bei so ‘nem Grobian wie Dir?“

Lachend strich er ihr über den Kopf und gab sie dann frei. „Also, jetzt sieh mal zu, daß Du Deinen ganzen Krempel in den Umzugskartons unterkriegst. Ich geh derweil was lernen.“

„Wann willst Du eigentlich anfangen zu packen?“

Er winkte ab. „Ach, noch lange nicht. Das bißchen, was ich hierbehalten will, das hab ich auch am Tag vor dem Umzug noch schnell eingepackt. Und das andere können ja dann die Möbelpacker einpacken.“ Er zeigte auf die offenstehenden Kartons in ihrem Zimmer. „Das würden sie mit Deinen Sachen übrigens auch machen. Du selber bräuchtest Dir also die Arbeit gar nicht zu machen.“

„Aber ich will nicht, daß andere Leute in meinen Sachen rumwühlen. Die gehen keinen was an.“

„Sei nicht albern, Tabbi. Als ob die das interessiert, was Du für Sachen hast. Die machen sowas jeden Tag mit anderer Leute Zeugs. Die sind nur dran interessiert, alles so einzupacken, daß es auch heile ankommt. Was das ist, das ist denen schnurzegal.“

„Meinst Du?“ Tabea war nicht überzeugt.

Lukas nickte heftig. „Mein ich. Und deshalb solltest Du vielleicht besser das schöne Wetter nutzen und ins Freibad gehen, statt hier runzukramen. Wer weiß, ob Du das in Bochum auch kannst.“

„Kann ich. Da gibt’s ein Bad, das liegt ganz in der Nähe von unserm neuen Haus. ‚Ostbad‘ heißt das und das hat ‘n Freibad und auch ‘n Hallenbad.“

„So? Na schön. Aber das ist in Bochum. Und jetzt bist Du in Hamburg, und es ist schönes Wetter, und hier ist das Schwimmbad auch nicht weit weg. Also schnapp Dir Deine Badesachen und zisch ab.“

Tabea knurrte. Manchmal führte ihr großer Bruder sich auf, als wäre er ihr Erziehungsberechtigter. Aber eigentlich hatte er ja recht. Ins Freibad zu gehen war tatsächlich die bessere Alternative. Jetzt müßte nur noch jemand mitkommen. Julia, ihre beste Freundin, konnte nicht. Die war krank und lag mit einer ziemlich üblen Sommergrippe im Bett. Und mit den anderen aus ihrer Klasse konnte sie nicht besonders viel anfangen.

Also sagte sie: „Alleine? Dazu hab ich keine Lust. Julia kann doch nicht. Die ist doch krank, wie Du weißt.“

„Dann geh doch mit ihrem Bruder“, schlug er vor.

„Ja genau, der hätte mir gerade noch gefehlt“, erwiderte sie. „Der nervt doch nur mit seiner ständigen Anbaggerei.“ Sie setzte ihren Kleinmädchen-Dackelblick auf. „Willst Du nicht mitkommen?“

Er lachte. „Wie uncool ist das denn? Mit dem eigenen Bruder ins Schwimmbad gehen? Ich glaub das ja nicht.“

„Warum denn nicht? Du hast doch auch keine richtige Lust, bei dem schönen Wetter hier drin zu sitzen und zu pauken, gib’s doch zu. Und weil Du Deine kleine Schwester nicht allein ins Schwimmbad gehen lassen kannst, kommst Du eben mit. Oder?“

Lukas kratzte sich am Kopf. „Also, wenn Du’s so siehst...“

Er sah sie an, und als sie sah, wie er sie ansah, wußte sie, daß sie gewonnen hatte.

„Na siehste“, sagte sie deshalb.

„Biest!“ schimpfte er und drehte sich um.

Sie kicherte nur.

***

Adrian und Bellinda hatten einige Runden im großzügigen Swimmingpool der Clubanlage des ‚Clubs an der Alster‘ geschwommen und sich danach in die Sonne gelegt. Nicht ohne sich zuvor einen Drink von der Bar geholt und sich dick mit Sonnenschutzcreme eingerieben zu haben. Jetzt genossen sie entspannt den herrlichen Sommernachmittag.

