Читать книгу Maritime Erzählungen - Wahrheit und Dichtung (Band 3) - Detlev Sakautzky - Страница 8
FÜR IMMER SEEUNTAUGLICH
ОглавлениеDer Logger „Anthonia“ befand sich im Fischereihafen. Der Kapitän hatte den Zeitpunkt zum Auslaufen des Schiffes noch nicht bestimmt. Es waren noch wichtige Reparaturarbeiten an der Kurrleinenwinde durchzuführen. Die Decksleute räumten das Deck auf – verstauten Drahtrollen und Netzteile sowie den restlichen Proviant in den vorgesehen Lasten. Einige der Decksleute spleißten Zubehörteile für das Fanggeschirr. Für die kommende Reise fehlten noch Haedleinen, Laschen und Rollenstander.
Roland Dorr, der Zweite Steuermann, nutzte die Zeit mit Torsten, dem Auszubildenden, die Anfertigung eines Augspleißes zu üben. Er übergab Torsten die Rollengeschirrzeichnung sowie die zum Spleißen erforderlichen Werkzeuge. Eine Rolle mit Drahttauwerk hatten die Decksleute schon vormittags aus der Netzlast geholt. Torsten markierte die in der Zeichnung festgelegten Abmessungen durch Taklinge und trennte die markierten Drahtabschnitte mit dem Kappbeil. Bei den Vorbereitungsarbeiten wurde er durch Hartmut, einen Decksmann, unterstützt.
*
„Tosten, welche Unfallverhütungsvorschriften sind beim Spleißen von Drahttauwerk zu beachten?“, fragte der Zweite Steuermann.
„Es sind ein Helm, eine Schutzbrille, Lederhandschuhe und festes Schuhwerk zu tragen“, antwortete Torsten.
„Welche Fertigungshinweise sind bei der Fertigung des Augspleißes aus Drahttauwerk zu berücksichtigen?“, fragte der Steuermann weiter.
„Der Hilfstakling ist sechs Törns vom Ende zu setzen. Jede Litze ist mit einem Takling zu versehen. Die freiliegende Fasereinlage ist im Keilschnitt herauszuschneiden. Die Größe des zu spleißenden Auges ist festzulegen und im Schraubstock zu sichern“, antwortete Torsten.
„Da fehlt noch etwas“, erinnerte der Zweite Steuermann den Auszubildenden.
Fertigung des Spleißes.
„Die Litzen sind bis zum Hilfstakling aufzudrehen. Es sind lange Schläge ohne Kinken zu stecken“, ergänzte Torsten zurückhaltend seine Antwort.
„Das ist richtig. Der Augspleiß muss nicht nur bei Belastungen halten, sondern auch gut aussehen“, lobte der Zweite den Auszubildenden.
„Beachte! Entsprechend der Reihenfolge sind drei nebeneinanderliegende Kardeele auf jede Seite zu legen“, fuhr er fort.
Beide gingen mit dem vorbereiteten Auge zum fest angebrachten Schraubstock vor dem vorderen Mast. Torsten legte das geformte Auge in die Backen des Schraubstockes und verschraubte diesen fest. Torsten benutzte, wie angewiesen, die vorgeschriebenen Unfallverhütungsmittel.
„Vergiss nicht, die erste Litze ist unter drei feste Litzen mit dem Schlag zu stecken. Beim Anheben der Litzen mit dem Marlspieker darf die Fasereinlage nicht beschädigt werden“, mahnte der Zweite Steuermann.
Torsten führte den Marlspieker unter die ersten festen drei Litzen und steckte die erste zu spleißende Litze hindurch.
„Die Litze ist mit dem Marlspieker am Austritt dichter zu holen“, forderte der Zweite von Torsten.
Dieser kam der Weisung nach und holte die gesteckte Litze dicht. Dabei traf er den Zweiten Steuermann mit dem betakelten Ende der Litze im Gesicht und verletzte das rechte Auge. Der Zweite konnte auf dem verletzten Auge nichts mehr sehen und hatte fürchterliche Schmerzen. Torsten rief laut um Hilfe. Der an Deck stehende Erste Steuermann sah den Unfall. Er informierte sofort telefonisch den medizinischen Rettungsdienst. Der Erste Steuermann holte aus der Bordapotheke Verbandsmaterial. Zwei Decksleute brachten eilig die Krankentrage. Der Zweite legte sich mit Hilfe des Ersten Steuermanns auf die Trage. Der Erste bedeckte das verletzte Auge mit einem sterilen Verband und sicherte den Körper durch die Haltebänder für den Transport.