Bellina hatte ihr Bikinioberteil abgelegt. An diesem gewöhnlichen Werktag waren nicht allzuviele Clubmitglieder anwesend, so daß sie das tun konnte, ohne mit zu vielen Beschwerden rechnen zu müssen, wenn es denn überhaupt welche gab. Sie glaubte es kaum, zumindest nicht von den Männern. Die musterten nämlich mehr oder weniger interessiert statt empört ihre freigelegte Oberweite, wie sie festgestellt hatte. Sollten sie. Es machte ihr nichts aus, und sie hatte ja auch nichts zu verstecken.

Adrian war der gleichen Meinung. Natürlich war er das, hatte er doch die Gelegenheit gehabt, ihre normalerweise züchtig verhüllten Körperzonen in die Sonnenschutzbehandlung mit einzubeziehen, die er seiner Freundin angedeihen ließ. Natürlich wußte er mehr als genau, wie sich Bellindas üppige Brüste anfühlten, aber wenn sich die Situation zufällig und auch außerhalb des Gewohnten schonmal ergab, wollte er sie nicht ungenutzt vorübergehen lassen.

Leider konnte Bellinda sich nicht auf gleiche Weise revanchieren, das wäre dann doch des Guten, oder vielmehr: des Sinnlichen, zuviel gewesen. Also war er gezwungen, sich zunächst einmal bäuchlings auf der Liege auszustrecken, bis gewisse, nervös gewordene Körperteile wieder unter Kontrolle gebracht waren. Seltsamerweise passierte ihm das immer noch, obwohl er Bellinda doch nun schon so lange und so gründlich kannte. Aber er war eben erst siebzehn und somit noch nicht in der Lage, seine Körperfunktionen etwas besser kontrollieren zu können.

„Kommst Du heut Abend wieder mit zu mir?“ fragte Bellinda in seine Normalisierungsbemühungen hinein.

„Nee, kann leider nicht“, antwortete er mit Bedauern in der Stimme.

„Heute muß ich zum Abendessen zu Hause sein. Mein Alter Herr hat sein Erscheinen angekündigt, und da muß ich Präsenz zeigen.“

„Schade. Ich dachte, sowas wie gestern ließe sich wiederholen.“

Er lachte. „Prinzipiell ja, nur leider nicht heute.“

Bellinda seufzte. „Muß ich mir eben was anderes einfallen lassen.“

„Und das wäre?“ erkundigte er sich.

Sie zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Aber mir fällt bestimmt was ein. Wird wahrscheinlich nicht so unterhaltsam wie mit Dir, aber irgendwas wird’s schon geben.“

„Was machst Du eigentlich in den Ferien“, wechselte er das Thema.

„Weiß ich auch noch nicht“, antwortete sie. „Daddy will unbedingt wieder nach Kärnten, in diesen Luxusschuppen am Wörthersee. Aber darauf hab ich sowas von überhaupt keine Lust, also das werd ich auf keinen Fall machen. Was anderes hab ich mir allerdings noch nicht überlegt. Vielleicht flieg ich für’n paar Wochen nach Nizza. Cap Ferrat oder so, das wär’s vielleicht. Aber weiß ich noch nicht.“ Sie drehte sich zu ihm um. „Und Du?“

Adrian blies die Backen auf. „Wenn ich das mal wüßte. Mein Vater hat sich natürlich dazu noch nicht geäußert. Du weißt ja, wie das geht. Irgendwann kommt er nach Hause, und dann heißt es: ‚Packt Eure Koffer, wir fliegen da-und-da hin‘. Und am nächsten Tag sind wir weg. Wohin auch immer und für wie lange auch immer. Hängt ganz von seinem Terminkalender ab. Also kann ich noch nichts sagen. Ich werd mich wohl überraschen lassen müssen. So wie jedes Jahr.“

„Geht Dir das nicht auf den Keks, immer mit Deinen Eltern Urlaub machen zu müssen?“

„Natürlich, aber was soll ich machen? Allein lassen sie mich ja nicht.“

„Und wenn sie Dich ließen, wo würd’st Du dann hin wollen?“

Adrian überlegte einen Moment. „Nach Asien vielleicht. So ‘ne Trekkingtour durch Thailand oder Vietnam, das wär’s doch mal. Das könnt ich mir vorstellen.“

Bellinda lachte laut auf. „Du und ‘ne Trekkingtour. Das glaubst Du doch wohl selber nicht! Adrian von Molzberg schleppt einen Rucksack durch die Gegend, kriecht durch die Urwälder über Stock und Stein, läuft tagelang ungewaschen und unrasiert in denselben Klamotten rum und geht zum Kacken ins Gebüsch. Das möchte ich ja zu gern mal sehen!“

„Was? Daß ich ins Gebüsch kacke?“ fragte er pikiert.

„Das auch. Aber auch all das andere. Die Idee ist ja vielleicht sowas von abartig.“

„Wieso denn?“ verteidigte er sich. „Meinst Du etwa, sowas könnte ich nicht? Hältst Du mich für so’n Weichei?“

„Ach was, mit Weichei hat das doch nichts zu tun. Du weißt doch selber ganz genau, daß Du gar nicht der Typ für sowas bist. Oder könntest Du Dir vielleicht vorstellen, daß Du in einer Gruppe funktionierst, in der jemand sagt, was alle zu tun oder zu lassen haben? Und derjenige würdest dann nicht Du sein. Das funktioniert doch im Leben nicht. Oder wann hast Du Dir zum letzten Mal von irgendjemandem außer Deinem Vater was vorschreiben lassen? Kannst Du mir das mal sagen?“

Adrian gab ihr keine Antwort. Also fuhr sie fort:

„Na siehste. Also, das vergiß mal ganz schnell wieder. Wenn überhaupt, dann such Dir irgendeinen Luxusschuppen mit allem Komfort, wo sie Dir von früh bis abends den Allerwertesten hinterhertragen. Was anderes kommt doch für Dich gar nicht in Frage. Südfrankreich vielleicht. Warum fahren wir nicht einfach zusammen hin?“

Adrian drehte sich wieder auf den Bauch und schloß die Augen.

„Ich werd’s mir überlegen“, antwortete er.

Er war angefressen. Bellindas Reaktion auf seine Idee hatte ihn getroffen. Aber sie hatte ja Recht. Der Kerl für eine Trakkingtour oder irgendetwas in der Art war er wirklich nicht. Das wußte er auch. Er war das verwöhnte und verweichlichte Bankierssöhnchen, das sich nirgendwo ein- und unterordnen konnte und das es gewohnt war, ständig irgendwelche Bedienstete um sich zu haben, die sich um die niederen Belange des täglichen Lebens kümmerten. Eben doch ein Weichei.

***

Es war sicher nicht das nächste, aber es war ihrer Meinung nach das schönste Freibad in Hamburg. Tabea und Lukas fuhren mit der U-Bahn bis zum Borgweg und gingen den Rest zu Fuß bis zum ‚Freibad Stadtparksee‘. Nachdem sie sich umgezogen hatten, suchten sie sich ein freies Plätzchen und breiteten ihre Decke aus. Bevor sie sich allerdings zum Sonnen darauf ausstreckten, liefen sie ins Wasser und tobten eine Weile in dem angenehm kühlen See herum.