Der Rettungswagen kam und hielt vor dem Landgang des Loggers. Vier Decksleute trugen den Zweiten über den steilen Landgang auf die Pier zum Rettungswagen. Ein Arzt und ein Rettungssanitäter halfen bei der Aufnahme des Patienten. Der Erste informierte den Arzt über die Ursache und Art der Verletzung. Schnell wurde der Zweite in die städtische Augenklinik gefahren.
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Da es sich um einen schweren Arbeitsunfall handelte, benachrichtigte Kapitän Sommer die Arbeitsschutzbehörde und die Kriminalpolizei, die sich bald darauf beim ihm an Bord meldeten und die Unfallursache gemeinsam untersuchten.
Torsten wurde befragt. Niedergeschlagen berichtete er über den Unfallhergang und die dem Zweiten zugefügte Verletzung.
„Es geschah ungewollt. Der Zweite Steuermann forderte mich auf, die Litze dichter an das geformte Auge zu ziehen. Er bückte sich in dem Moment über das eingespannte Drahtauge, als ich die Litze anzog. Das betakelte Ende der Litze traf den Zweiten Steuermann in der rechten Gesichtshälfte und in das rechte Auge“, berichtete Torsten merklich bedrückt und ängstlich den Behörden.
„Hatte der Zweite Steuermann eine Schutzbrille getragen?“, fragte der Arbeitsschutzinspektor.
„Zu Beginn ja. Nachdem das Drahtauge im Schraubstock eingespannt war, hat er die Brille abgenommen und zur Seite gelegt“, antwortete Torsten.
„Warum hat er das getan?“, fragte der Inspektor weiter. „Ich weiß es nicht. Der Zweite hat sich hierzu nicht geäußert.“
„Haben Sie eine Schutzbrille getragen?“, fragte der Mann von der Arbeitsschutzbehörde.
„Ja, ich habe eine Schutzbrille, einen Helm und Handschuhe getragen, wie es der Zweite angewiesen hatte“, antworte Torsten zurückhaltend.
Die Decksleute, die in der Nähe Netzreparaturarbeiten durchführten, bestätigten seine Aussage.
Die Behörden beauftragten den Kapitän, eine Unfallanzeige zu schreiben.
Der Unfall wurde durch den Kapitän der Reedereiverwaltung gemeldet. Am späten Abend lief der Logger wieder aus. Die Reederei hatte Peter Lohe, als Ersatz für den Zweiten Steuermann, geschickt.
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Der untersuchende Augenarzt und das behandelnde Ärzteteam stellten eine gravierende Verletzung des rechten Auges fest. Auf diesem konnte der Zweite Steuermann gar nichts mehr sehen. Er hatte sein Augenlicht verloren. Das Auge musste herausgenommen werden. Der Zweite Steuermann wurde in den folgenden Wochen weiter stationär medizinisch behandelt.
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Der Arbeitsschutzinspektor besuchte den Zweiten Steuermann in der Augenklinik. Hier befragte er ihn auch nach dem Unfallhergang und der Ursache der bösen Verletzung. Der Zweite bestätigte in seiner Aussage im Wesentlichen die Angaben des Auszubildenden.
„Warum haben Sie keine Schutzbrille getragen?“, wurde der Zweite zielgerichtet gefragt.
„Der Auszubildende war in der Lage, ohne mein Zutun den Spleiß zu fertigen. Deshalb habe ich die Schutzbrille abgelegt. Die Verletzung konnte geschehen, weil ich mich dem Drahtauge ungewollt mit dem Kopf näherte, um das Festziehen der ersten Litze zu beobachten. Torsten hatte die Litze sehr schnell und kräftig in die Keep gezogen, dabei sprang das betakelte Ende der Litze mir in das Gesicht“, erklärte der Zweite dem Inspektor.