Lukas ersparte sich das Abtrocknen. Die Sonne würde das schon übernehmen. Stattdessen sah er seiner Schwester dabei zu. Überrascht stellte er fest, was für ein hübsches Mädchen sie doch war. Das war ihm bis jetzt gar nicht so richtig0 bewußt gewesen. Kein Wunder, er hatte ja auch sonst keine Gelegenheit, sie so leicht bekleidet zu sehen wie jetzt, im Schwimmbad. Zu Hause achtete Tabea nämlich sorgfältig darauf, immer angemessen bekleidet zu sein, wenn die Möglichkeit bestand, daß ihr jemand auf dem Flur begegnete. Daß sie im Nachthemd ins Badezimmer lief, war schon das Äußerste an Freizügigkeit, das sie sich gestattete. Und jetzt trug sie einen Bikini, der so knapp geschnitten war, daß er gerade mal das Allernötigste bedeckte. Er fragte sich, was sie wohl geritten hatte, daß sie solch ein gewagtes Teil überhaupt gekauft hatte, in dem sie so viel von sich zeigte.

Sie war so wohlproportioniert, wie man das von einer Sechzehnjährigen erwarten konnte. Groß, schlanker Körper, lange Beine, flacher Bauch, nicht zu große Brüste, freundliches Gesicht mit schön geschwungenen Lippen, einer niedlichen Stupsnase und großen, braunen, fast schwarzen Rehaugen. Dazu passend, lange, schwarze Haare, die ihr bis auf den Rücken fielen, wenn sie sie offen trug, so wie jetzt. Manchmal flocht sie sie aber auch zu Zöpfen, was sie aussehen ließ wie ein kleines Mädchen, und was er ganz besonders an ihr mochte oder sie band sie zu einem Pferdeschawanz, was ihm nicht so sehr an ihr gefiel. Aber das sagte er ihr nicht. Erstens ging es ihn nichts an, und zweitens wollte er sie mit solch einer Bemerkung nicht kränken.

Tabea bemerkte seinen Blick. „Was guckst Du mich so an?“ fragte sie lachend. „Hab ich Pickel, oder was?“

„Nee, ganz bestimmt nicht“, lachte er zurück. „Ich frag mich nur, wieso ein Mädchen, das so hübsch ist wie Du, noch immer keinen Freund hat.“

„Falsche Frage“, gab sie zurück. „Frag Dich lieber mal, wieso ‘n Kerl wie Du, der sich ja auch nicht gerade verstecken muß, noch immer keine Freundin hat.“

„Tja“, machte er, „sieht wohl so aus, als müßten wir uns beide mit derselben Frage beschäftigen.“

Sie faltete das Badetuch zusammen, legte es als Kopfkissen auf die Decke und streckte sich dann neben ihrem Bruder aus.

„Was heißt müssen?“ sagte sie dann „Treibt Dich die Frage so sehr um, daß Du Dich unbedingt damit beschäftigen mußt? Also, mich nicht. Im Moment jedenfalls nicht. Im Moment hab ich keinen, und ich seh auch nirgendwo einen, der’s vielleicht sein könnte.“

„Und was ist mit diesem Adrian? Ich mein, ich weiß ja nicht, wie der aussieht und so, aber wenn er Dich schon nach Hause chauffieren läßt.“

Tabea stöhnte. „Fängst Du schon wieder mit dem an? Ich hab Dir doch schonmal gesagt, das heut Mittag war ein reiner Zufall, nicht beabsichtigt und hat überhaupt nichts zu bedeuten. Zugegeben, er sieht echt aus wie der Traum von einem Jungen, aber er ist eben ein Arsch. Und von so einem hält man sich besser fern. Außerdem hat er schon ‘ne Freundin. Auch so ‘ne Luxustusse aus Harvestehude. Ist um einiges älter als er, aber fährt mit ‘nem weißen Porsche-Cabrio durch die Gegend. Und ein paar Dinger hat die, da kann ich mit meinen Mickermöpsen nicht mithalten. Also, selbst wenn ich mich für den interessieren würde, dann der sich bestimmt nicht für mich.“

Sie drehte sich um und klopfte ihrem Bruder auf den Arm. „Aber trotzdem danke, daß Du gesagt hast, ich wär hübsch. Das stimmt zwar nicht, aber man hört’s trotzdem gern.“

„Es stimmt wohl“, widersprach er. „Ich sag Dir das, und ich bin Dein Bruder. Vergiß das nicht. Ich brauch Dir keine Komplimente zu machen.“

„Na gut“, lenkte sie ein. „Aber jetzt mal zu Dir. Warum hast Du eigentlich keine Freundin? Will Dich keine, oder bist Du etwa schwul?“

Er lachte. „Nee, schwul bin ich nicht, und ob mich keine will, hab ich auch noch nicht rausgekriegt. Bis jetzt ist mir einfach noch keine über den Weg gelaufen, die mich ernsthaft interessiert hätte.“

„Wohl etwas wählerisch, der Herr?“ fragte sie spitz. „Wie müßte sie denn ausseh’n, Deine Traumfrau?“

„So wie Du“, entfuhr es ihm spontan und ehe er es verhindern konnte. Als er merkte, was er da gesagt hatte, schlug er verlegen die Hand vor den Mund.

Tabea lachte laut. „Na, wenn das kein Kompliment ist“, sagte sie. „Vor einer Minute hast Du noch behauptet, Du bräuchtest mir keine Komplimente zu machen, und jetzt sagst Du sowas.“

„Brauch ich ja auch nicht. Das ist mir jetzt nur so rausgerutscht.“

Sie griff nach seiner Hand. „Macht ja nix. Mir hat’s jedenfalls gefallen. Selbst wenn’s nicht stimmt.“

Er drehte den Kopf zur Seite und sah sie an. „Es stimmt aber.“

Sie rückte näher an ihn heran, bis ihre Arme sich berührten. „Manchmal kannst Du richtig lieb sein, Lukas. Weißt Du das?"

***

Während Tabea und ihr Bruder Lukas so vertraut nebeneinander auf der Liegewiese des Stadtparksees lagen, kam es zwischen Adrian und seiner Freundin Bellinda zu keinen weiteren, intensiven Körperkontakten. Abgesehen von den nahezu unvermeidlichen bei dem gemeinsamen Herumtollen im Wasser oder beim gegenseitigen Einreiben mit der Sonnenschutzcreme. Als der Nachmittag zu Ende ging, packten sie ihre Sachen, zogen sich um und fuhren nach Hause, damit Adrian rechtzeitig zum Abendessen zur Stelle war.

Tatsächlich war sein Vater bereits eingetroffen, als er heimkam.

„Beeil Dich mit dem Umziehen, Adrian“, sagte seine Mutter. „Dein Vater wartet schon auf das Abendessen.“

Also sah er zu, daß er fertig wurde. Zum Glück hatte ihm das Dienstmädchen die Sachen schon bereitgelegt, so daß er sie nicht erst lange zusammensuchen mußte. Schnell zog er sich aus, duschte sich kurz ab und machte sich dann für den Abend fertig. Sein Vater erwartete, daß er mit Anzug und Krawatte erschien, so war es üblich im Hause von Molzberg, wenn man sich zu einer gemeinsamen Mahlzeit traf. Und es war besser, sich an diese Vorgaben zu halten, wollte man sich nicht den Unmut des Hausherrn zuziehen.

Das wollte Adrian nun auf keinen Fall. Sein Vater war der einzige Mensch, der ihm wirklich Respekt einflößte. So begrüßte er ihn dann auch, als er als Letzter das Eßzimmer betrat, wo seine Eltern bereits Platz genommen hatten. Allerdings saßen sie noch an dem kleinen, runden Tischchen in der Ecke des Zimmers, an dem sie ihre Aperitivs zu nehmen pflegten. Er war also noch nicht zu spät.

Entsprechend freundlich grüßte sein Vater zurück. „Ah, Adrian, mein Sohn, da bist Du ja. Setz Dich zu uns. Möchtest Du auch etwas zu trinken?“

„Einen Organensaft vielleicht, ich hab ziemlichen Durst“, antwortete Adrian.