„Hätten Sie eine Schutzbrille getragen, wäre es nicht zu diesem schweren Unfall gekommen. Sie haben die Gefährdungen beim Spleißen unterschätzt. Sollte der Versicherungsträger den Unfall wegen grober Fahrlässigkeit Ihrerseits nicht als Arbeitsunfall anerkennen, erhalten sie wahrscheinlich kein Verletztengeld und keine Verletztenrente“, informierte der Inspektor den Zweiten Steuermann.
Am Nachmittag wurde der Zweite Steuermann von seiner Frau und seinen beiden Kindern besucht. Die Anwesenheit der Familie am Krankenbett stimmte ihn hoffnungsvoller. Die Kinder trösteten ihren Vater und erzählten über ihre Erlebnisse in der Schule und im Sportverein.
„Meine Augenverletzung erlaubt keine Tätigkeit mehr als Steuermann, auch nicht als Decksmann. Ich muss mir eine Tätigkeit an Land suchen“, sagte Roland besorgt zu seiner Frau.
„Ich werde eine künstliche Augenprothese tragen müssen“.
„Gemeinsam werden wir es schon schaffen“, tröste Frau Dorr ihren Mann.
Beide wussten, dass der Unfall den Verlauf ihres weiteren gemeinsamen Lebens beeinflussen wird.
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Nach zwei Wochen wurde der Zweite Steuermann aus der Augenklinik entlassen. Er musste sich in den vom Arzt festgelegten Zeitabständen zur Kontrolle vorstellen. Der für die Prüfung der Seetauglichkeit verantwortliche Arzt teilte ihm amtlich den Verlust seiner Seetauglichkeit mit.
Roland Dorr meldete sich im Personalbüro der Reederei. Hier hatte man schon über die Möglichkeit einer anderen Tätigkeit beraten. Als er vorsprach, wurde ihm eine Tätigkeit als Berichtiger von Seekarten und Seehandbüchern sowie Leuchtfeuerverzeichnissen vorgeschlagen.
„In der Kartenberichtigungsstelle fehlt noch ein Mitarbeiter. Sie sind ausreichend qualifiziert und können unter Berücksichtigung ihrer Behinderung, nach einer noch festzulegenden Einarbeitungszeit, die anfallenden Aufgaben erfüllen“, sagte der Personalleiter.
Roland Dorr sprach in der Kartenberichtigungsstelle vor und ließ sich seine Aufgaben erklären.
„Die Tätigkeit sagt mir zu. Berichtigungen in der Seekarte und in den nautischen Handbüchern habe ich auch an Bord während meines Wachdienstes im Kartenraum vorgenommen. Wann kann ich mit der Tätigkeit beginnen?“, fragte Roland den Chef der Kartenberichtigungsstelle.
„Sie können am kommenden Montag beginnen“, antwortete er aufmunternd.
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Am Abend sprach Roland mit seiner Frau über seine persönlich getroffene Entscheidung.
„Für mich ist die Tätigkeit an Land eine große Umstellung in meinem bisherigen Arbeitsleben. Jeden Tag mit dem Personenzug zur Arbeit fahren. In einem Büro arbeiten. Seekarten und nautische Bücher von Bord holen, diese berichtigen, wieder an Bord bringen und an die ehemaligen Kollegen übergeben“, sagte Roland zu seiner Frau.
„Wir müssen uns alle umstellen. Dein Verdienst ist weitaus geringer. In absehbarer Zeit fehlen uns die finanziellen Mittel für die Sanierung unseres kleinen Hauses. Wir müssen sehr sparsam leben. Gemeinsam werden wir es aber schaffen“, sagt Frau Dorr zuversichtlich.
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Nach zwei Monaten erhielt Roland Dorr einen Bescheid vom Versicherungsträger. Man teilte ihm mit, dass der Unfall als Arbeitsunfall anerkannt wurde. Roland Dorr erhielt eine Verletztenrente und das Verletztengeld seit dem Eintritt des Arbeitsunfalls nachgezahlt. Der gezahlte Geldbetrag der privaten Unfallversicherung reichte aus, sein kleines Haus zu sanieren.