Weit davon entfernt, seinem Sohn diesen Orangensaft selbst zu besorgen, klingelte Oswald von Molzberg nach dem Dienstmädchen, das gleich darauf erschien und mit einem knappen: „Einen Orangensaft für meinen Sohn“ abgefertigt wurde. Das der Höflichkeit gebotene „Bitte“ sparte sich der Graf bereits.

Es folgte das übliche Frage- und Antwortspiel, das sich immer entwickelte, wenn Vater und Sohn aufeinandertrafen. Der Vater fragte, und der Sohn hatte zu antworten. So war es auch an diesem Tag. Mit einer Abweichung. Als sie sich zum Essen begaben, wagte es auch Adrian, seinem Vater eine Frage zu stellen.

„Wohin fahren wir eigentlich dieses Jahr in Urlaub? In etwas mehr als zwei Wochen gibt’s Ferien, und Du hast noch nichts gesagt.“

„Die Ferien, mein Sohn, wirst Du diesmal mit mir verbringen“, antwortete der Graf. „Ich habe mir überlegt, Du bist jetzt langsam alt genug, um damit zu beginnen, Dich mit den Vorgängen in der Bank vertraut zu machen. Also wirst Du mich während der Ferien begleiten und wirst Dich über meine Arbeit informieren. Als stiller Zuhörer. Dabei und im Anschluß daran, wirst Du in einem Bericht zusammenfassen, was Du gelernt hast. Diesen Bericht wirst Du mir zur Beurteilung vorlegen. Möglicherweise werden wir gegen Ende der Schulferien noch ein paar Tage Urlaub einlegen, aber das weiß ich noch nicht. Wenn es sich eben so ergibt und dann auch nicht länger als höchstens eine Woche.“

Na bravo, soviel also zu seinen Plänen, mit Linda nach Südfrankreich zu fahren. Stattdessen wochenlang mit dem Vater zusammensein. Etwas Schlimmeres hätte ihm kaum passieren können. Und er wußte genau, es würde keine Chance geben, seinem Vater diese Idee auszureden. Von Seiten seiner Mutter war keine Unterstützung zu erwarten. Wie er mit einem flüchtigen Seitenblick feststellte, hatte sie es wohl schon erfolglos versucht. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als sich widerspruchslos zu fügen. Was er schließlich auch tat, denn sein Vater hatte das Personal bereits angewiesen, den ersten Gang zu servieren. Und da beim Essen jegliche Unterhaltung ausgeschlossen war, gab es zum Protestieren auch keine Gelegenheit mehr.

Adrian nutzte die Zeit, die das mehrgängige Menue in Anspruch nahm, um sich mit dem Plan seines Vaters abzufinden. Es gelang ihm einigermaßen. So schnell er konnte, verabschiedete er sich nach dem Essen und stieg hinauf in sein Appartment.

Er konnte nicht einschätzen, wie er sich fühlte. Wut, Enttäuschung, Ohnmacht, Niedergeschlagenheit, was war es, das er empfand? Er wußte es nicht. Noch viel weniger wußte er, wann und ob jemals der Albtraum namens Oswald Graf von Molzberg je zu Ende gehen würde. Er wußte nur eins: Er war darin gefangen und war gezwungen, darin mitzuspielen. Es gab keinen Ausweg. Jetzt nicht, während der Ferien nicht und in der Zukunft ebenfalls nicht.

Wenn er gewußt hätte, wie so etwas funktioniert, hätte er angefangen zu heulen. Aber er wußte es nicht. Nicht einmal das wußte er. Also saß er nur stumm vor seinem Schreibtisch und starrte aus dem Fenster in die Nacht, die jetzt langsam heraufzog.

***

Von der negativen Stimmung, die sich bei Adrian von Molzberg im Laufe des Abends entwickelte, waren Tabea und ihr Bruder Lukas Lichtjahre entfernt, als sie sich nach einem wunderschönen Nachmittag, den sie zusammen im Stadtparkbad verbracht hatten, endlich entschlossen, nach Hause zu fahren. Sie wußten zwar, daß es dort ein Donnerwetter geben würde, weil sie nicht rechtzeitig zum Abendessen aufgekreuzt waren, aber das würde halb so schlimm werden. Und außerdem waren sie ja auch zu zweit. Da würde es sich leichter ertragen lassen.

Ziemlich vergnügt standen sie also vor einer Fußgängerampel an der Binnenalster und warteten darauf, daß es Grün wurde. Als es endlich soweit war und sie gerade loslaufen wollten, bemerkten sie, gerade noch rechtzeitig, das heranrasende Porsche-Cabrio, das ihnen, mit Sicherheit schon bei Rot, fast über die Füße gerauscht wäre. Zumindest Tabea, wenn ihr Bruder, der von ihnen offenbar der Reaktionsschnellere war, sie nicht im letzten Moment noch zurückgerissen hätte.

„Der Typ hat doch wohl auch nicht mehr alle Tassen im Schrank“, schimpfte er, nachdem sie beide den ersten Schreck überwunden und einmal tief durchgeatmet hatten.

„Tussi“, sagte Tabea, die dem Porsche nachgesehen und bemerkt hatte, daß er um einen Augenblick früher als ein anderer Wagen, der wohl schon länger gewartet hatte, in eine eben freiwerdende Parklücke hineinfuhr. „Das war ‘ne Tussi“, wiederholte Tabea. „Guck mal, da steigt sie eben aus. Und weißt Du auch, warum sie’s so eilig hatte? Weil sie dem Typ in dem anderen Auto, der da jetzt schimpft wie so’n Rohrspatz, die Parklücke klauen wollte. Hat ja wohl auch geklappt.“

Auch Lukas sah jetzt zu der Stelle hinüber, an der der weiße Porsche parkte, aus dem ein Mann und eine Frau ausstiegen, die sich königlich über ihren gelungenen Coup zu amüsieren schienen. Die Frau zeigte dem anderen Autofahrer sogar den Mittelfinger und bog sich dabei vor Lachen.

Plötzlich hielt Tabea ihren Bruder am Arm fest. „Weißt Du, wer das ist?“ fragte sie aufgeregt.

„Nee, woher soll ich das wissen?“ antwortete Lukas. „Ich kenn keine Bräute, die versuchen, in weißen Porsche Cabrios harmlose Fußgänger über den Haufen zu fahren. Kennst Du die etwa?“

„Naja, kennen ist zuviel gesagt. Ich weiß, wer sie ist. Das ist die Freundin von Adrian, unserm Klassenarschloch.“

„Etwa von dem Adrian?“

„Ja klar, Adrian von Molzberg. Der Typ, der mich heut Mittag nach Hause gebracht hat. ‘N anderen Adrian gibts doch bei uns in der Klasse gar nicht.“

Dann sahen die Geschwister, wie sich die beiden Porsche-Insassen mitten auf der Straße und ohne weiter auf den immer noch schimpfenden Autofahrer zu achten, innig umarmten und nach allen Regeln der Kunst abzuknutschen und zu -küssen begannen.

„Das glaub ich ja jetzt nicht“, meinte Tabea, einigermaßen fassungslos. „Unser Graf scheint wohl offensichtlich nicht der Einzige zu sein, mit dem die Porsche-Tussi sich vergnügt. Ob der da wohl ‘ne Ahnung von hat?“

Lukas lachte. „Wenn nicht, kannst Du’s ihm morgen ja vorsichtshalber mal unter die Weste jubeln.“

„Ich werd mich schwer hüten“, gab Tabea energisch zurück. „Was geht mich dieser Arschloch-Graf und seine bescheuerte Tussi an? Wenn die ihm fremdgeht, dann soll er das mal schön selbst rausfinden. Von mir erfährt er’s jedenfalls nicht.“ Sie griff nach der Hand ihres Bruders. „Und jetzt komm. Laß uns mal zuseh’n, daß wir nach Hause kommen. Da kriegen wir sowieso was zu hören, weil wir so spät sind.“

Immer noch lachend, ließ Lukas sich von ihr mitziehen.

Salto Fanale

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